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Dienstag, 30. Mai 2023

Lüscher, Jonas - Frühling der Barbaren


2 von 5 Sternen



Künstlerisch überformte Novelle


Möchte man ein Beispiel einer Novelle kennen lernen, in der die entsprechenden genrespezifischen Merkmale idealtypisch umgesetzt worden sind, so lese man das Werk „Frühling der Barbaren“ von Jonas Lüscher. Sogar das Dingsymbol in Gestalt eines Kamels findet man darin.

 

Ich muss allerdings zugeben, dass ich dieser Form von Literatur nicht viel abgewinnen konnte. Der Inhalt und die Sprache sind künstlerisch überformt und ich kann mich den vielen positiven, ja schon überschwänglichen Rezensionen aus dem Feuilleton überhaupt nicht anschließen. Für mich stand das Ereignis der Finanzkrise viel zu wenig im Zentrum der Handlung, und die an die Krise anschließenden Reaktionen der Protagonisten waren mir viel zu surreal. Dem Werk fehlt eine schlichte Eleganz. Auch mag ich „lebensechte“ Literatur. Aber das ist natürlich eine subjektive Sichtweise!

 

Ich möchte Literatur lesen, die mich berührt, die in mir etwas auslöst, die mich mitnimmt oder die mich wachrüttelt. All das fehlte mir in diesem schmalen Büchlein. Aus diesem Grund konnte ich mit der Novelle nichts anfangen.  Das einzige, was ich hier lobend erwähnen kann: Der Sprachduktus des Schweizer Fabrikerben Preising ist eigentümlich und mit Wiedererkennungswert gestaltet worden. Altertümliche Wörter und umständliche Partizipial-Konstruktionen finden sich darin.

 

Fazit

Ein Buch, das dazu taugt, die Merkmale einer Novelle zu veranschaulichen. Inhaltlich ist das Dargestellte aber nach meinem Empfinden viel zu weit weg von der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Mit diesem künstlerisch-durchgeformten Text konnte ich nichts anfangen. Ich mag Literatur, die etwas in mir auslöst, die mich bewegt und ergreift. Dieses Werk habe ich jedoch unbeteiligt und ohne größeres Interesse gelesen. Ich gebe 2 Sterne!

Montag, 29. Mai 2023

Meyerhoff, Joachim - Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war


3 von 5 Sternen


Kindheit in Hesterberg


In dem autofiktionalen Roman „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“ von Joachim Meyerhoff, in dem unklar bleibt was Dichtung und was Wahrheit ist, spielt ein Handlungsort eine zentrale Rolle, der inzwischen eine unrühmliche Bekanntheit erlangt hat: Die Einrichtung für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hesterberg. Und eines vorweg: Sprachlich hat mich das Werk durchaus überzeugt, es blitzt an vielen Stellen das kreative Spiel mit Bildlichkeit auf, inhaltlich konnte ich dem Buch allerdings nur wenig abgewinnen.

 

Der ehemalige Patient Günter Wulf hat über seine Zeit dort ein erschütterndes Dokument verfasst („Sechs Jahre in Haus F. Eingesperrt, geschlagen, ruhiggestellt. Meine Kindheit in der Psychiatrie“). Und Wulf beschreibt, wie mit dem Direktor Hermann Meyerhoff, der 1971 die Leitung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hesterberg übernommen hat, Verbesserungen eintraten. Als Direktor hat er die Klinik reformiert (Für Interessierte lohnt sich eine weitere Recherche im Internet). Und Joachim Meyerhoff setzt seinem Vater hier eine Art Denkmal. Zwischen den Zeilen wird sehr deutlich, wie sehr der Protagonist im Buch seinen Vater bewundert und zu ihm aufschaut. Hermann Meyerhoff erscheint als gebildeter, menschenscheuer Mann mit hohem Verantwortungsbewusstsein, der stets situationsangemessen reagiert.

 

Joachim Meyerhoff, Autor und Schauspieler, ist der Sohn von Hermann Meyerhoff und er beschreibt seine Kindheit in Hesterberg. Er wohnt mit seiner Familie mitten auf dem Gelände der Klinik und der Umgang mit psychisch und körperlich Beeinträchtigen ist für ihn etwas Alltägliches. Jeden Tag hat er mit den Patienten Kontakt. In einzelnen Episoden, die anekdotisch und ohne erkennbaren roten Faden präsentiert werden, schildert der junge Protagonist sein Familienleben. So leidet er z.B. unter seinen älteren Brüdern, die sich oft über ihn amüsieren. Die Feierlichkeiten zum 40. Geburtstag des Vaters werden ebenso beschrieben wie das Krippenspiel zu Weihnachten oder die Ausrichtung des Sommerfests in der Klinik.

 

Auffällig für mich: Die Patienten werden nach meinem Dafürhalten recht schonungslos und direkt mit ihren Skurrilitäten beschrieben. Viele von ihnen wirken nicht sehr sympathisch und machen keinen vertrauenserweckenden Eindruck. Der Erzählton ist oft schwarzhumorig. Damit hatte ich an manchen Stellen so meine Schwierigkeiten: So ist der Blick auf die Bewohner der Einrichtung nach meinem Eindruck nicht immer wertschätzend, stellenweise werden sie der Lächerlichkeit preisgegeben. Das hat mir überhaupt nicht zugesagt. Manches war mir auch zu albern und zu überzeichnet. Eine solche Darstellung sollte man mögen. Wenn man die dunkle Geschichte von Hesterberg kennt, so finde ich die literarische Aufbereitung irgendwie unpassend. Aber Humor ist ein schwieriges Thema, andere Leser:innen mögen das ganz anders empfinden als ich.

 

Erstaunlicherweise scheine ich mit dieser Einschätzung aber allein dazustehen. Liest man sich auf Perlentaucher.de die Zusammenfassung der Rezensionen aus dem Feuilleton durch, so wird dieser Aspekt von keinem Rezensenten bemängelt. Martin Halter aus der FAZ meint sogar, dass manche der Geschichten „zum Brüllen komisch“ seien (vgl. FAZ vom 16.08.2013). Das hat mich schon ein wenig gewundert. Aber nun gut. Geschmäcker sind nun einmal verschieden. Für mich war die Darstellung der Patienten oft geschmacklos.

