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Freitag, 24. November 2023

Levermann, Anders - Die Faltung der Welt


Im Oktober erschien im Ullstein-Verlag das Buch „Die Faltung der Welt“ von Prof. Anders Levermann, Leiter der Komplexitätsforschung am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Bisher wurde das Buch recht breit und vor allem unkritisch besprochen, z.B. hier:






Hier folgt nun eine kritische Diskussion von Dr. Bernhard Weßling  als Gastbeitrag auf meinem Blog. Für weitere Informationen zum Autor vgl. www.bernhard-wessling.com






Gastbeitrag von Dr. Bernhard Weßling (Rezension)


Das Buch des Potsdamer Klimaforschers und Leiters der Komplexitätsforschung, Prof. Levermann, enthält viele interessante und diskussionswerte Vorschläge dazu, „wie die Wissenschaft helfen kann, dem Wachstumsdilemma und der Klimakrise zu entkommen“ (Untertitel des Buches). Der Kerngedanke ist der Theorie dynamischer Systeme entlehnt und beruht auf einem mathematischen Operator, dessen „anschauliche“ Beschreibung für Nicht-Mathematiker schon vollkommen unanschaulich ist. Aber qualitativ betrachtet ist es gut verständlich: Auch Vögel sind vollkommen frei, obwohl sie nicht die Lufthülle der Erde verlassen können, und die allermeisten Vögel können nicht tauchen. Sie sind also Begrenzungen unterworfen, dennoch haben sie unendliche Möglichkeiten der Bewegung und Entwicklung.


Levermann schlägt 5 Grenzen vor (wobei 2 Grenzen m. E. fehlen: „Wildnisvernichtung stoppen“ und „Stickstoff/Phosphordüngung auf Null setzen“):

1. Keinen fossilen Kohlenstoff mehr verbrennen

2. Kein weiterer Rohstoffabbau mehr

3. Begrenzung der Unternehmensgröße

4. Begrenzung des Erbes

5. Begrenzung des Einkommensunterschieds.


Die Grenzen 3 - 5 sind wirtschaftliche Grenzen, die politisch nicht einfach durchsetzbar, aber so wie sie beschrieben werden, sehr interessant sind und realistisch machbar. Z. B.: Der Autor schlägt vor, mit steigenden Umsätzen höhere Steuersätze für Gewinne zu verlangen, bis es aus steuerlichen Gründen sinnvoll ist, das Unternehmen aufzuspalten. Somit ist auch der Drang, andere Unternehmen aufzukaufen, deutlich reduziert. Das eine Unternehmen könnte Zulieferer des anderen sein, sie könnten auch Konkurrenten sein, beides ist für die Entwicklung der Wirtschaft positiv.


Grenze 1 erscheint auch realistisch zu sein, wobei die Wasserkraft als problematisch angesehen werden muss (Flussökosysteme werden zerstört, Fischwanderung verhindert; fehlender Nachschub für Flussmündungsdeltas, die vom Meer nach und nach abgebaut werden, wertvolle Ökosysteme gehen verloren).


Grenze 2 erscheint mir gänzlich unrealistisch zu sein. Natürlich weiß ich selbst nicht, wie wir mit der natürlichen Begrenzung der Rohstoffe auf der Erde umgehen können. Aber vor allem die konkreten Vorschläge des Autors zu dieser Grenzsetzung sind komplett unrealistisch: Vollautomatisch arbeitende Recyclingfabriken sollen dann, wenn die Strommenge aus regenerativer Energiewandlung den Bedarf in privaten Haushalten, Infrastruktur, Verkehr und Industrie übersteigt, arbeiten, alles aufarbeiten und alle Rohstoffe zurückgewinnen. Levermann propagiert „100%iges Recycling“, ohne Einschränkung.


