Verhalten in Grenzsituationen
In
seinem Jugendbuch „Dry“ kreiert Neal Shusterman ein sehr dramatisches
Katastrophen-Setting: Die Wasserversorgung in halb Kalifornien bricht von einem
Tag auf den anderen zusammen, die Menschen sind plötzlich ohne Trinkwasser, und
die Katastrophe nimmt ihren Verlauf. Mittendrin kämpfen die Jugendlichen
Alyssa, ihr Bruder Garrett, ihr Nachbar Kelton ums Überleben und treffen bei
ihrer Suche nach Wasser auf zwei weitere Jugendliche, die sich ihrer Gruppe
anschließen: Jacqui und später Henry. Die Figuren werden aus der
Ich-Perspektive beleuchtet, zwischen ihnen wird munter hin- und hergewechselt,
so dass die individuelle Gedankenwelt jedes Protagonisten gut zum Ausdruck
kommt. Dabei wird auch deutlich, dass im Rahmen dieser Zweckgemeinschaft jede
Figur eigene Motive und Ziele verfolgt, dass die Charaktere recht
unterschiedlich sind. Um eine noch größere Multiperspektivität zu erzeugen,
werden auch sogenannte Snapshot-Kapitel eingebaut, so dass man einen größeren
Überblick über die Notsituation gewinnt; so werden z.B. Medienberichte in die
Handlung integriert. Neben der gelungenen erzählerischen Gestaltung überzeugt
auch die Konzeption der Beziehungsverhältnisse zwischen den Figuren. Kelton,
der unter einer dominanten Vaterfigur leidet, ist z.B. in Alyssa verliebt und
tut zu Beginn des Buchs einiges aus Berechnung, um bei ihr zu landen. Im Lauf
des Buchs kommt es aber zu einer Annäherung zwischen beiden. Hinzu kommt die
Geschwisterbeziehung zwischen Alyssa und Garrett, bei der deutlich wird, dass
Alyssa sehr fürsorglich als große Schwester agiert. Mit Jacqui tritt eine
interessante, sehr misstrauische Außenseiterin der Gruppe bei, die für die
anderen nicht immer berechenbar wirkt. Sie leidet unter einer dissoziativen
Störung. Aber sie wird im weiteren Handlungsverlauf immer vertrauensseliger und
immer mehr von den anderen akzeptiert. Nicht zuletzt lernen wir noch den
berechnenden und eiskalt kalkulierenden Henry kennen, der in der Gruppe wie ein
Fremdkörper wirkt. Zwischen ihm und Kelton sowie Jacqui herrscht eine deutliche
Rivalität. Die Beschreibung von Massenpanik und von menschlichem Verhalten in
Krisen- und Grenzsituationen ist äußerst gelungen, es wird auch ein hohes Maß
an Spannung erzeugt. Bei der Schilderung der Umwelt stellen sich Assoziationen
zu „the walking dead“ ein. Zum Ende des Buchs, als die Gruppe endlich den
angestrebten Fluchtbunker erreicht, werden auch die Wechsel der Perspektive immer
dynamischer, so dass das Erzähltempo gut anzieht.
Allerdings gibt es auch Kritikpunkte. Zunächst einmal sind die Figuren, besonders Kelton und seine absonderliche, paranoide Familie sowie Jacqui und Henry, schon sehr überzeichnet, so dass sie keinen sehr realistischen Eindruck auf mich machen. Hinzu kommt, dass das ganze Szenario für mich unrealistisch daherkommt. Man muss schon bereit sein, sich darauf einzulassen, vor allem zu Beginn des Buchs: Welcher Politiker würde z.B. ad hoc aus einem Stausee-Hilfsprogramm aussteigen, ohne die Bevölkerung vorzuwarnen oder sie darauf vorzubereiten. Auch fand ich das Agieren der Politiker auf der Pressekonferenz sowie das Verhalten der Medien, als es um die Berichterstattung zu der Katastrophe ging, unrealistisch. Schade ist, dass der Autor die missglückte Krisenbewältigung kaum in seinem Buch thematisiert, da wurde in meinen Augen Potential verschenkt. Auch habe ich mich zwischenzeitlich beim Lesen gefragt, ob es denn in Kalifornien überhaupt keine Seen und Flüsse gibt, die man in dieser Notsituation hätte anzapfen können. Nicht zuletzt fand ich es nicht plausibel, dass Alyssa und Garrett, immerhin zwei Heranwachsende, von ihrem Onkel zu Beginn der Krise mitten in einer Situation von Massenandrang allein zum Wasserkauf in einen Supermarkt geschickt werden. Für den Einsatz im Unterricht halte ich dieses Jugendbuch für ungeeignet, da es einfach zu wenig thematische Anknüpfungspunkte bietet, es besitzt zu wenig gesellschaftspolitische Relevanz, auch die amerikanische Lebenswelt bleibt fremdartig.
Fazit:
Ein Jugendbuch, das zwar viel Spannung erzeugt und eine gute erzählerische Gestaltung sowie facettenreiche Beziehungsverhältnisse zwischen den Figuren aufweist, das aber in meinen Augen kein sehr realistisches Setting offenbart und zu monothematisch konzipiert worden ist.
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