 

Fazit: 

Der Roman setzt der Einrichtung in Hesterberg und ihrem Direktor Hermann Meyerhoff ein literarisches Denkmal. In sprachlicher Hinsicht ist das Buch durchaus gelungen und die Gestaltung kreativ. Joachim Meyerhoff kann schreiben und beherrscht das Spiel mit Bildlichkeit. In inhaltlicher Hinsicht konnte man das Buch nicht überzeugen. Ich fand den Erzählton an vielen Stellen unpassend, die anekdotische Darstellung ohne roten Faden hat mir auch nicht zugesagt. Die schwarzhumorige Darstellung der Patienten war stellenweise geschmacklos. Ich gebe 3 Sterne!

Mittwoch, 24. Mai 2023

Katzenbach, John - Die Komplizen


3 von 5 Sternen



Langatmig, vorhersehbar und stark dominante Täterperspektive


In einem geschützten virtuellen Raum im Darknet geben sich fünf Psychopathen ihren Gewalt- und Mordphantasien hin, bis sie eines Tages von einem unbekannten Nutzer dabei gestört und provoziert werden. Daraufhin fassen sie den Plan, den Störenfried ausfindig zu machen und ihn für seine Aktion auf die drastischste Weise zu bestrafen. Das ist die Ausgangsidee des Thrillers „Die Komplizen“ von John Katzenbach.

 

Über das anfängliche Logikloch, warum ein Störenfried überhaupt fünf Psychopathen bei ihrem Chat herausfordert und diese ihn aufgrund einer Kleinigkeit plötzlich aus dem Weg räumen wollen, muss man hinwegsehen. Auf mich hat schon diese Grundidee einen recht konstruierten Eindruck gemacht, aber nun gut.

 

Die fünf Psychopathen werden in abwechselnden Kapiteln beleuchtet. Ihr Plan, den sie entwickeln, um den Chatroom-Eindringling zur Rechenschaft zu ziehen, wird sehr ausführlich dargelegt. Es dauert sehr lang, bis der Thriller Fahrt aufnimmt. Für mich wäre hier reichlich Kürzungspotential vorhanden gewesen: Hätten nicht zwei Psychopathen gereicht? Muss der Plan im Detail immer wieder dargelegt werden, zumal sich Vieles immer wieder wiederholt? Statt 200 Seiten hätten 70 Seiten gereicht.

 

Die Täterperspektive dominiert die Handlung, auch das sollte man mögen. Ich schlüpfe nicht so gerne über viele, viele Seiten in die Innenwelt von Psychopathen und lese gerne abnorme Allmachts- und Gewaltphantasien. Mich hat es nicht so gereizt, fünf größenwahnsinnige Serienmörder, vereint in ihrer Kaltblütigkeit und Skrupellosigkeit, über so lange Zeit zu begleiten. Aber das ist natürlich sehr subjektiv. 

 

Das Tempo des Thrillers hat mir auch nicht zugesagt, es gab schon reichlich Längen zwischendurch. Der Schreibstil reißt nicht mit. Die Figuren haben auf mich keinen großen Reiz ausgeübt. Und noch dazu war Vieles auch vorhersehbar. Und ich habe für mich außerdem entdeckt, dass ich kein Freund von Schusswechselszenen bin. Eine interessante Wende ereignet sich erst nach ca. 200 Seiten. Da wird es zwischenzeitlich etwas lesbarer, aber dieses kurze „Zwischenhoch“ ist nicht von Dauer. Leider!

 

Fazit

Leider hat mich der Thriller nicht gepackt und überzeugt. Mir war die Täterperspektive zu dominant, die Ausgangsidee fand ich schon zu konstruiert. Und es gibt noch zahlreiche andere Schwächen. Ich denke der Thriller ist für solche Leser:innen geeignet, die gerne Actionfilme aus den 80ern mögen. Eine solche Assoziation hatte ich nämlich während der Lektüre. Für mich absoluter Durchschnitt. Daher 3 Sterne!

Dienstag, 23. Mai 2023

Florian Schwiecker und Michael Tsokos - Die 7. Zeugin


4 von 5 Sternen


Der Killer-Beamte


Ein Täter betritt eine Bäckerei, schießt wild um sich und verletzt dabei zwei Menschen schwer und einen Menschen tödlich. Doch was trieb ihn zu dieser Tat? Was war sein Motiv? Und wie geht es nun mit dem Mörder weiter? Der Straftäter schweigt und zusammen mit Rocco Eberhardt, dem Strafverteidiger, erschließt man sich als Leser peu a peu Hintergründe zu dieser Katastrophe. Darum geht es in dem Justiz-Krimi „Die siebte Zeugin“ von Florian Schwiecker und Michael Tsokos.

 

Der Roman startet also mit einer spannende Ausgangssituation, die bei mir direkt Interesse erzeugt hat. Und was noch sehr auffällt: Die Handlung wird mit kurzen, knackigen Kapiteln dynamisch und ereignisreich vorangetrieben. Wir bleiben als Leser:in meist nicht lange an der Perspektive einer Figur haften, sondern es kommt zu raschen Szenen- und Blickwinkelwechseln. Das erzeugt Abwechslung. Mir hat das sehr gut gefallen (man kann diese rasche Erzählweise in meinen Augen mit Thrillern von Arno Strobel vergleichen). Der Preis für diese Dynamik ist aber eine schwache Figurenzeichnung, mit Ausnahme von Rocco Eberhardt und dem Täter. Bei dem Täter ist es vor allem das familiäre Umfeld, das genauer in den Blick genommen wird, und bei Rocco sind es familiäre Konflikte, die ab und zu Erwähnung finden.