Diesem schön klingenden Traum steht die Entropie [1] entgegen: Sämtliche Produkte, die wir nutzen, bestehen aus mehreren Rohstoffen. Das heißt, von einem ursprünglich niedrigen Entropielevel ausgehend (als die Rohstoffe einigermaßen konzentriert in der Erde lagerten und mit Entropieerzeugung abgebaut wurden) sind verschiedene Stoffe in Fabriken zusammengeführt, mit Energieaufwand verarbeitet und dadurch in eine nützliche Struktur (= niedrige Entropie) gebracht worden. Vom Abbau bis zum Produktversand entstanden Abfälle: Entropiemaximumsanzeiger. Und dann wurden die Produkte weltweit verteilt. Beim Gebrauch unterliegen sie ganz normalen Abnutzungserscheinungen – Entropieanstieg!

- Es gibt Abrieb: wo landet der, wie sammelt man ihn auf, Abrieb, der überall verteilt rumliegt?

- Schmieröl wird verbraucht, wo landet das, wie gewinnt man es zurück?

- Metalle korrodieren (wie will man den Rost auffangen und wieder zurückverwandeln zum Metall?), zumal nach Levermann mehr Metalle verwendet werden sollen, weil „Plastik komplett ersetzt“ werden soll; Korrosion verursacht enormen Rohstoffbedarf! [2]

- Infolgedessen und wegen Verschleiß versagen die Produkte mechanisch oder elektrisch.

- Kleidung wird löchrig, zerreißt.

- Wir waschen Kleidung, wie ohne Waschmittel, die wir nicht wieder aus dem Wasser herausbekommen würden? Wie ohne Bewegung in der Waschmaschine, die die Kleidung ebenfalls abnutzt?

- Wir waschen uns selbst nur noch ohne Seife, putzen uns die Zähne ohne Zahnpasta? (denn wie wollen wir die Paste in die Recyclingfabrik bringen?) Die Zahnbürsten haben ebenfalls Abrieb, ganz abgesehen von der Bakterienkolonie, die sich darauf bildet.


100%iges Recycling erfordert nahezu unendlich viel Energie. Hinzu kommt: Schon allein der Aufbau einer Energieversorgung, deren Überschuss 100%iges Recycling betreiben soll, scheitert an Verfügbarkeit von Rohstoffen und Flächen dafür und würde zu einer vollständigen Zerstörung der Biodiversität führen – ein sichtbares Zeichen von Entropieverschmutzung der Erde.


Prof. Levermann ficht das nicht an: „Die Menge an Sonnenenergie ist unendlich.“ Nun, das ist einfach falsch, sogar auf der Sonne nicht, aber erst recht, wenn man sich die Erde anschaut. Es ist eine Menge da, aber die wird auch für die Biosphäre und für Wind und Wetter und Wasserkreislauf benötigt. Dann: „Wind- und Sonnenergie … umgehen … das Problem des endlichen Wirkungsgrads.“ Wie bitte? Ab wann erzeugen diese Anlagen mehr Energie, als in ihre Herstellung hineingesteckt wurde? Wie lange hält eine Windkraftanlage? Wie lange liefert eine Solarzelle Strom?


Dies sind nur einige meiner Kritikpunkte [3]. Levermann hat Entropie nicht verstanden. Er ist theoretischer Physiker, die Faltung ist ein schönes, aber rein mathematisches Gebilde. Es sei deshalb abschließend folgendes angemerkt:

„Nature is under no obligation to conform to our mathematical ideas – even the most brilliant ones“ (Avi Loeb in Scientific American, 9. Juni 2020; der Autor ist Astronomieprofessor in Harvard und war u. a. Gründungsdirektor der Harvard’s Black Hole Initiative).


[1] einfach verständliche Einführung in Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik und Entropie: B. Weßling „Was für ein Zufall! Über Unvorhersehbarkeit, Komplexität und das Wesen der Zeit“ (vgl. www.bernhard-wessling.com)

[2] Industrieländer wenden jährlich 4% ihres Bruttosozialprodukts wegen Korrosion auf, entsprechend gigantisch ist der Rohstoffbedarf dafür, gleichrangig mit Verschleiß, vgl. https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-658-19892-3_12, beides direkte Entropieanzeiger

[3] https://www.bernhard-wessling.com/wp-content/uploads/2023/11/Gedanken-Kommentare-zu-Faltung-der-Welt.pdf

