Dieses Blog durchsuchen

Sonntag, 3. November 2024

Henn, Carsten - Der Buchspazierer


Der alte Mann und die Bücher



Carl Kollhoff (72 Jahre) ist ein begnadeter Buchhändler. Er kennt die Wünsche seiner Kundschaft und versorgt einzelne Bürger seiner Stadt mit von ihm ausgesuchten Lesestoff. Dafür bringt er ihnen die Bücher persönlich zu Hause vorbei. Er ist der „Buchspazierer“. Mit dieser Aufgabe gibt er seinem eigenen Leben einen Sinn. Seine Liebe zu literarischen Stoffen und seine Belesenheit merkt man ihm an. So benennt er seine Kundinnen und Kunden z.B. nach literarischen Vorbildern und gibt ihnen amüsante Spitznamen. 


Auf einem seiner Auslieferungsspaziergänge, bei denen wir stets auch die Kundinnen und Kunden mit ihren jeweiligen Eigenheiten und Leseinteressen kennenlernen, begegnet Carl eines Tages dem kleinen Mädchen Schascha (9 Jahre), das ihn fortan begleitet. Sie ist Halbwaisin und ihr Vater arbeitet viel, um die kleine Familie über Wasser zu halten. Anfänglich kann der Buchspazierer mit der Kleinen nicht viel anfangen, er hat Berührungsängste. Doch schnell erobert sie sein Herz. Mit ihrer kindlichen Unbedarftheit und ihren neugierigen Fragen amüsiert sie die Erwachsenen um sich herum und bringt Carl ein wenig aus seinem gewohnten Rhythmus. Schascha verleiht Carls Leben neuen Schwung, durchbricht dessen festgefahrene Routinen und gewinnt rasch die Sympathie der Leserinnen und Leser. Sie ist ein humorvolles Element und sorgt immer wieder für Überraschungen. Eine schöne Beziehungskonstellation, die der Autor da konstruiert hat!

 

In der Mitte des Buchs kommt es dann zu einer krisenhaften Situation. Aus wirtschaftlichen Gründen wird der Service, den Carl anbietet, abgeschafft und er verliert seine Beschäftigung (sein Angebot konnte bei einer Buchhandlung dazugebucht werden). Die Inhaberin des Buchladens agiert eiskalt, undankbar und gnadenlos, und das obwohl Carl mit seiner Tätigkeit einen wichtigen Beitrag zum Erhalt der Buchhandlung beiträgt und die Kundschaft mit ihm sehr zufrieden ist. Carl ist daraufhin geschockt und am Boden zerstört. Schascha merkt dies und will ihn aufmuntern. Und ich stellt mir an dieser Stelle die folgenden Fragen: Wie wird er damit umgehen? Kann er sich aus seiner persönlichen Krise befreien? Wird Schascha ihm dabei helfen? Ich will nicht zu viel verraten, nur so viel: Zum Ende des Buchs ändert sich der wohlige Erzählton des Buchs ein wenig und Carl lernt auch andere Seiten des Menschseins kennen.

 

In dem Buch werden viele interessante Themen beiläufig angerissen. So geht es an einigen Stellen auch um das Altern. Weiterhin scheint durch, dass Schascha trotz ihrer ausgeprägten Neugier nicht gut in der Schule ist. Das finde ich erstaunlich, wo sie doch als Begleitung von Carl so kreativ ist und über eine hohe emotionale Intelligenz verfügt. Eine kleine, aber feine Kritik am Schulsystem, die hier aufblitzt. Zentral geht es aber in „Der Buchspazierer“ natürlich um das Thema „Bücher“. So wird klar, dass Bücher in verschiedenen Lebenssituationen immer wieder wichtige Funktionen erfüllen. Sie spenden Kraft, Trost, Freude oder stiften andere Emotionen. Zudem bieten sie Möglichkeiten zur Identifikation mit den Protagonistinnen und Protagonisten und sind eine gute Gelegenheit, um über den Inhalt des Buchs miteinander ins Gespräch zu kommen oder anderen als Geschenk eine Freude zu machen. Und man stößt während der Lektüre immer wieder auf feine Passagen, die das Lesen im Allgemeinen betreffen, so z.B. die folgende: „Jeder Mensch braucht andere Bücher. Denn was der eine aus tiefstem Herzen liebt, das lässt den anderen völlig teilnahmslos“ (S. 89). Fazit: Ein gelungenes Werk mit gut aufeinander abgestimmten Figuren und wichtigen Botschaften. 5 Sterne von mir!