 

Ich hatte während der Lektüre keine Langeweile, der Spannungsbogen ist hoch, es passiert ständig etwas Neues. Der Fall ist spannend und die Gerichtsverhandlung erhält auch immer neue Impulse. Der Einblick in das deutsche Gerichtswesen macht einen authentischen und realistischen Eindruck (hier merkt man die Fachkenntnis der Autoren). Ich hätte mir aber gewünscht, dass die Figur Justus Jarmer, also die gerichtsmedizinische Seite, noch mehr Raum einnimmt. Hier hatte ich aufgrund der Ankündigung auf dem Klappentext mehr erwartet. Auch kann Rocco Eberhardt als Charakter nicht mit dem Charisma und der Rafinesse eines Eddie Flynn mithalten (vgl. meine Rezension zu „Thirteen“ von Steve Cavanagh). Ein paar Ecken und Kanten sowie juristische Listigkeit hätten es ruhig mehr sein können.

 

Was noch auffällt: Es werden recht viele verschiedene Perspektiven in die Handlung eingebunden, so dass der Fall von unterschiedlichen Seiten aus recht differenziert beleuchtet wird. Und im Laufe der Handlung nimmt er immer größere Ausmaße an. Auch das hat mir richtig gut gefallen! Und was ich noch lobend erwähnen möchte: Der Täter durchläuft eine Entwicklung. Durch die vielen neuen Informationen, die wir als Leser:in erhalten, verändert sich der Blick auf Nikolas Nölting, den Mörder. Der Sachverhalt erscheint am Ende des Buchs in einem anderen Licht. Das ist gut! Gleichzeitig werfen die Autoren damit eine interessante Frage auf: Wie viel Verständnis darf man für einen Mörder haben?

 

Fazit

Ein spannender, wendungsreicher Fall mit einem packenden Finale in Form einer Verhandlung. Das Ganze wird sehr dynamisch, realistisch und authentisch erzählt. Die Ereignishaftigkeit erzeugt hohes Tempo, so dass keine Langeweile aufkommt. Auch verändert sich im Laufe der Lektüre der Blick auf den Täter. Das ist gut arrangiert.  Die Figuren hätten lediglich noch tiefgründiger gestaltet werden können. Ich gebe 4 Sterne! Abschließende Bemerkung: Der zweite Fall hat mir noch einen Tick besser gefallen (vgl. meine Rezension zu „Der 13. Mann“).

Sonntag, 21. Mai 2023

Yagisawa, Satoshi - Die Tage in der Buchhandlung Morisaki


3 von 5 Sternen


Trivial, banal, öde


Vom Freund verlassen und den Job gekündigt, kommt die junge Protagonistin Takako bei ihrem Onkel in Tokios Buchhandlungsviertel Jinbocho unter. Er betreibt dort ein kleines Antiquariat, das keinen besonders einträglichen Eindruck hinterlässt, und hat eine direkte, zupackende, auffordernde Art an sich. Und mit der Zeit hilft er ihr, aus ihrer Krise herauszufinden und wieder unter Menschen zu gehen. Takako entdeckt ihre Liebe zu Büchern, zu Antiquariaten und zu Buchhandlungen. Darum geht es in dem schmalen Büchlein „Die Tage in der Buchhandlung Morisaki“ von Satoshi Yagisawa (zumindest teilweise), übersetzt aus dem Japanischen von Ute Enders.

 

Was den Roman maßgeblich auszeichnet, ist die Schilderung der liebevollen Beziehung des Onkels zu seiner Nichte. Takako wird von ihm aufgebaut, er gibt ihr neuen Lebensmut und zieht sie aus ihrem „Loch“ wieder heraus. Es gelingt ihr, mit ihren Gefühlen besser umzugehen und die traurige Phase hinter sich zu lassen. Das ist durchaus eine erbauliche Botschaft, die hier vermittelt wird. Ansonsten hat das Buch auf mich keinen bleibenden Eindruck hinterlassen, es kommt unspektakulär daher und lässt sich als knapp durchschnittlich bewerten. Der Schreibstil ist recht trocken und nüchtern, nicht sehr gefühlvoll. Wohl auch aus diesem Grund habe ich den Roman recht unbeteiligt gelesen. Die Handlung wird unaufgeregt erzählt. Es werden viele uninteressante Alltagsbanalitäten ausgebreitet. Und noch ein Manko: Die Figuren haben mich nicht berührt, mir waren sie viel zu hölzern. Es fehlen clevere Ideen, es gibt nichts, das mitreißt. Die Gesprächsinhalte der Charaktere könnten langweiliger nicht sein. Und die spätere Fokussierung auf die Tante fand ich unglücklich. Damit hat die sowieso schon öde Handlung noch mehr an Reiz verloren. Schade!


Fazit

Ein enttäuschendes Buch. Für mich wurde viel zu wenig deutlich, was Bücher zu geben in der Lage sind, was Liebe zu Büchern bewirken kann, was lesen an positiven Energien freisetzen kann. Für mich hätte die Erzählweise pathetischer sein können. Was ist denn das Faszinierende an Büchern, an Antiquariaten, am Lesen? Hier bleibt das Buch zu sehr unter seinen Möglichkeiten. Hinzu kommen fade Protagonisten, eine uninspirierte Erzählweise und reizlose Gesprächsinhalte. Am besten ist dieses Buch vermutlich für solche Leser:innen geeignet, die auf der Suche nach einer Einschlafhilfe sind. Ich gebe viel zu nette 3 Sterne, weil die Grundidee des Buchs sicherlich Beachtung verdient. 

Montag, 15. Mai 2023

Glattauer, Daniel - Geschenkt


5 von 5 Sternen



Gerold Plassek – Der Nasenbohrer vom Dienst?


Auf Daniel Glattauer bin ich erst recht spät aufmerksam geworden, und zwar durch seinen Roman „Die spürst du nicht“, der mir sehr gut gefallen hat. Vor allem der Schreibstil ist grandios (vgl. eine frühere Rezension). Was den Autor in meinen Augen ebenfalls auszeichnet: Er fühlt und analysiert Sprache unnachahmlich. Und in seinem Roman „Geschenkt“ beweist Glattauer abermals sein erzählerisches Können. Er entwirft interessante, facettenreiche Figuren, die sich weiterentwickeln, und differenzierte Personenkonstellationen. Besonders einfühlsam wird die Vater-Sohn-Beziehung geschildert.