 


Dr. Bernhard Weßling, Jersbek

Macintyre, Ben - Der Spion und der Verräter




4 von 5 Sternen




Einblick in eine geheime Parallelwelt


Normalerweise sind Agenten-Geschichten nicht so mein bevorzugtes Terrain, v.a. wenn es um Thriller geht. Doch bei „Der Spion und der Verräter“ von Ben Macintyre habe ich eine Ausnahme gemacht. Warum? Weil es um eine „echte“ Geheimdienstgeschichte aus der Zeit des Kalten Kriegs geht, die vom Autor in mühevoller Detailarbeit nachgezeichnet worden ist. Macintyre hat innerhalb von drei Jahren mit Oleg Gordijewski 20 Interviews geführt und dabei 100 Stunden an Aufnahmen gesammelt und ausgewertet. Und auch mit allen MI6-Mitarbeitern, die an dem Fall beteiligt waren, konnte er sprechen. Zusätzliche erhielt er Unterstützung durch ehemalige KGB- und CIA-Beamte. Lediglich ein Zugang zu den Akten des Intelligence Service blieb Macintyre verwehrt (vgl. dazu die Danksagungen, S. 475). Und genau diese Recherchearbeit macht für mich den Reiz dieses Buchs aus. Wir erhalten als Leser:in so die Möglichkeit, am Beispiel der Geschichte des Doppelagenten Oleg Gordijewski einen Einblick in eine geheime Parallelwelt von Geheimdiensten zu werfen und lernen dabei noch etwas über den Verlauf des Kalten Krieges kennen, das im Verborgenen ablief, unbemerkt von der normalen Bevölkerung.

 

Was ich besonders interessant fand, war die Darstellung des Innenlebens des KGB. So findet man zu Beginn einige Passagen, in denen es um die Rekrutierungspraxis und die Arten der Spionage im Ausland geht. So gibt es z.B. legale und „illegale“ Spione: „Die ersten arbeiteten unter offizieller Tarnung als Angehörige des sowjetischen diplomatischen oder konsularischen Personals (…) im Gegensatz dazu hatte ein ‚illegaler Spion‘ (…) keinen offiziellen Status, reiste normalerweise unter falschem Namen mit falschen Papieren und fügte sich unauffällig und unsichtbar in das jeweilige Land ein“ (S. 23). Auch das Spionage-Instrument der Observation wird am Beispiel von Gordijewski sehr anschaulich und nachvollziehbar deutlich.

 

Den roten Faden des Werks bildet die Biographie Gordijewskis. Wir verfolgen als Leser:in mit, wie er vom KGB rekrutiert wird, und erfahren, dass es sein Ziel ist, ins Ausland zu gelangen. 1965 gelangte er dann z.B. nach Dänemark, wo er als Konsularbeamter arbeitete. Es wird gut deutlich, dass Oleg die Freiheit in Dänemark genießt und es allmählich zu einer Entfremdung von der Sowjetunion kommt. Insbesondere die Geschehnisse um den Prager Frühling 1968 ließen ihn an seiner Heimat zweifeln und führten letztlich zu einem Bruch mit dem kommunistischen System. Er entschließt sich zu einem nach seinem Empfinden gerechten Verrat, es kommt zur Anwerbung durch den MI6 und Gordijewski entschließt sich, zwei geheime Leben parallel zu führen. 1982 wird er dann als KGB-Mann in London eingesetzt. Und im Verlauf des Buchs wird klar, welche Leistungen Oleg vollbracht hat. Er sammelte wichtige Informationen, die er dem Westen zukommen ließ. Damit konnte er teilweise krisenhafte Konfrontationen zwischen den Großmächten verhindern (vgl. dazu das Projekt ABLE ARCHER, S. 247 ff.).