Freitag, 1. November 2024

Der Herr der Ringe - Die Ringe der Macht (Staffel 2)


Ereignisreich, spannend und bildgewaltig (Vorsicht Spoilergefahr)




Die zweite Staffel von „Die Ringe der Macht“ hat mich auf ganzer Linie überzeugt. Schon der Einstieg ist opulent. Wir erleben mit, wie Sauron von Adar getötet wird und die Orks von dessen Herrschaft befreit. Und wir sehen, dass Saurons Existenz nicht an eine körperliche Erscheinung gebunden ist. Er überlebt.

 

Nachdem Sauron sich von seinem Rückschlag erholt und neue Kräfte gesammelt hat, schmuggelt er sich unter falscher Identität unter die Elben in Eregion. Er erscheint uns als großer Manipulator, der in der Lage ist, sein Gegenüber geschickt zu täuschen. Sein Ziel: Beim Elbenschmied Celembrimbor in die Lehre zu gehen und die Ringe der Macht herzustellen (natürlich nicht in guter Absicht). Das wird gut in Szene gesetzt und kommt über die komplette Staffel hinweg immer wieder sehr gut zum Ausdruck. Es verdeutlicht auch, welche Macht Sauron über andere hat und wie gefährlich er ist. Er ist in meinen Augen die Hauptfigur der zweiten Staffel. Es ist bestimmt kein Zufall, dass er allein auf dem Cover abgebildet ist.

 

Die Figur von Adar haben sich die Macher der Serie überlegt, sie stammt ursprünglich nicht aus dem Tolkien-Universum. Doch diese Idee fügt sich gut in das Gesamtbild ein und auf diese Weise hat man der Serie ein kreatives Element hinzugefügt, wie ich finde. Adar tritt als Anführer der Orks auf und ist Rivale von Sauron. Er hat ihn verraten und will ihn weiterhin aus der Welt schaffen, als er erfährt, dass Sauron überlebt hat.

 

Das Geschehen wechsel regelmäßig zwischen den verschiedenen Handlungssträngen und entwickelt sich jeweils in unterschiedliche Richtungen weiter. So geht es auch um Gandalf und seine Suche nach sich selbst. Noch hat er seine magischen Kräfte nicht unter Kontrolle. Er trifft schließlich auf Tom Bombadil (eine Figur, die in den Filmen von Peter Jackson leider nicht vorkommt), der für ihn zu einer Art Mentor wird, und muss sich später mit dem ominösen dunklen Zauberer messen (handelt es sich bei dem dunklen Zauberer etwa um Saruman?).

 

Weiterhin begleiten wir die Elben, die sich zunächst darüber einig werden müssen, wie sie mit den für sie geschmiedeten drei Ringen verfahren wollen. V.a. Elrond und Galadriel rücken dabei in den Vordergrund. Über ihr Beziehungsgefüge erfahren wir mehr. Elrond erscheint z.B. als äußerst weise und charakterstark, er misstraut den Elbenringen. Galadriel hingegen ist äußerst kämpferisch und willensstark.

 

Darüber hinaus gibt es noch weitere Handlungsstränge: Die Zwerge in Khazad Dum erhalten vom Elbenschmied und seinem neuen Lehrling sieben Ringe der Macht. Durins Vater macht von einem dieser Ringe Gebrauch und durchläuft eine negative Entwicklung. Er wird durch die Macht des Rings korrumpiert. Kann sein Sohn ihn und das Reich der Zwerge vor Schlimmerem bewahren? Ab der dritten Folge erfahren wir auch, was aus Isildur und dem Reich Numenor geworden ist.

 

Fazit: Die zweite Staffel ist bildgewaltig und episch in Szene gesetzt worden. Sie ist ereignisreich und es wurde zudem darauf geachtet, dass die verschiedenen Handlungsstränge alle inhaltlich sinnvoll vorangetrieben werden. Das Staffelfinale kann sich sehen lassen. Gleichzeitig bleibt am Ende so viel offen, dass man mit Neugier auf die dritte Staffel wartet. Sie hat mir viel besser gefallen als Staffel 1, auch weil es mir so vorkam, als sei der Spannungsbogen deutlich stärker ausgeprägt. Vieles erscheint mir als sinnvolle Ergänzung zu den Jackson-Filmen. So wird z.B. das Beziehungsgefüge von Elrond und Galadriel vertieft und beiden Figuren werden neue Aspekte verliehen. Die Orks rücken plötzlich in ein anderes Licht, nachdem ich diese Staffel geschaut habe. Sie wirken nun eher wie ein Spielball höherer Mächte. Kurzum: Die Serie fügt sich nach meinem Empfinden sehr gut in das Franchise um Herr der Ringe ein.