 

Gerold Plassek ist zu Beginn des Buchs der klassische Verlierertyp ohne größere Ambitionen. Er hat sich seinen Alltag so eingerichtet, dass er seine Komfortzone nicht verlassen muss, konsumiert auch regelmäßig große Mengen Alkohol, legt wenig Wert auf sein äußeres Erscheinungsbild und in seinem Job als Journalist zeigt er kaum Anstrengungsbereitschaft. Was ihn aber auszeichnet, ist ein hohes Maß an Empathiefähigkeit und ein soziales Gewissen, das sich auch in seinen Zeitungsmeldungen widerspiegelt, die er Tag für Tag schreibt. Er löst bei seinen Leser:innen Betroffenheit aus. Als ihm dann plötzlich sein unehelicher Sohn aus einer früheren Beziehung vorgestellt wird, der nicht weiß, wer sein Vater ist, und zeitgleich auf einmal anonyme Spenden bei Menschen eingehen, über die Gerold in seinen Texten berichtet hat, entwickelt sich Gerold allmählich in eine ganz neue Richtung. Plötzlich wird er für seinen Sohn Manuel zu einem Vorbild und er stellt fest, dass er mit seiner journalistischen Tätigkeit etwas bewirken kann. Und das macht etwas mit Gerold. An einer wichtigen Weggabelung im Leben trifft Gerold nun die richtigen Entscheidungen und beweist Courage. Er wächst förmlich über sich hinaus und blüht auf. Und aus dem anfänglichen Zyniker wird ein Macher und Gestalter.

 

Doch nicht nur die Entwicklung von Gerold und der Vater-Sohn-Beziehung, die emotional geschildert wird, trägt den Roman, auch will man wissen, wer hinter den Spenden steckt und warum gerade Gerolds Texte den Wohltäter dazu bewegen, Menschen größere Geldsummen zukommen zu lassen. Wird die Identität des Spenders gelüftet? Wird Manuel erfahren, wer sein Vater ist? Und natürlich darf auch eine kleine Romanze nicht fehlen. Finden Rebecca und Gerold zueinander? Beiläufig gibt es auch noch einen Einblick in die Abläufe des Pressebetriebs. Und auch humorvolle Passagen findet man (Gerolds Fahrradkauf, herrlich!). Und spannende, überraschende Wendungen bleiben ebenfalls nicht ausgespart (ich will nicht zu viel verraten). Sie treiben die Handlung ebenfalls gut voran und sorgen für Abwechslung.

 

Fazit

Wer einen Roman mit starken Figuren und tiefgründig ausgestalteten Beziehungsverhältnissen mag, der ist hier genau richtig. Daniel Glattauer kann erzählen und das auf angenehme, humorvolle Art und Weise. Das beweist er mit „Geschenkt“. Seine Figuren sind charmant und lebensecht. Und auch wichtige, gesellschaftspolitisch relevante Themen kommen nicht zu kurz. In diesem Buch geht es vor allem um die Frage der sozialen Gerechtigkeit. Das hat mir gut gefallen! Wenn ich den Roman mit einem anderen vergleichen müsste, so fiele mir „Der Markisenmann“ von Jan Weiler ein. Und auch sind Berührungspunkte zu anderen Romanen von Daniel Glattauer erkennbar: Das Spiel mit der Anonymität hat auch in „Gut gegen Nordwind“ eine zentrale Rolle gespielt. Und das Thema „Flucht“ wird in „Die spürst du nicht“ wieder aufgegriffen. Von mir gibt es 5 Sterne!

Sonntag, 14. Mai 2023

Zevin, Gabrielle - Morgen, morgen und wieder morgen


3 von 5 Sternen



Das Auf und Ab einer Freundschaft


Eines gleich vorweg: Die Stärke des Romans „Morgen, morgen und wieder morgen“ von Gabrielle Zevin ist die Gestaltung der Beziehung zwischen Sam und Sadie, den beiden Hauptprotagonisten. Das stetige Auf und Ab in der Freundschaft und in ihrem professionellen Arbeitsverhältnis ist das, was die Handlung im Wesentlichen trägt und ausmacht. Schon auf den ersten 100 Seiten werden beide Figuren geschickt und mit ausreichend Tiefe eingeführt. Und im weiteren Handlungsverlauf wird aus der zunächst einträchtigen Zusammenarbeit der beiden eine Kooperation mit Konkurrenzdenken, Rivalitäten, Krisen und Meinungsverschiedenheiten. Erfolg und Misserfolg liegen dicht beieinander. Man merkt dem Buch aber auch den drehbuchartigen Charakter an, so etwas sollte man mögen.

 

Zu Beginn wird vor allem die Lebenssituation von Sadie in den Blick genommen, die ein Studium als Computerspieledesignerin aufgenommen hat und sich in dieser Männerdomäne behaupten muss. Auch geht sie eine eigenartige Beziehung mit ihrem Dozenten ein, dem sie sich völlig unterordnet. Er ist es allerdings auch, der ihr kreatives Talent als Spieleentwicklerin erkennt.

 

In unerwarteten und plötzlichen Rückblicken wird immer auch einmal wieder ein Blick in die Kindheit von Sam und Sadie geworfen. Hierbei kommt auch gut zum Ausdruck, dass Sam mit einem schweren Schicksalsschlag und mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu kämpfen hatte (und immer noch hat). Doch Sadie stand als Freundin stets an seiner Seite. Bis es eines Tages zu einem Streit zwischen beiden kommt.