 

Der Erzählstil war nach meinem Empfinden überwiegend sachlich und gerade zu Beginn nicht sehr packend. Die Informationsdichte war stellenweise immens. Ich musste mich stellenweise ganz schön durch den Text „durchackern“, wenn ich jeden Fakt gedanklich aufnehmen wollte. Macintrye ist ein unglaublich detailversessener Autor. Das ist fordernd. Darauf sollte man sich im Vorfeld einstellen. Gleichzeitig beweist es die unglaublich exakte Recherche des Autors. Erst gegen Ende des Buchs, als es um die drohende Enttarnung Gordijewskis geht und er vom MI6 aus Moskau gerettet werden muss, wird es mitreißend und spannend. Bei der Schilderung dieser Momente wird die Anspannung gut spürbar, die Oleg durchlebt haben muss. Er muss in einer großen Notsituation gewesen sein, wenn er sogar seine Frau und die beiden Töchter in Russland zurückließ.

 

Was ich auch gelungen finde: Der Autor widmet sich beiläufig der Frage, warum jemand überhaupt spioniert und die eigene Sicherheit aufs Spiel setzt. Was für ein Typ Mensch muss man sein, um ein solches Risiko einzugehen? Wie ist man gestrickt, wenn man ein Doppelleben führt und sogar seiner Ehefrau nicht verrät, dass man ein Spion ist? Am Beispiel von Gordijewski kommt die Mentalität eines Agenten gut zum Ausdruck, wie ich finde. Oleg begibt sich immer wieder in Gefahr, riskiert sein Leben, bleibt trotz aller Observation und Bedrohung nervenstark. Sein Agieren ist oft heikel. Dennoch fiel es mir schwer, mich in ein solches Leben hineinzudenken und es zu verstehen. Zu fremdartig ist diese Welt. Für mich bleibt es rätselhaft, wie jemand sich dazu entschließen kann, ein solches Dasein zu führen, konfrontiert mit ständigem Misstrauen und selbst unaufrichtig gegenüber anderen. Noch dazu das ständige Risiko, entdeckt zu werden, dem Gefühl der Überwachung fortlaufend ausgesetzt zu sein.

 

Was ebenfalls deutlich wird: Die Überwachung ist allgegenwärtig, auch innerhalb des KGB selbst. Unvorstellbar, wie das Lebensgefühl in der Sowjetunion ausgesehen haben mag. 280 Mio. Menschen innerhalb schwer bewachter Grenzen mit über 1 Mio. KGB-Offizieren und Informanten als Aufpasser (vgl. S. 125). Und hinzu kommt das Gefühl von Angst und von Paranoia, was sich vor allem an der Reaktion auf das NATO-Manöver (Codename ABLE ARCHER) von 1983 zeigt. Noch heute findet man dieses Gefühl des Misstrauens gegenüber dem Westen ja in der russischen Propaganda wieder, wenn man Reden des russischen Präsidenten hört. Es zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Putin bedient damit heute wieder ein Gefühl, das noch aus der Zeit des Kalten Kriegs stammt und im kollektiven Gedächtnis der Russen gespeichert ist. Gleichzeitig forderte das „Muskelspiel“ der NATO die Sowjetunion auch immer wieder heraus und ängstigte sie. Wie lässt sich dieser Teufelskreis nur durchbrechen?

 

Ein kleiner zusätzlicher Bonus sind 48 kleinformatige schwarz-weiße Fotos aus dem Leben von Oleg Gordijewski, die an zwei Stellen im Buch gebündelt präsentiert werden. So hat man zu den Namen aus dem Buch auch die dazugehörigen Gesichter. Das fand ich sehr hilfreich. Auch das Nachwort ist gelungen. Darin wird auf die unterschiedliche Wahrnehmung von Gordijewski hingewiesen. Während er in Großbritannien große Wertschätzung erfährt und zahlreiche Ehrungen erhielt, gilt er in Russland vielen noch als Hassfigur, als ein Verräter aus den eigenen Reihen. Sein Leben muss bis heute ständig geschützt werden, weil ein Anschlag auf sein Leben nicht ausgeschlossen ist. Ich gebe diesem Buch 4 Sterne. Warum nicht 5 Sterne? Weil es mir zu Beginn dann doch stellenweise zu kompakt und dicht geschrieben war. Die Lektüre war dann manchmal mehr „Arbeit“ als Vergnügen.