Mittwoch, 30. Oktober 2024

Coates, Darcy - From below. Die Toten warten


Das Schicksal der Arcadia



Ein Team aus Dokumentarfilmern bereitet sich auf eine Expedition zu einem Schiffswrack vor. Bei dem Wrack handelt es sich um die „Arcadia“, die seit den 1920er Jahren verschollen ist. Es ranken sich verschiedene Mythen darum, was genau an Bord passiert ist. In eingeschobenen Rückblicken erfahren wir, was sich in der Vergangenheit wirklich auf dem Schiff zugetragen hat. Auf ihrer Mission enträtselt das Team die Geschichte des Wracks immer weiter. Die Atmosphäre dieses Horror-Thrillers ist düster und klaustrophobisch-bedrückend, v.a. wenn sich die Protagonisten unter Wasser aufhalten. Durch die Schilderung von Sinnestäuschungen entsteht auch ein Grusel-Effekt. Das hat die Autorin richtig gut arrangiert.

 

Alles das, was rund herum ums Tauchen dargestellt wird, kommt außerdem sehr authentisch und realistisch daher. Es kommt z.B. auch gut zum Ausdruck, welche Gefahren ein solcher Tauchvorgang mit sich bringt, wenn man auf ca. 90m Tiefe vordringt (Stichwort: Taucherkrankheit etc.). Auch die Erkundung des Inneren des Wracks wird sehr anschaulich und bildhaft beschrieben. Es entstehen Bilder vor dem inneren Auge. Es gibt viele spannungserregende Merkmale, die deutlich werden: So sorgt die eingeschränkte Sicht, bedingt durch den begrenzte Lichtpegel der Helmleuchten sowie aufgewirbeltes Sediment, für Anspannung beim Lesen. Hinzu kommen ein limitierter Sauerstoffvorrat und eine Tauchleine als Orientierungshilfe, die für Unsicherheit und auch Zeitdruck sorgen. Man hat während der Lektüre ständig das Gefühl, dass etwas Unheilvolles passieren könnte und das Team in Gefahr gerät.

 

Weitere Aspekte: Die Gruppendynamik ist gut eingefangen worden. Es gibt einen Draufgänger, eine Aufpasserin sowie einen Unsicheren etc. Die einzelnen Mitglieder des Teams können darüber hinaus unterschiedlich gut tauchen, was ebenfalls für Unruhe beim Lesen sorgt. Ich habe permanent damit gerechnet, dass sich das schwächste Glied der Kette in eine ausweglose Situation manövriert. Hinzu kommen mysteriöse Botschaften, die die Schiffsbesatzung der Arcadia an die Wände geschmiert hat. Was hat es damit nur auf sich? Diese Verrätselung sorgt für Neugier. Durch die Rückblicke und den Blickwinkel auf die Gegenwartsebene entsteht zudem ein schöner Kontrast: Während die Taucher nicht wissen, was an Bord der Arcadia genau passiert ist, erfahren die Leserinnen und Leser mehr darüber, was sich in der Vergangenheit zugetragen hat. Die Leserinnen und Leser haben also einen Wissensvorsprung gegenüber dem Tauchteam. Das ist ebenfalls gelungen konzipiert worden.