 

Später entwickeln Sam und Sadie ihr erstes eigenes Computerspiel. Man erhält einen interessanten, aber auch recht oberflächlichen Einblick in den Spielentwicklungsprozess (ich hätte mir tatsächlich noch viel mehr technische Details bei der Darstellung gewünscht). Und was ebenfalls deutlich wird:  Sam und Sadie haben jeweils unterschiedliche Stärken. Sadie ist das Ausnahmetalent, sie übertrifft Sam mit ihren Fähigkeiten. Dafür hat Sam wieder andere Qualitäten. Er repräsentiert die Spiele nach außen und kann öffentlichkeitswirksam auftreten. Kurzum: Beide sind ein gutes Team, sie ergänzen sich gegenseitig. Bei der Vermarktung von Spielen bleibt Sadie aber lieber im Hintergrund. Und was Sadie noch sehr stark von Sam unterscheidet: Persönliche Freiheit ist ihr sehr wichtig. Sam hingegen ist eher ein Opportunist.

 

Das Buch hat aber auch ein großes Manko: Die Autorin tendiert dazu, vom Haupthandlungsstrang immer einmal wieder abzuweichen und Nebenschauplätze recht ausschweifend zu erzählen. Nicht alle Nebenschauplätze bereichern die Handlung. Passagenweise ist der Erzählstil recht sprunghaft. Zeitweise gerät die Beziehung zwischen Sam und Sadie dadurch zu sehr aus dem Blick. Auch sind die anderen Beziehungsverhältnisse im Roman längst nicht so gut ausgestaltet worden wie das zwischen Sam und Sadie. Und noch etwas: Sam ist in meinen Augen der deutlich interessantere Charakter. Mit ihm fiebert man mit. Man hofft als Leser, dass er seine persönlichen Krisen, die aus seinen gesundheitlichen Einschränkungen resultieren, überstehen wird.

 

Weitere Kritikpunkte: Die Gefühlsebene kommt mir an einigen Stellen im Roman deutlich zu wenig zum Ausdruck. Das betrifft in meinen Augen vor allem das letzte Drittel des Buchs. Hier kommt es zu einer unerwarteten Wendung, die die Handlung in eine andere Richtung treibt. Doch die emotionale Wucht blieb aus. Viel zu schnell kehrt wieder Normalität ein.

 

Und noch eine Empfehlung an die Marketing-Abteilung des Eichborn-Verlags: Übertreibt nicht so mit Superlativen. Nach „Liebewesen“ und „Babel“ fällt schon wieder auf, wie aggressiv positiv das Werk beworben wird. Sowas schürt unnötig hohe Erwartungshaltungen. Auch verliert man als Verlag mit der Zeit an Glaubwürdigkeit, wenn jedes Werk so gehyped wird. Der Roman ist sicher in Ordnung und er hat auch lobenswerte Aspekte (Sam und Sadies Beziehungsverhältnis), aber mehr auch nicht.

 

Fazit

Der Roman besticht durch eine wendungsreiche Freundschaftsgeschichte. Sam und Sadie sind ein interessantes Gespann, das sich gut ergänzt. Die Charakterzeichnung der beiden ist gelungen, mit Sam leidet man mit. Allerdings weist das Buch in meinen Augen auch Schwächen auf: Mir sagte der drehbuchartige Charakter nicht so zu. Die Beziehungsverhältnisse zwischen den anderen Figuren sind längst nicht so gut ausgearbeitet wie die zwischen Sam und Sadie. Was die Handlung betrifft, gibt es viele unnötige Abschweifungen. Rückblicke werden sehr abrupt und nicht immer geschickt platziert eingeschoben. Nicht zuletzt kommt die Gefühlsebene oft viel zu kurz. Man sollte sich als Leser:in nicht zu sehr von dem aggressiven Marketing blenden lassen. Von mir gibt es 3 Sterne!

 

Mittwoch, 10. Mai 2023

Geschke, Linus - Die Verborgenen



5 von 5 Sternen



„Du bist ein Hai“


Wer gut durchkonstruierte Thriller mit geschickt arrangierten Perspektivwechseln mag und auch einmal eine andere Perspektive als die eines klassischen Ermittlerteams einnehmen will, der ist bei dem Thriller „Die Verborgenen“ von Linus Geschke genau richtig. Schon der Einstieg in den Thriller ist in meinen Augen sehr gelungen, weil er irritiert. Selten liest man eine „Du-Perspektive“. Und ich habe mich anfangs als Leser dagegen gewehrt, die von außen aufgestülpte Perspektive zu übernehmen. Man bekommt eine fremde Perspektive förmlich aufgedrängt. Ein schöner Effekt (und ist mir in dieser Form noch nicht begegnet bisher)! Bei mir hat das sofort Neugier und Interesse geweckt.

 

Im Anschluss folgen die Ich-Perspektiven von Sven und Franziska Hoffmann. Und schnell wird klar, dass sich Sven fremdbestimmt und unglücklich fühlt. Seine Frau nennt er abschätzig „Familien-Managerin“. Er versinkt in Selbstzweifeln und stellt sein eigenes Lebensglück in Frage. Und auch Franziska spürt die Entfremdung von ihrem Mann. Routinen sind in die Ehe eingekehrt. Kurzum: Die Ehe befindet sich in einem kritischen Zustand. Das kommt gut zum Ausdruck.

 

Der Schreibstil ist eingängig und der Autor versteht es sehr gut, Spannung sowie Abwechslung zu erzeugen und auch überraschende, unvorhersehbare Wendungen einzubauen. Und ich war froh, dass die Handlung nicht zu sehr ins Übersinnliche abdriftete (auch wenn Franziska anfangs recht esoterisch auf mich wirkte). Und auch eine unheimliche Atmosphäre entsteht. In das Haus der Hoffmanns dringt ein sog. „Phrogger“ ein, der in die intimsten Winkel eindringt und die Privatsphäre der Bewohner verletzt. Ein weiteres Element, das die Spannung steigert: Der Job von Sven. Er ist Journalist und berichtet über den Fall eines vermissten Mädchens. Das verleiht der Handlung noch einmal zusätzliche „Triebkraft“. Prima! Ebenfalls gelungen: Die eingestreuten Hinweise darauf, dass jede Figur mehr weiß, als sie sagt. Alle Beteiligten haben ihre persönlichen Geheimnisse, die man als Leser:in Schritt für Schritt aufdeckt. Heimlichkeiten und Lügen spielen eine große Rolle. Und mit der Zeit wird das gegenseitige Misstrauen der einzelnen Familienmitglieder größer und größer (auch befördert durch die Aktionen des Phroggers). Das ist toll arrangiert!

