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Dienstag, 5. April 2022

Geiger, Arno - Unter der Drachenwand


5 von 5 Sternen

Ein Meisterwerk

In dem Roman „Unter der Drachenwand“ von Arno Geiger verfolgen wir das Schicksal von Veit Kolbe, der im zweiten Weltkrieg an der Ostfront verwundet wurde, durch ein riskantes Manöver zunächst einen weiteren Fronteinsatz vermeiden kann, dann aber zum Ende wieder für feldtauglich gehalten wird, für ca. ein Jahr. Zu Beginn des Buches finden wir eindringliche Schilderungen zu Rücktransport von der Front ins Lazarett, seinem Aufenthalt dort sowie seinen beginnenden Genesungsurlaub zu Hause in Wien bei seinen Eltern. Als er eine massive Entfremdung von seinem Elternhaus feststellt, beschließt er jedoch auf das Angebot seines Onkels zurückzukommen und in Mondsee, einem Ort in der Nähe von Salzburg, allein zu leben. Dort lernt er die kühl und distanziert wirkende Lehrerin Grete Bildstein und ihre Schülerinnen, die ihm zugewandte Darmstädterin Margot mit ihrer kleinen Tochter Lilo sowie den regimekritischen Gärtner, genannt „Brasilianer“, kennen. Während seines Aufenthalts in Mondsee wird er zudem immer mal wieder von traumatischen Kriegserlebnissen, die eindringlich geschildert werden, heimgesucht. Durchbrochen wird die Handlung regelmäßig auch von Briefen, die ihrerseits umfassendere Hintergründe über das Kriegsgeschehen an verschiedenen Orten in Deutschland vermitteln. So erhält Margot Post von ihrer Mutter aus Darmstadt und die Schülerin Nanni tauscht Liebesbriefe mit ihrem Freund Kurt Ritter aus, was zu weiteren Verwicklungen führt, denn eines Tages verschwindet Nanni spurlos, als ihr der weitere Kontakt zu Kurt von den Eltern verboten wird. Nicht zuletzt wird in Briefform die Flucht einer jüdischen Familie aus Wien nach Budapest geschildert.

Der Roman bietet ein facettenreiches und eindringliches Bild der damaligen Kriegszustände, was vor allem auch daran liegt, dass mehrere Parallelhandlungen existieren und kunstvoll miteinander arrangiert werden. Was mich besonders überzeugen konnte, ist die Ausarbeitung der Charaktere, die durch Tiefgründigkeit und Differenziertheit bestechen, sowie die komplexe Personenkonstellation, die nicht statisch angelegt ist, sondern sich im Verlauf der Lektüre weiterentwickelt. So ist Veit Kolbe beispielsweise nicht nur ein traumatisierter Verwundeter, der Angst vor einem erneuten Fronteinsatz hat, sondern auch ein Sohn, der sich von seinem Vater distanziert, ein hilfsbereiter Freund, der dem inhaftierten Brasilianer beisteht, und ein Liebender, der sich umsichtig um Margot und ihre Tochter kümmert. Margot ihrerseits ist nicht nur Tochter einer sich sorgenden Mutter, sondern gleichzeitig auch noch Geliebte und Ehefrau. Für jede Figur des Romans könnte man die verschiedenen Rollen aufzeigen, in denen sie sich bewegt und fortentwickelt. Das ist eine herausragende schriftstellerische Leistung. Und noch etwas: Durch den Einbezug der verliebten Annemarie - Nanni - Schaller und Kurt Ritter wird zudem auch eine jugendliche Perspektive auf das Kriegserleben geworfen und wir sehen, was die strenge, bewachende Erziehung für schreckliche Folgen haben kann. Besonders erschütternd empfand ich darüber hinaus die Briefe der jüdischen Familie, die nach Budapest flieht, in denen menschliche Abgründe greifbar werden. 


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