Ein Meisterwerk
In dem Roman „Unter der
Drachenwand“ von Arno Geiger verfolgen wir das Schicksal von Veit Kolbe, der im
zweiten Weltkrieg an der Ostfront verwundet wurde, durch ein riskantes Manöver zunächst
einen weiteren Fronteinsatz vermeiden kann, dann aber zum Ende wieder für
feldtauglich gehalten wird, für ca. ein Jahr. Zu Beginn des Buches finden wir
eindringliche Schilderungen zu Rücktransport von der Front ins Lazarett, seinem
Aufenthalt dort sowie seinen beginnenden Genesungsurlaub zu Hause in Wien bei
seinen Eltern. Als er eine massive Entfremdung von seinem Elternhaus
feststellt, beschließt er jedoch auf das Angebot seines Onkels zurückzukommen
und in Mondsee, einem Ort in der Nähe von Salzburg, allein zu leben. Dort lernt
er die kühl und distanziert wirkende Lehrerin Grete Bildstein und ihre Schülerinnen,
die ihm zugewandte Darmstädterin Margot mit ihrer kleinen Tochter Lilo sowie
den regimekritischen Gärtner, genannt „Brasilianer“, kennen. Während seines
Aufenthalts in Mondsee wird er zudem immer mal wieder von traumatischen Kriegserlebnissen,
die eindringlich geschildert werden, heimgesucht. Durchbrochen wird die
Handlung regelmäßig auch von Briefen, die ihrerseits umfassendere Hintergründe
über das Kriegsgeschehen an verschiedenen Orten in Deutschland vermitteln. So
erhält Margot Post von ihrer Mutter aus Darmstadt und die Schülerin Nanni tauscht
Liebesbriefe mit ihrem Freund Kurt Ritter aus, was zu weiteren Verwicklungen
führt, denn eines Tages verschwindet Nanni spurlos, als ihr der weitere Kontakt
zu Kurt von den Eltern verboten wird. Nicht zuletzt wird in Briefform die Flucht
einer jüdischen Familie aus Wien nach Budapest geschildert.
Der Roman bietet ein
facettenreiches und eindringliches Bild der damaligen Kriegszustände, was vor
allem auch daran liegt, dass mehrere Parallelhandlungen existieren und
kunstvoll miteinander arrangiert werden. Was mich besonders überzeugen konnte,
ist die Ausarbeitung der Charaktere, die durch Tiefgründigkeit und
Differenziertheit bestechen, sowie die komplexe Personenkonstellation, die
nicht statisch angelegt ist, sondern sich im Verlauf der Lektüre
weiterentwickelt. So ist Veit Kolbe beispielsweise nicht nur ein
traumatisierter Verwundeter, der Angst vor einem erneuten Fronteinsatz hat, sondern
auch ein Sohn, der sich von seinem Vater distanziert, ein hilfsbereiter Freund,
der dem inhaftierten Brasilianer beisteht, und ein Liebender, der sich
umsichtig um Margot und ihre Tochter kümmert. Margot ihrerseits ist nicht nur
Tochter einer sich sorgenden Mutter, sondern gleichzeitig auch noch Geliebte
und Ehefrau. Für jede Figur des Romans könnte man die verschiedenen Rollen
aufzeigen, in denen sie sich bewegt und fortentwickelt. Das ist eine
herausragende schriftstellerische Leistung. Und noch etwas: Durch den Einbezug
der verliebten Annemarie - Nanni - Schaller und Kurt Ritter wird zudem auch
eine jugendliche Perspektive auf das Kriegserleben geworfen und wir sehen, was
die strenge, bewachende Erziehung für schreckliche Folgen haben kann. Besonders
erschütternd empfand ich darüber hinaus die Briefe der jüdischen Familie, die
nach Budapest flieht, in denen menschliche Abgründe greifbar werden.
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