 

Die Stärke des Autors ist es, Thriller sehr gut durchzukonstruieren. Die Wechsel der Perspektiven sind geschickt platziert. Und Linus Geschke hat viele kreative Ideen (auch was die Wendungen und die psychologische Seite der Figuren angeht), das spürt man. Und das gefällt mir! Meine Erwartungen wurden an vielen Stellen wunderbar durchbrochen. Und das macht einen sehr guten Thriller aus! Das wirklich einzige, was man evtl. noch bemängeln könnte, ist der Umstand, dass die Charakterzüge der Figuren stets auf dem „Silbertablett“ präsentiert werden (teils sehr kompakt), also sehr direkt und explizit. Das Wesen der Protagonisten ergibt sich weniger aus ihren Handlungen und Worten, es wird also nicht subtil vermittelt. Mich stört das aber nicht, weil Geschke dafür andere Qualitäten an den Tag legt.

 

Fazit

Mit Linus Geschke als Autor bin ich erstmals durch „Das Loft“ in Berührung gekommen; ein Thriller, der mir sehr gut gefallen hat (vgl. eine frühere Rezension). Auf mich macht es den Eindruck, als ob der Autor ein Garant für gut konstruierte, wendungsreiche Thriller mit geschickt platzierten Wechseln von Perspektiven ist. Das Buch ist v.a. für solche Leser:innen geeignet, die es unblutig und psychologisch mögen. Die Spannung entsteht vor allem dadurch, dass die Figuren eine verborgene Seite aufweisen, die nach und nach ans Tageslicht kommt. Und durch die Heimlichkeiten und Lügen entsteht Misstrauen. Ich finde den Thriller sehr gut, aber nicht herausragend. Das Spannungsniveau könnte noch ein wenig stärker ausgeprägt sein. 4 Sterne von mir!

Dienstag, 9. Mai 2023

Van den Speulhof, Barbara und Stephan Pricken - der Grolltroll



5 von 5 Sternen



Frust, Wut und verzeihen


In dem schön illustrierten Bilderbuch „Der Grolltroll“ von Barbara von Speulhof und Stephan Pricken geht es um das wichtige Thema „Umgang mit Frust und Wutgefühlen“. Bei dem kleinen Troll will einfach nichts klappen. Die Hütte, die er bauen will, kracht immer wieder zusammen. Vom Baum will kein Apfel fallen, obwohl er an ihm rüttelt. Die selbst gebauten Papierschiffchen versinken im Bach und ein riesiger Fels versperrt ihm noch dazu den Weg und lässt sich nicht bewegen. Der Frust wird immer größer, Wut staut sich an und vorbei ist es mit der anfänglich noch guten Laune. Es folgt ein Wutausbruch und sogar die Freunde wenden sich vom grummelnden Grolltroll ab. Doch dann folgt die Wende: Der Troll beruhigt sich wieder, entschuldigt sich bei seinen Freunden und diese verzeihen ihm.

In die Situation, die in dem Buch dargestellt wird, kann sich wohl jeder junge Zuhörer bzw. jede junge Zuhörerin hineinversetzen. Wutausbrüche bei Kindern sind völlig normal und die Frustrationstoleranz muss sich erst noch entwickeln. Jedes Kind wird sich also mit dem Troll identifizieren können. Das ist sehr gelungen. Und auch das glückliche Ende vermittelt eine wichtige Botschaft: Die Wut geht vorbei und das Umfeld reagiert nicht nachtragend, sondern verzeiht den Emotionsausbruch.

Der Text wird zudem untermalt durch passende, textunterstützende Illustrationen. Vor allem die Gesichtsausdrücke des Trolls sind sehr treffend dargestellt worden. Die verschiedenen Emotionen kommen gut zum Ausdruck. Auch die Text-Bild-Verzahnung ist durchdacht und gelungen. Das, was im Text vorkommt, findet man auch in den farbenprächtigen Zeichnungen wieder.


Fazit: 

Ein rundum gelungenes Bilderbuch mit einer sehr wichtigen Botschaft: Es gibt Erlebnisse, die frustrierend sein können. Wutausbrüche können vorkommen, aber sie vergehen auch wieder. Und das Umfeld verzeiht die negativen Gefühle. Der Inhalt bietet ein hohes Identifikationspotential und verdeutlicht den jungen Zuhörer:innen, wie Wut entsteht, wie sie auf andere wirkt und dass sie sich auch beruhigt. 5 Sterne!

Montag, 8. Mai 2023

Glattauer, Daniel - Gut gegen Nordwind



5 von 5 Sternen



„Schreiben ist küssen mit dem Kopf“


Normalerweise lese ich keine Liebesromane. Doch bei „Gut gegen Nordwind“ von Daniel Glattauer habe ich eine Ausnahme gemacht. Und zwar aus zwei Gründen: Ich mag Glattauers Schreibstil und es handelt sich um einen E-Mail-Liebesroman, der schon von der ersten Seite an überzeugt. Bereits die ersten E-Mails, die Leo Leike und Emmi Rothner austauschen, sind klasse. Zwischen beiden entsteht direkt ein witziger verbaler Schlagabtausch. Beide Protagonisten sind nicht auf den Mund gefallen und necken sich kreativ und humorvoll. Und man will wissen, wie es mit den beiden weitergeht und was aus ihnen wird. Interessant ist auch der Beruf von Leo. Er ist Uni-Assistent für Sprachpsychologie und Kommunikationsberater und das schlägt sich auch in seiner Wortwahl und seinem Charakter großartig nieder. Was er am Sprachgebrauch von Emmi herausliest, ist einfach unnachahmlich. Der Autor hat hier einfach tolle Charaktere entworfen, die Faszination beim Lesen erzeugen. Und über allem schwebt die Frage: Werden sich Leo und Emmi irgendwann begegnen?