 

Als das Team unter Wasser bei ihren Aufnahmen auf eine Leiche trifft und danach wieder auftaucht, stellen sich die einzelnen Mitglieder die Frage, ob sie die Dreharbeiten für ihren Film fortsetzen wollen oder nicht. Sie gehen davon aus, dass sich noch mehr Leichen an Bord der Arcadia verbergen. Werden sie einen zweiten Tauchvorgang vornehmen? Und falls ja, was werden sie entdecken? Ich will nicht zu viel verraten, nur so so viel: Spätestens ab diesem Zeitpunkt driftet der Thriller immer mehr ins horrormäßige ab und Übernatürliches gewinnt an Bedeutung. Das sollte man mögen! Mich persönlich hat es nicht so angesprochen. Das letzte Drittel war für mich leider der schwächste Teil des Buchs. Bei mir wollte beim Lesen einfach keine Gänsehaut aufkommen. Aber das mag anderen (zartbesaiteten?) Leserinnen und Lesern ganz anders ergehen. Ich hätte mir fast gewünscht, dass die Autorin eher einen „gewöhnlichen“ Tauch-Thriller mit einer passenden Katastrophe daraus gemacht hätte. Das hätte mich mehr erreicht. Deshalb „nur“ 4 Sterne.

Mittwoch, 23. Oktober 2024

Strobel, Arno und Ingo Bott - Gegenspieler


War mir zu langatmig und ereignisarm



Max Bischoff wird der Auftrag angeboten, den Suizid des Geschäftspartners einer Anwaltskanzlei näher zu untersuchen. Es steht der Verdacht im Raum, dass der Suizid nur vorgetäuscht worden ist und es sich um Mord handelt. Widerwillig nimmt Bischoff den Auftrag an. Die Chemie zwischen ihm und seinem großspurig auftretenden Auftraggeber passt nicht recht.

 

Bischoff beginnt mit seinen Ermittlungen im Arbeitsumfeld des Opfers. Schon bald lernt er Pirlo kennen, mit dem er schließlich zusammenarbeitet. Beide können sich zu Beginn nicht ausstehen und pflegen eher eine rein professionelle Beziehungsebene. Das kommt gut zum Ausdruck. Doch wie zu vermuten war, nähern sich beide Charaktere im Handlungsverlauf einander an…

 

Etwas „Würze“ wird der Handlung dadurch verliehen, dass Max bei seinem ehemaligen Kollegen Böhmer dieses Mal „auf Granit beißt“. Er will ihn bei seinen Ermittlungen nicht unterstützen und rät ihm sogar davon ab, die Sache weiterzuverfolgen. Max ist dieses Mal also v.a. auf sich allein gestellt. Auch die Rivalität zu Keskin, die wir aus der Mörderfinder-Reihe kennen, blitzt an einigen Stellen gut durch (es schadet also nicht, die Bände dieser Reihe zu kennen).

 

Als ein erster Verdächtiger gefasst wird, kommt etwas Bewegung in die Handlung. Doch leider hält diese Dynamik nicht lange an und Stagnation macht sich stattdessen breit. Ich hätte auch erwartet, dass Pirlos juristische Fähigkeiten als Verteidiger noch mehr zum Einsatz kommen und es sich eher in die Richtung eines Justiz-Thrillers entwickelt. Doch dem war nicht so. Schade!

 

Puh, ich muss sagen, ich habe mich mit diesem Thriller sehr, sehr schwer getan. Spannung will nicht recht aufkommen, das Tempo ist mau. Ich bin leider nicht gepackt worden. Es gibt viele langatmige Passagen. Nur im letzten Drittel bin ich beim Lesen auf meine Kosten gekommen. Da bin ich v.a. von Arno Strobel anderes gewohnt (vgl. dazu frühere Rezensionen). Da ich von Ingo Bott noch keinen Thriller gelesen habe, weiß ich nicht, wie er sonst schreibt, aber Strobels typischer Schreibstil blieb mir zu sehr auf der Strecke. Schade, schade!

 

Fazit: Die Grundhandlung dieses Thrillers lässt sich einfach zusammenfassen. Handelt es sich bei dem Suizid um Mord oder nicht? Und ist der Verdächtige, den man beschuldigt, zu Recht in Haft oder ist er unschuldig? Bei mir wollte bei der Lektüre der Funke leider nicht überspringen. In meinen Augen ist es ein durchschnittlicher Thriller. Deshalb gibt es von mir 3 Sterne.

Mittwoch, 16. Oktober 2024

Brandhorst, Andreas - Der Riss


Leben wir in einer Simulation?



Für seinen neuesten Thriller hat sich Brandhorst ein tolles „near-future-Setting“ überlegt, bei dem v.a. das philosophische Gedankenkonstrukt der Simulationstheorie in die Handlung einfließt. Dieses Konstrukt wird geschickt mit dem Thema „Künstliche Intelligenz“ verknüpft. Die Zukunftsvision, die der Autor entwirft, kommt sehr düster daher. V.a. Kriege, Klimawandel und Pandemien beherrschen die Menschheit. Bei der Schilderung wird munter zwischen drei Handlungssträngen gewechselt, die ich kurz skizzieren möchte. Was ich aber nicht vorwegnehmen möchte, ist, wie sie zusammenhängen. Das möge jede und jeder selbst herausfinden.