Freitag, 17. November 2023

Fields, Helen - The Institution




3 von 5 Sternen



Klischeehaft und unrealistisch


Puh, der Einstieg in diesen Thriller ist heftig. Das muss ich zugeben. Ein richtiger Schock-Moment, der unter die Haut geht. Eine Krankenschwester wird ermordet aufgefunden. An ihr ist ein bestialischer „Fötusraub“ verübt worden. Grauenhaft! Weitere Zutaten versprechen auf den ersten Blick einen packenden Thriller: Da ist das psychologische Moment. Die Handlung spielt in einem geschlossenen Raum, einem Hochsicherheitsgefängnis für psychisch kranke Verbrecher, und die Ermittlerin Dr. Connie Woolwine ist eine forensische Psychologin mit dem ungeheuren Talent, sich in die Psyche anderer hineinzuversetzen. Und da ist der Zeitdruck: Das Baby verschwindet spurlos und kann ohne medizinische Versorgung nicht lange überleben. Das ganze Setting klingt also vielversprechend und ich bin mit einer großen Erwartungshaltung an das Buch herangegangen. Nach der Lektüre war ich dann aber doch ernüchtert und ich will gern begründen, warum.

 

Doch zunächst zum Positiven. Die stärksten Stellen im Buch sind meiner Ansicht nach die, als Connie sich ins direkte Gespräch mit den Insassen begibt. Sie ist in der Lage, ihr Gegenüber zu lesen und die Dialoge sind als Psychospiele angelegt. Das hat mir richtig gut gefallen! Davon hätte es nach meinem Geschmack mehr geben können, daraus hätte man auch noch mehr machen können. Doch der Rest des Thrillers hat mich (leider, leider) nicht wirklich gepackt und mitgerissen. Nun also zum Negativen: Die Handlung empfand ich einfach als zu konstruiert und unrealistisch. Die Spannung und das Tempo waren nach meinem Empfinden durchschnittlich. Das Buch hat zwischendurch schon seine Längen. Auch spielte die Suche nach dem Baby kaum eine tragende Rolle und rückte für mich zu sehr in den Hintergrund. Von Zeitdruck, der sich in irgendeiner Form auf die Handlung auswirkt, war wenig zu spüren.

 

Die psychologische Seite ist einfach zu klischeehaft. Es wird v.a. ordentlich sediert und fixiert. Ein wirklichkeitsnahes Bild von psychiatrischer Strafanstalt darf man nicht erwarten. Es geht der Autorin mehr um den dramatisierenden Effekt als um Realismus. Schade, schade! Da sind mir andere Thriller, die sich einer solchen Thematik anders annähern deutlich lieber (vgl. dazu beispielsweise meine erst kürzlich veröffentlichte Rezension zu „Das Nachthaus“ von Nesbo). Ich wünsche mir als Leser, dass die psychologische Seite der Figuren nachvollziehbar gestaltet zum Ausdruck kommt (so wie z.B. auch bei Judith Merchant). Die psychologische Darstellung sollte greifbar, anschaulich und nachfühlbar sein. Eine deskriptiv-aufgelistete Variante mit Krankheitssymptomen, die wild miteinander und in sich überbietender Form vermengt werden, überzeugt mich einfach nicht. Und eine psychologische Profilerin, die ihre Schlussfolgerungen vorschnell zieht und selbst als alternativlos ansieht, ist nicht realistisch. Ich hatte deutlich mehr erwartet und vergebe 3 Sterne.