 

Beide Protagonisten können überaus geschliffen formulieren und man merkt den E-Mails an, dass sie zunehmend ernsthafter werden. Das Interesse aneinander und die Offenheit  nehmen stetig zu. Leo schüttet Emmi gegenüber sein Herz aus, sie wiederum ist anfangs eher distanziert. Und was auch auffällt: Beide gehen überaus direkt miteinander um, v.a. Emmi. Vermutlich auch in dem Wissen, dass sie den Kontakt jederzeit abbrechen können. Im Verlauf der Beziehungsentwicklung beginnen beide sehnsüchtig auf Mails des jeweils anderen zu warten, doch ihr Privatleben lassen sie zumindest anfangs außen vor. Sie schaffen einen virtuellen Raum nur für sich beide, in dem sie spielerisch mit ihren Gefühlen umgehen. Es ist ein Flirt in einem geschützten Zwischenraum, in einem Raum voller Unverbindlichkeit.

 

Was mir während der Lektüre nahegegangen ist: Emmis charakterliche Entwicklung. An vielen Stellen fand ich sie oft verletzend und auch oberflächlich. Sie möchte Leo auf Abstand halten und ihm nicht viel Einblick in Privates gewähren. Mit zunehmender Dauer des Kontakts treten auch Eifersüchteleien und Verlangen zutage. Ich empfand Emmi häufig als sehr egozentrisch. Leo tat mir fast schon leid. Aber evtl. sehen das andere Leser:innen anders. Das sollte jede(r) selbst herausfinden. Reizvoll ist für beide jedenfalls, dass sie jeweils nur in idealtypischer Form in der Vorstellungswelt des anderen existieren.

 

Und wieder tritt das Talent des Autors hervor, treffsicher zu formulieren und sprachliche Nuancen außerordentlich feinfühlig zu gestalten. Er hat einen unglaublich scharfsinnigen, analytischen Blick auf das Innenleben seiner Figuren und er ist in der Lage, die inneren Zustände und die Gefühle der beiden psychologisch nachvollziehbar, empfindsam und differenziert zum Ausdruck zu bringen. So sind z.B. auch die Ungeduld und das Warten aufeinander förmlich greifbar. Die Charaktere wirken unheimlich lebensecht (bis auf die Tatsache, dass sich wohl nur wenige Menschen so geschliffen ausdrücken können wie Emmi und Leo). Eine großartige schriftstellerische Leistung!

 

Fazit

Ein Liebesroman mit unnachahmlichen Charakteren, die beide eine interessante Entwicklung durchmachen. Die E-Mails, die sich beide schicken, sind unheimlich kreativ, spielerisch und gewähren einen empfindsamen Einblick ins Innere von Leo und Emmi. Lesemotivation entsteht durch die Frage, was aus beiden wird und ob sie sich im realen Leben begegnen werden. Ein tolles Buch, das ich erst spät für mich entdeckt habe. Aber ich bin froh, dass ich es – wenn auch verspätet – noch gelesen habe. Absolute Empfehlung!

Montag, 1. Mai 2023

Kuang, Rebecca F. - Babel


3 von 5 Sternen


Übertriebener Hype


Selten habe ich ein Buch gelesen, das mit so vielen Vorschusslorbeeren bedacht wurde. Da heißt es auf dem Klappentext „Ein brillantes, messerscharfes Buch“ oder „ein mitreißender Roman […] etwas wahrhaft Magisches“. Es wird betont, dass es sich um einen weltweiten Bestseller handelt und natürlich darf Denis Scheck nicht fehlen, der meint, dass Babel „das Aufregendste im Fantasygenre seit Harry Potter“ sei. Das schraubt die Erwartungshaltung natürlich ganz schön in die Höhe. Zentrale Frage dieser Rezension: Ist das Buch wirklich so grandios?

 

Die große Stärke des Buchs ist mit Sicherheit das erdachte Magiesystem des sog. Silberwerkens, in das Kenntnisse aus Sprachwissenschaft und Translationswissenschaft einfließen. Ich empfand die Idee durchdacht, kreativ und ausgefeilt. Überhaupt werden einige interessante Reflexionen über Sprache, über Etymologie und über das Übersetzen in die Handlung eingebunden. Die Passagen, in denen das System erläutert wird, fand ich faszinierend. Und mit Sicherheit übt das Buch v.a. auf solche Leser:innen einen Reiz aus, die sich für Sprache interessieren (dazu zähle ich mich auch). Und was zu Beginn ebenfalls recht klug arrangiert ist: Der Verstehensprozess der Leser:innen nimmt mit dem Lernprozess von Robin zu.

 

Doch so interessant und kreativ die Idee des Silberwerkens auch ist, ich bin während der Lektüre das Gefühl nicht losgeworden, dass viel Potential ungenutzt blieb. Das liegt daran, dass das Fantasy-Element insgesamt nur äußerst dezent durchscheint, ja sogar kaum vorhanden ist. Das unterscheidet dieses Buch z.B. ganz klar von Harry Potter und macht es zu einem recht eigentümlichen Fantasy-Epos (und deswegen bin ich auch unsicher, ob sich die Marketing-Abteilung des Verlags selbst einen Gefallen tut, wenn „Babel“ durch die Aussage von Scheck mit dem Buch von Rowling in Verbindung gebracht wird). Und auch ein weiteres Thema, das im Roman angesprochen wird, hätte nach meinem Gefühl mehr Raum einnehmen können: Der Opiumhandel zwischen China und Großbritannien. Leider wurde dieses geschichtliche Kapitel nur ganz kurz angerissen.

