Gelungener
ISS-Astronauten-Thriller
Was
wäre, wenn es auf der ISS zu einer Katastrophe kommt und die Station in der
Erdatmosphäre zu verglühen droht? Genau darum geht es in dem Astronauten-Thriller "Der Vorfall" von Joshua Tree. Während eines Kommunikationsausfalls kommt es zu einem Vorfall
auf der ISS. Im Kontrollraum stellt man fest, dass ein Modul abgesprengt worden
ist und die Sojus-Kapsel fehlt. Darüber hinaus verliert die Station an Höhe und
droht abzustürzen. Ein furioser Auftakt!
Danach
folgt ein Schwenk zur ESA-Psychologin Amina Young, die die auf der Erde
angekommenen Besatzungsmitglieder der ISS in Moskau (dort werden zwei
Astronauten festgehalten) verhören soll. Sie soll die Umstände des Vorfalls
genauer untersuchen und herausbekommen, was genau an Bord der Raumstation
passiert ist. Folgende Fragen stellte ich mir zu Beginn: Was hat zum Vorkommnis
auf der ISS geführt? Gab es dort einen Unfall? Wollten sich die Astronauten in
Sicherheit bringen? Wird man die ISS wieder unter Kontrolle bekommen?
Aminas
Aufgabe als ESA-Repräsentation besteht darin, die überlebenden Astronauten zu
vernehmen und politisch zu vermitteln. Denn ein russischer Nationalheld, Oleg
Rashkin, ist an Bord der ISS ums Leben gekommen. Was ist mit ihm passiert? Tragen
Ehrmann und Michaels eine Verantwortung für seinen Tod? Was gut zum Ausdruck
kommt, ist, welchen politische „Sprengstoff“ diese gescheiterte Mission auf der
ISS in sich birgt. Angesichts der Katastrophe in der Erdumlaufbahn sind die USA
und Russland (bzw. stellvertretend für die beiden Länder, ihre Behörden NASA
und Roskosmos) tief zerstritten. Die Verantwortlichen beider Länder schieben
sich gegenseitig die Verantwortung für das Geschehen zu. Ein interessanter Machtkampf,
der deutlich aktuelle Bezüge aufweist. Sehr gelungen!
Das
Vehör mit den Astronauten ist interessant und spannend gestaltet worden. Amina
versucht durch verschiedenen Verhörtechniken, Informationen zu erhalten und die
Ereignisse auf der ISS zu rekonstruieren. Die amerikanische Astronautin, die
überlebt hat, erweist sich als misstrauisch und verschlossen. Amina gewinnt
immer mehr den Eindruck, dass beide Interviewten nicht die Wahrheit sagen und
etwas verschweigen. Nebenbei erfährt man übrigens einige interessante Fakten
zur ISS und zum Leben an Bord der Station. Auch die zunehmende Privatisierung
der Raumfahrt wird kritisch beleuchtet.
In
eingeschobenen Rückblicken erfahren wir mehr über das Zusammenleben der Crew.
Nach und nach wird so vermittelt, was sich im Vorfeld der Katastrophe
zugetragen hat. Als belebendes Element tritt eine „Whistlebloggerin“ bzw.
Hackerin auf, die Amina mit wichtigen Infos und Material versorgt. Amina kann mit diesen Impulsen von außen ihre
Verhöre geschickt führen und in neue Richtungen lenken. Das ist gut gemacht! Was
mir noch positiv aufgefallen ist: Es gibt in dem Buch kaum Längen, die Spannung
ist hoch. Und es wird abwechslungsreich erzählt. Dafür sorgen die passend
platzierten und gut getimten Szenenwechsel in Form von Rückblenden.
Weiterhin
gelingt es Tree dadurch Druck entstehen zu lassen, dass die ISS abzustürzen
droht. Dieser Zeitdruck wirkt sich auf die Verhöre aus. Denn eine
Rettungsmission für die Raumstation will man erst dann starten, wenn geklärt
ist, was an Bord genau passiert ist. Auf Amina lastet also ein hoher Erwartungsdruck,
sie muss sich beeilen, den Vorfall aufzuklären. Klasse arrangiert! Und noch
etwas wird deutlich, was ich loben möchte. Das Leben auf der ISS wird sehr
authentisch, detailliert und kenntnisreich geschildert (z.B. die Durchführung
von Außenbordeinsätzen). Hier wird nach meinem Empfinden eine sehr exakte
Recherche des Autors deutlich. Das merkt man einfach.
Es
gibt nur Kleinigkeiten, die ich mir noch für ein perfektes Leseerlebnis
gewünscht hätte. So hätte ich noch mit einem Handlungsstrang gerechnet, in dem
die Rettungsmission für die ISS präsentiert wird (vielleicht hätte das aber
auch zu einer inhaltlichen Überfrachtung geführt). Stattdessen wird aber mehr
Wert auf die Verhöre und die Rückblenden gelegt. Zudem endet das Buch nach
meinem Gefühl recht unspektakulär. Es gibt keine überraschenden Wendungen, WOW-
oder AHA-Momente. Das fand ich etwas schade. So komme ich auf 4 Sterne.