 

Zu Beginn lernen wir den Hacker Flynn Darkster kennen, der in die Computersysteme des Pentagon eindringt und dabei erwischt wird. Wir erhalten auf diese Weise beiläufig einen erstklassigen Einblick in das Treiben eines Hackers. Sehr interessant! Flynn wird nach seinem Hack von einem Agenten namens Mr. Smith aufgesucht (schöne Anspielung auf Matrix), der ihm das Angebot macht, für die Spezialeinheit „Horatio“ zu arbeiten, die dem Verteidigungsministerium unterstellt ist und sich für einen möglichen Cyberkrieg rüstet. Was wird er im Rahmen seines neuen Jobs herausfinden?

 

In einem anderen Handlungsstrang lernen wir Alma Salome kennen, die nachts immer um die gleiche Zeit aus einem Albtraum erwacht, der sich sehr real anfühlt. In dem Traum begeht Alma Suizid. An ihrem Beispiel wird verdeutlicht, dass zwischen Traum und Wirklichkeit nur schwer unterschieden werden kann. Alma und ihre Erlebnisse werden später näher untersucht. Was wird man dabei entdecken? Sind ihre Albträume etwa ein Hinweis darauf, dass die Simulationstheorie stimmt?

 

In einem dritten Handlungsstrang lernen wir Dr. Hannah Tambey kennen, die eine KI mit dem Namen Jota betreut und mit dieser kommuniziert. Es handelt sich dabei um einen Supercomputer, der sich im Handlungsverlauf stetig weiterentwickelt (ich habe viele schöne Parallelen zu „das Erwachen“ und „die Eskalation“ ausfindig machen können). Mit Hilfe von Jota sucht man nach Anomalien, die als Risse bezeichnet werden. Gleichzeitig stellt sich Jota zunehmend Fragen zur eigenen Existenz. Wie wird es mit der KI weitergehen? Welche Erkenntnisse wird Jota hervorbringen?

 

Besonders lesenswert fand ich Passagen, die unmittelbar mit der Simulationstheorie zu tun hatten, sowie die Textstellen, in der Jotas Eigenleben geschildert wird. So integriert Brandhorst interessante Fragen, wie die folgenden, in die Handlung: Ist etwa die Existenz der Naturgesetze ein Beleg dafür, dass wir in einer programmierten Simulation leben? Ist das Vorhandensein von Übernatürlichem, über das in der Geschichte der Menschheit immer wieder berichtet wurde, ein Hinweis auf Fehler in der Simulation? Sind die immer noch nicht gänzlich verstandenen Phänomene auf Quantenebene Indizien für die Existenz einer vorgetäuschten Wirklichkeit? Und was könnte der Zweck einer solchen Simulation sein, wenn sie denn existiert? Auch die Ideen der Skalierung und des lokalen Fokus fand ich interessant.

 

Was ich sehr leserfreundlich finde, ist der Umstand, dass im E-book zu unbekannten Fachbegriffen aus dem Computer- und Physikbereich Hyperlinks angelegt worden sind, die man anklicken kann, so dass man direkt im angefügten Glossar im hinteren Teil des Buchs landet und nachlesen kann, was mit den Begriffen jeweils gemeint ist. Diese werden sehr verständlich und ausführlich erläutert. Danke dafür! Das erleichtert das Verständnis und so werde ich als Leser nicht überfordert.

 

Auch gibt es am Ende des Buchs noch ein hilfreiches Personenverzeichnis sowie ein aufschlussreiches und informatives Nachwort, in dem der Autor noch näher auf die Simulationstheorie und die Idee der Informationsdynamik sowie den Begriff der Entropie eingeht. Fünf Sterne kann ich für das Buch trotz der vielen Denkanstöße aber dennoch nicht geben. Dafür fehlte mir an einigen Stellen das Tempo. Auch der Grad an Spannung schwankt. Noch dazu fand ich die Personenzahl stellenweise etwas unübersichtlich. Dafür bietet das Buch aber reichlich Stoff zum Nachdenken und Philosophieren.