 

Insgesamt hat der Roman von Kuang in meinen Augen auch zahlreiche erzählerische Schwächen und auch ein stark schwankendes Spannungsniveau. Die Spannungskurve mäandert durch die gesamte Handlung hinweg, so dass es immer wieder Passagen gibt, die sich nur zäh lesen. Allerdings gibt es auch gleichzeitig immer wieder Stellen, die man sehr gebannt liest. Für mich ergibt sich dadurch ein sehr uneinheitliches Bild. Und ich mag eher Bücher, in denen ich die ganze Zeit gefesselt werde. Auch der Start ins Buch verläuft eher schleppend. Man braucht schon etwas Geduld, bevor die Handlung ihren Reiz entfaltet. Kurzum: Ein paar spannungserregende Momente und Impulse mehr hätten dem Inhalt gut getan.

 

Hinzu kommen Schwächen bei der Figurenzeichnung und der Gestaltung der Beziehungsverhältnisse zwischen den Figuren. Vor allem die Randfiguren bleiben äußerst blass. Keine Figur entfaltet so richtig „Zugkraft“, nicht einmal die Hauptfigur selbst (kein Vergleich zu Kvothe aus „Der Name des Windes“). Und an einigen Stellen erhalten einzelne Figuren eigene Kapitel, um ihnen mehr Tiefe zu verleihen. Das fand ich recht unglücklich, v.a. wenn die Handlungsweise einer Figur erst im Nachgang plausibel gemacht wird.

 

Nicht zuletzt hat mich noch gestört, dass einige Dinge im Roman aus dramaturgischen Gründen recht unrealistisch konstruiert worden sind. Hierzu zähle ich besonders auch den Schluss, der mich doch enttäuscht hat. Normalerweise stellt das Finale das Highlight eines Buchs dar. Es wird dann oft so packend, dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen kann. Handlungsfäden laufen zusammen etc. Das alles fehlte mir bei „Babel“.

 

Fazit

Nach meiner bescheidenen Meinung kann ich den Hype um dieses Buch nicht nachvollziehen. Das einzige, was absolut Lob und Anerkennung verdient, ist das erdachte Magiesystem und der kreative Einbezug von Sprachreflexionen. Ansonsten weist das Buch aber auch zahlreiche Schwächen auf. Für mich ist das Buch eher durchschnittlich. Ich gebe 3 Sterne. 

Böhm, Anna - Emmi und Einschwein. Lesen macht lustig.


4 von 5 Sternen



Emmi und Einschwein für Erstleser:innen


Emmi und Einschwein von Anna Böhm ist eine lustige und kreativ durchdachte Kinderbuchreihe. Wir haben bisher alle Bände mit Begeisterung gelesen (vgl. meine frühere Rezension zu Band 1). Zum Lesen lernen greifen wir immer wieder auch auf Erstlesebücher zurück. Da bot es sich an, das Emmi-und-Einschwein-Erstlesebuch „Lesen macht lustig“ aus dem Oetinger Verlag genauer in den Blick zu nehmen. Vorkenntnisse zu Emmi und Einschwein sind nicht zwangsläufig nötig, aber natürlich ist es schöner, wenn man bereits über Hintergrundinformationen zu den auftretenden Figuren verfügt.

 

Gelungen ist, dass hier das Thema „Lesen“ in den Mittelpunkt gerückt wird. Einschwein soll lesen üben. Dies bietet für die Erstleser:innen natürlich viel Identifikationsmöglichkeit. Sie können auf diese Weise Bezüge zu ihrem eigenen Leselernprozess herstellen. Das ist eine gelungene Idee! Beiläufig wird auch die Funktion des ABCs treffend erläutert, und zwar am Beispiel von Büchern, die alphabetisch sortiert werden müssen. Auch der Begriff des Klappentextes wird eingeführt. Prima!

 

Was mir auch gut gefallen hat, der Text wird immer wieder durch sinnvolle Aufgaben unterbrochen, die man vor allem als Gesprächsanlass nutzen kann (der Verlag nennt dieses Konzept „dialogisches Vorlesen“, was ich etwas missverständlich finde. Denn es geht nicht darum, Passagen gemeinsam zu lesen).

 

Folgende offenen Aufgaben sind zu finden: „Warst du schon einmal in einer Bücherei? Wie hat es dir gefallen?“, „Hast du auch schon einmal ein trauriges oder ein lustiges Buch gelesen?“, „Welches Ende eines Films hat dir besonders gut gefallen?“, „Kennst du jemanden, dem du so richtig gut vorlesen kannst?“, „Magst du Comics? Was ist an Comics anders als an Kinderbüchern?“, „Magst du auch nicht so gern lesen üben? Kannst du schon ein bisschen lesen?“ An einer Stelle findet man auch eine Antizipations-Übung zum weiteren Handlungsverlauf (gut!): „Glaubst du, dass Emmi und Einschwein heute daran denken, das Buch abzugeben?“

 

Ich halte das Buch für Erstleser:innen ab der zweiten Klasse (eher sogar Ende Klasse 2, Anfang Klasse 3) für geeignet. Der Text ist für Erstklässler:innen in meinen Augen noch deutlich zu umfangreich. Die Empfehlung des Verlags auf dem Klappentext (empfohlen für Vorschule und Anfang Klasse 1) finde ich unzutreffend.

 

Fazit

Ein gelungenes Erstlesebuch für alle Emmi und Einschwein Fans. Wer die dazugehörigen Bände kennt, wird hier besonders motiviert lesen üben. Was die Reihe von anderen abhebt, die ich bisher kennen gelernt habe: Es gibt jede Menge Aufgaben, mit deren Hilfe man gemeinsam über das Gelesene ins Gespräch kommen kann. Das hat mir gut gefallen! Allerdings fehlen Übungen, mit denen man die Lesekompetenz trainieren kann (Ausnahme: Die Antizipationsübung zum weiteren Handlungsverlauf). Das empfohlene Lesealter des Verlags halte ich für fragwürdig (Vorschule bis Beginn 1.Klasse, vgl. Klappentext). Meiner Ansicht nach ist das Buch eher für fortgeschrittene Zweitklässler:innen geeignet. Ich vergebe 4 Sterne!