Mittwoch, 15. November 2023

Nesbo, Jo - Das Nachthaus




5 von 5 Sternen



Wahn und Wirklichkeit


Thriller, die mich von Anfang bis Ende begeistern können und richtig packen, gibt es leider nur selten. Immer wieder freue ich mich, wenn ich ein Werk in den Händen halte, das mich vollkommen überzeugt. Und der neue Roman „Das Nachthaus“ von Jo Nesbo, der v.a. durch seine Reihe um Harry Hole bekannt geworden ist, gehört definitiv dazu. Allerdings warne ich vor: Der Thriller besticht in meinen Augen durch seine Irritationseffekte und dem Spiel von Wahn und Wirklichkeit. Man fragt sich ständig, was ist eingebildet, was ist real. Auf so etwas sollte man sich thematisch einlassen wollen. Es sagt bestimmt nicht jedem/jeder zu. Mir hat die Lektüre aber richtig Spaß gemacht, weil ich viele Motive entdeckt habe (z.B. das Traummotiv, das Motiv des künstlichen Menschen, die Thematisierung der Krankheit „Schizophrenie“), die bis in die Epoche der Romantik zurückreichen und weltliterarische Bedeutung haben (hier sei z.B. ein Verweis auf E.T.A Hoffmanns Werk „Der Sandmann“ gestattet, das ich in diesem Zusammenhang wärmstens empfehlen kann). Auch Anspielungen auf Kafkas „Verwandlung“ findet man. Klasse! Das hat das Buch von Nesbo noch zusätzlich einmal aufgewertet.

 

Schon auf den ersten Seiten schafft es der Autor, den Leser/ die Leserin maximal zu irritieren. Zwei Freunde spielen zusammen am Fluss und begehen einen Telefonstreich. Und dann wird einer der Jungen vom Telefon aufgefressen (ja, das ist kein Autokorrektur-Fehler) und verschwindet spurlos. Das ist zumindest das, was der Ich-Erzähler Richard der Polizei und seinen Eltern erzählt. Und als Leser fragt man sich natürlich zwangsläufig: Bildet sich Richard das ein? Was ist tatsächlich passiert? Steht Richard womöglich unter Schock, so dass ihm die Phantasie einen Streich spielt? Oder haben wir es etwas mit einem Horror-Roman zu tun, wo Übersinnliches als Handlungselement auftritt? Die Polizei vernimmt Richard und glaubt, er habe etwas mit dem Verschwinden seines Freundes zu tun. Natürlich glaubt ihm niemand seine Geschichte. Wahn und Wirklichkeit vermischen sich. Und ich war sehr auf die Auflösung gespannt, konnte mir aber aufgrund meiner Lesesozialisation aber schon früh denken, in welche Richtung sich das Werk entwickelt (was meine Lesefreude aber nicht getrübt hat, weil ich auf die Umsetzung des Themas gespannt war).

 

Geschickt ist natürlich auch die erzählerische Gestaltung. Da wir an Richards Perspektive gebunden sind und nicht von außen auf die Geschehnisse schauen können, können wir seine Wahrnehmung nicht überprüfen. Auch die Gespräche mit anderen Figuren erlauben keine Rückschlüsse darüber, was echt und was eingebildet ist. Es machte auf mich den Eindruck, als sei Richard in seiner eigenen Gedankenwelt gefangen und wir als Leser:in mit ihm. Und immer wenn man als Leser:in das Gefühl hat, das sich die Situation doch wieder normalisiert und womöglich endlich aufgeklärt wird, wird es doch wieder brüchig und man beginnt an den geschilderten Ereignisse zu zweifeln, weil man Richards Wahrnehmungen nicht vertraut. Man wird beim Lesen ständig verunsichert. Großartig! Und noch etwas, das hervorragend arrangiert wurde: Es gibt Wendungen, die die Erwartungshaltung der Leser noch einmal komplett durchbrechen und auf den Kopf stellen. Verschiedene Erzählebenen kommen plötzlich ins Spiel. Und ich wünschte mir einfach irgendwann nur noch, dass die Handlung irgendwie sinnvoll aufgelöst wird. Genial!

 

Und ich kann beruhigen: Die Auflösung am Ende lässt keine Wünsche offen. Alles ergibt Sinn und ist durchdacht, logisch und in sich schlüssig. Bitte mehr solcher Bücher! Und begleitend zur Lektüre kann man auch wunderbar über das Thema „Realität“ nachdenken. Was ist Realität? Ist sie überhaupt objektiv zu erfassen? Ist sie nicht eine individuelle Konstruktionsleistung des Gehirns? Und wer kann von sich eigentlich behaupten, dass die eigene Konstruktion von Wirklichkeit überhaupt stimmt. Von mir gibt es für dieses außergewöhnlich gelungene Werk 5 Sterne!