Sonntag, 13. Oktober 2024

Pellini, Petra - Der Bademeister ohne Himmel


Der Weg in die Erinnerungslosigkeit



Die 15-jährige Linda kümmert sich rührend um ihren dementen Nachbarn. Und das, obwohl sie selbst ihr Päckchen zu tragen hat und ihre Mutter sich mehr schlecht als recht um sie kümmert. Sie wirkt an vielen Stellen erstaunlich abgeklärt, vernünftig und erwachsen, ja fast weise und lebensklug. Linda behält jederzeit den Überblick über die Situation, hat eine Engelsgeduld und ist sehr geübt im positiven Denken. Hubert ist 86 Jahre alt und seit einigen Jahren Witwer. Sein Leben entgleitet ihm. Ohne pflegerische Hilfe kann er seinen Alltag nicht bewältigen. Gegen Ende des Buchs wird er zum Pflegefall. Durch die Augen der 15-Jährigen erleben wir mit, welche Einschränkungen Hubert hat. Er lebt in seiner eigenen Welt und die Ich-Erzählerin weiß, wie sie mit ihm umzugehen hat.

 

Einen humorvollen Effekt hat sich die Autorin überlegt, indem sie Ewa als polnische Pflegekraft mit ihrem radebrechenden Deutsch als zusätzliche Figur zur Unterstützung für Hubert einbaut. Linda und Ewa haben ein gutes Verhältnis zueinander. Ewa kommt etwas schräg, aber sehr warmherzig daher. Man sollte sich nicht daran stören, dass hier das ein oder andere Klischee bedient wird, damit es lustig wirkt. Weitere Figuren, die vorkommen, auf die ich aber hier nicht zu sehr eingehen möchte, sind die Tochter von Hubert, die die Pflege ihres Vaters lieber „outsourct“, sowie die Mutter von Linda, die sich mehr um ihren neuen Liebhaber als um die eigene Tochter kümmert.

 

Während der Lektüre habe ich v.a. darauf geachtet, ob mit Hubert würdevoll umgegangen wird. Und ich kann sagen, dass Hubert und seine Symptome dem Leser zwar leichtfüßig und auf heitere Art näher gebracht werden, aber ohne dass sich über ihn lustig gemacht wird. Hubert kommt liebenswürdig, aber mit allen Einschränkungen gut zum Ausdruck. Das ist der Autorin hervorragend gelungen. Das ist schließlich ein nicht leicht auszuführender Drahtseilakt! Die Schreibweise ist über weite Strecken „knuffig-kindlich“ (was auch an der Wahl von Lindas Perspektive liegt).

 

Noch etwas hat mich während der Lektüre beschäftigt: Kommen auch die dunklen Stunden von Huberts Erkrankung zum Ausdruck? So hatte ich zu Beginn den Eindruck, dass Huberts Leben äußerst „weichgezeichnet“ wird, die negativen Auswirkungen seines Zustands werden recht liebevoll und warmherzig dargestellt. Nicht an einer Stelle geraten Linda oder Ewa an ihre pflegerischen Grenzen. Und ich kann sagen, dass sich das gegen Ende des Romans ändert. Dann nämlich verschlechtert sich Huberts Zustand und es kommen auch andere Aspekte zum Ausdruck. Allerdings bleibt der Erzählton trotz der Tragik der Ereignisse leicht, warmherzig und „sonnig“. Ewa und Linda verlieren nie ihren liebenswürdigen Blick auf die Realität.

 

Es ist der Autorin wichtig, die Botschaft zu vermitteln, dass man auch mit einem Demenzkranken wie Hubert schöne Stunden verbringen kann. Es geht nicht um die Schilderung einer erschreckend harten Realität, die die Pflege eines Demenzkranken ja auch sein könnte. Pellini will ihrer Leserschaft nicht zu viel zumuten (außer am Ende des Buchs) und entscheidet sich für einen anderen inhaltlichen Zugang. Und das ist ja auch in Ordnung so. Man sollte nur mit der entsprechenden Erwartungshaltung auch ans Buch herangehen.

