Interessanter Genre-Mix
Der Ich-Erzählerin kommt die
Aufgabe zu, Commander Graham Gore (1809-1847) von der Royal Navy zu betreuen. Er
nahm an der tragischen Franklin-Expedition in die Arktis teil (Stichwort für
weitere Recherchen: HMS Erebus), bei der er gestorben wäre, wenn ihn der
Transfer in die Gegenwart nicht gerettet hätte. Zusammen mit dem Begleitschiff
HMS Terror wollte man eine Nordwestpassage durch die kanadische Arktis
ausfindig machen. In eingeschobenen Rückblicken zu Beginn jedes Kapitels wird
geschildert, was Gore und der Besatzung beider Schiffe damals widerfahren sein
könnte. Erfreulicherweise werden im Nachwort zudem noch einige wichtige
historische Hintergrundinformationen zu dieser Mission integriert, die ich mit
Interesse gelesen habe. Der reale historische Hintergrund wertet den Inhalt des
Buchs in meinen Augen noch einmal auf.
Erwartungsgemäß hat Graham Gore
einige geschichtliche Entwicklungen verpasst, als er sich im 21. Jh.
wiederfindet, und tut sich anfangs etwas schwer mit den Veränderungen. Er muss
viele neue Informationen verarbeiten und „verdauen“. Vieles nimmt er mit
Erstaunen zur Kenntnis. Um sicherzustellen, dass er keine negativen Folgen
durch die Zeitreise erfahren hat, wird der Commander heimlich durch das
Ministerium überwacht. Und die Begegnung
zwischen dem Zeitreisenden und seiner „Brücke“ wird humorvoll beschrieben.
Allerdings erlebt Graham auch
keinen „Kulturschock“ und ist durchaus in der Lage, sich an seine neue Umgebung
anzupassen. Schon bald kann er Computer bedienen und Streaming-Dienste nutzen. Für
mich war es letztlich erstaunlich, wie „integrationswillig“ er ist. Da hätte
ich mir schon ein paar Auseinandersetzungen oder Schwierigkeiten mehr
gewünscht. Gore stellt insgesamt wenig in Frage, eckt wenig an. Sein
Integrationsprozess verläuft (zu?) reibungslos. Ich hätte mir darüber hinaus
noch mehr Passagen gewünscht, in denen geschildert wird, wie Graham Dinge aus
dem 21. Jh. zum ersten Mal erlebt. Da wurde für mich etwas Potential
verschenkt.
Im weiteren Handlungsverlauf kommt es zu einer Annäherung zwischen Gore und seiner „Brücke“. Das verleiht der Handlung etwas Schwung. Dabei ist es amüsant zu lesen, in welch veralteten Rollenvorstellungen der Commander denkt und wie er sich gegenüber seiner Aufpasserin verhält. Die Liebe zwischen beiden Figuren entwickelt sich äußerst zaghaft-zurückhaltend und wird zunächst nur dezent entfaltet. Sie intensiviert sich aber mit der Zeit (jedoch sie nimmt weniger Raum ein, als ich anfangs vermutet hatte). Später zieht dann auch die Spannung plötzlich an, als eine unbekannte Bedrohung das Leben der Zeitreisenden bedroht. Dann entwickelt sich auf einmal eine Art Spionage-Thriller. Und die Auflösung ist gelungen. Anders ausgedrückt: Dieses Buch bietet unheimlich viel und ist ein interessanter Genre-Mix. Durch den historischen Hintergrund ähnelt das Buch einem historischen Roman, aber es weist auch Elemente von Science-Fiction, von einem Thriller und von einem Liebesroman auf. Eine klare Genre-Einordnung fällt hier schwer. Die zentrale Frage ist, ob man sich auf einen solchen Mix einlassen kann oder ob sich die Leserinnen und Leser lieber gewünscht hätten, dass die Autorin eine entschiedenere Richtung einschlägt. Das muss jede und jeder für sich selbst beantworten. Mir hat diese Mischung jedenfalls gut gefallen. Ich gebe 4 Sterne!
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