Sonntag, 12. November 2023

Schweizer, Lotte - Das Vampirtier




3 von 5 Sternen



Passt thematisch zu Halloween


Auf der Suche nach einem Kinderbuch, das einen kindgerechten Gruselfaktor aufweist und in dem Halloween thematisiert wird? Dann könnte „Das Vampirtier“ von Lotte Schweizer, illustriert von Alexandra Helm, gut passen. Die Autorin kennt man auch von der Reihe „Die Detektei für magisches Unwesen“. Und die Illustratorin hat ein erfolgreiches Studium an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach absolviert.  

 

Gelungen ist, dass bei der Lektüre an einigen Stellen immer wieder Neugier beim Nachwuchs erzeugt wird. Die Spannungsbögen werden immer wieder gut in die Länge gezogen und an passenden Stellen unterbrochen, so dass die jungen Zuhörer:innen auf die Auflösungen gespannt sind und selbst schon antizipieren, in welche Richtung sich die Handlung entwickeln könnte (zu Beginn z.B. das Rätselraten um das Geburtstagsgeschenk). Das ist gut arrangiert!

 

An einer Stelle im Buch wird es sogar richtig spannend und gruselig, als das Vampirtier wegläuft und die Kinder in einem dunklen Park nach ihm suchen müssen und ein einsames, verlassenes Spukhaus finden. Allerdings weist der Rest des Buches einen eher amüsanten Erzählton auf. Die gruselige Stimmung entsteht also nur an dieser einen Textstelle in der Mitte des Buches. Das fanden wir etwas schade. Mir war es dann gegen Ende des Buchs stellenweise sogar zu albern. Vielleicht wäre es besser gewesen, sich für einen Erzählton zu entscheiden, statt zu viel Abwechslung hineinzubringen?

 

Eine weitere exzentrische Figur, die teils Empörung beim Nachwuchs hervorruft, ist Frau Meise, die strenge Vermieterin. Sie ist sehr herrisch und versteht keinen Spaß. Am Ende bekommt sie eine gerechte Strafe für ihr kinderunfreundliches Verhalten. Da war ich etwas hin- und hergerissen, wie ich das finden soll. Für mich fällt die Rache an Frau Meise doch etwas zu heftig aus. Sehr versöhnlich ist das Ende jedenfalls nicht.

 

Es gibt aber auch ein paar Sachen, die mich aus Elternsicht gestört haben, die ich nicht unerwähnt lassen will. Zu Beginn kommt der Vater nicht gut weg. Er kann nicht einmal eine Tomatensauce kochen und es heißt weiter, dass ihm sogar die gekochten Eier anbrennen würden. Hier wird ein typisches Männer-Klischee bedient. Muss das sein? Darüber hinaus war das Bild auf S. 68-69 etwas ungeschickt platziert. Es verrät bereits, was auf der Parkbank zu sehen ist, noch bevor dies aus dem Text hervorgeht. Das angedachte Rätsel entfaltet dadurch nicht die gewünschte Wirkung, weil die Auflösung bereits vorweg genommen wird. Schade! Auch gab es ein paar Stellen, die auch schon von anderen Rezensent:innen als „unrund“ bezeichnet worden sind. 1. Das Vampirtier spielt keine so tragende Rolle, wie es der Titel im Vorfeld erwarten ließ. Es rückt im weiteren Handlungsverlauf zu sehr in den Hintergrund 2. Die Verkaufsanzeige ist arg unrealistisch konzipiert worden (S. 31), 3. Die Erklärung über den Verlust des Vampirtiers ist ebenfalls unlogisch geraten (S. 83). Grundsätzlich ist auch die inhaltliche Schwerpunktsetzung ebenfalls nicht richtig „rund“. Vor allem gegen Ende des Buchs passiert viel, teils wirkt es auf mich überfrachtet (Halloween wird gefeiert, die Tomaten von Frau Meise werden von Preisrichtern bewertet, die Familie sucht eine neue Wohnung). Hier wäre in meinen Augen weniger mehr gewesen. Ich komme auf 3 Sterne!