 

Was ich mir gewünscht hätte, wäre noch eine Information dazu, warum sich Linda überhaupt für Hubert verantwortlich fühlt. Wie haben sie sich kennen gelernt? Das bleibt leider eine Leerstelle, die nicht gefüllt wird. Schade! Auch der Spannungsbogen ist nicht sehr stark ausgeprägt. Es passiert nicht viel, was die Handlung vorantreibt. V.a. zu Beginn stagniert die Darstellung etwas und ähnelt sich stark. Die Erzählweise ist also eher ruhig, das sollte man mögen. Ein paar mehr Spielräume zur Interpretation wären ebenfalls noch wünschenswert gewesen. Von mir gibt es 4 Sterne!

Mittwoch, 9. Oktober 2024

Hannig, Theresa - Parts per Million. Gewalt ist eine Option


Was wäre, wenn sich die Klimabewegung radikalisierte?



Endlich mal ein Klima-Thriller, der mich von Anfang bis Ende gefesselt hat! Und noch dazu, ist er sehr nah am Puls der Zeit und wirkt sehr, sehr realistisch. Es handelt sich um ein „near-future-Setting“ mit folgendem Ausgangsszenario: Was wäre, wenn sich die Klimabewegung radikalisierte und zu einer Terrororganisation mutierte, die ihre Interessen mit Gewalt durchsetzen möchte? Eine Vorwarnung aber vorweg: Man sollte auf jeden Fall politisch interessiert sein und sich mit der Klimabewegung beschäftigen wollen. So werden den einzelnen Kapiteln z.B. immer wieder Meldungen aus diversen Medien vorangestellt, in denen die Auswirkungen des Klimawandels in Form der Schilderung von Umweltkatastrophen problematisiert werden. Und man lernt im Laufe der Lektüre verschiedene politische Standpunkte kennen.

 

Das genannte Szenario der Radikalisierung der Klimabewegung wird am Beispiel der Ich-Erzählerin Johanna Stromann durchgespielt, deren negative Charakterentwicklung wir nachvollziehen. Sie ist Autorin, muss sich anfangs selbst mit „Klima-Klebern“ herumschlagen und entwickelt aus dieser Begegnung heraus die Idee, ein Buch über die Klimabewegung zu schreiben. Wir erhalten zu Beginn einen interessanten Einblick in den Entstehungsprozess des Buches und erleben mit, wie es immer mehr Formen annimmt. Johanna nimmt Recherchen auf, besucht Aktivisten und nimmt an Aktionen teil. Dabei lernt sie das kapitalismuskritisch Denken der Bewegung kennen.

 

Johanna fällt es zunehmend schwer, sich sachlich-distanziert zum Geschehen zu verhalten, das sie bei ihren Recherchen zum Buch erlebt. Sie wird durch Reden und Aktionen stark emotionalisiert und beginnt an der Richtigkeit ihrer eigenen bürgerlichen Existenz zu zweifeln. Immer stärker entwickelt sie eine Leidenschaft für den Klima-Aktivismus, engagiert sich immer mehr. Und sie entfremdet sich zusehends von ihrer eigenen Familie. Nach einem traumatischen Erlebnis auf einer Demonstration ändert Johanna ihren Standpunkt gründlich. Sie beginnt am Rechtsstaat zu zweifeln, radikalisiert sich schließlich, gerät immer mehr auf die schiefe Bahn und es liest sich sehr spannend, wie sich Johanna entwickelt. Über allem schwebt stets auch die Frage, wie weit Johanna und die anderen Aktivisten gehen werden.


Interessant ist auch, das Beziehungsgefüge der Ich-Erzählerin näher in den Blick zu nehmen. Sie fühlt sich von ihrem Mann sehr in die Hausfrauenrolle gedrängt. Ihr Mann, der Vollzeit arbeitet und seine Frau bei Entscheidungen oft vor vollendete Tatsachen stellt, nimmt von ihrem Leben als Autorin und ihrem neuesten Buchprojekt kaum Notiz. V.a. die ungleiche Verteilung von Erwerbsarbeit und Pflichten innerhalb der Beziehung wird immer wieder erwähnt und wird zwischen beiden zum Streitthema. Durch die oben erwähnten Recherchen zu ihrem Buch erhält Johanna die Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen und verliert sich nach meinem Verständnis vermutlich auch aus diesem Grund in der Klimabewegung. Später leidet dann die Familie unter dem Radikalisierungsprozess von Johanna, die besessen ihr Buchprojekt verfolgt und immer extremere Maßnahmen zur Durchsetzung von Interessen ergreift. Fazit: Das Buch hat mich komplett überzeugt.