Mittwoch, 8. November 2023

Eschbach, Andreas - Der Letzte seiner Art






Ein Cyborg in Frührente


Was wäre, wenn man dich im Rahmen eines militärischen Projekts zu einem Cyborg umfunktioniert hätte, dich aber nicht mehr benötigt? Stell dir vor, wie es wäre, wenn die Implantate nach und nach ihren Geist aufgeben und dir deine Lebensqualität nehmen, aber du mit niemandem darüber sprechen dürftest. Und was wäre, wenn dich jemand ausfindig machen wollte, der mehr über das Geheimprojekt erfahren möchte? Um dieses ungewöhnliche Setting geht es in dem Thriller „Der Letzte seiner Art“ (2003) von Andreas Eschbach. Ungewöhnlich ist es, weil der Cyborg Duane Fitzgerald als gebrochene Figur gezeigt wird, der mit seinem Schicksal hadert und unter den Spätwirkungen des Eingriffs leidet. Und über allem schwebt auch immer die Frage, warum sich Duane überhaupt darauf eingelassen hat, zu einer Mensch-Maschine zu mutieren. Wie konnte er sich dazu entschließen, seine persönliche Freiheit aufzugeben? Diese Fragen verleihen dem Inhalt eine Tiefe, die ich im Vorfeld gar nicht so erwartet hätte.

 

Der Ich-Erzähler Duane lebt zurückgezogen, pflegt wenig Kontakte und führt ein unauffälliges, fast tristes Dasein als Frührentner. Doch eines Tages taucht in dem kleinen irischen Fischerdorf, in dem Duane lebt, ein Mann auf, der nach ihm sucht. Und als Leser fragt man sich, wer ist der Verfolger? Was will er von Duane? Diese Fragen haben bei mir Neugier erregt. Im weiteren Handlungsverlauf erfahren wir durch Rückblicke auch Hintergründe über das gewissenlose Experiment, an dem Duane teilgenommen hat. Moralische Fragen werden ebenfalls thematisiert. Und es wird immer klarer, dass Duane seiner Würde beraubt worden ist. Wird er sich endlich wehren und seine Rechte einfordern?

 

Insgesamt ist der Thriller wendungsreich, ich wurde an einigen Stellen von unvorhersehbaren Ereignissen überrascht. Und ich konnte lange Zeit nicht antizipieren, in welche Richtung die Handlung sich entwickelt. Das hat mir gut gefallen. Und das Finale war emotionaler und tiefgründiger, als ich im Vorfeld vermutet hatte. Eschbach beschreitet einen ungewöhnlichen Weg, da er am Ende eher das Tempo herausnimmt. Kurzum: Ein tolles Buch, weil es an vielen Stellen zum Nachdenken anregt und weil der Autor die Erwartungshaltung der Leser häufiger durchbricht.


Montag, 6. November 2023

Bertram, Erik und Dominika Wylezalek - Alles Zufall im All?




5 von 5 Sternen




Unterhaltsam, faszinierend und lehrreich


Die Autoren Erik Bertram und Dominika Wylezalek legen mit dem Sachbuch „Alles Zufall im All?“ ein launiges Werk vor. Der Text liest sich angenehm, er wird aufgelockert durch Autobiographisches und die ein oder andere Anekdote, ohne dass dabei die Ernsthaftigkeit des Textes zu sehr verloren geht. Beiden geht es darum, die Geschichte unseres Universums nachzuzeichnen: „Wie ist das Weltall entstanden und warum gibt es Galaxien, Sterne, Planeten und sogar Menschen?“ (vgl. Klappentext). Und eines kann ich vorweg verraten: Die Kapitel lesen sich allesamt sehr eingängig und die Inhalte werden nicht zu abstrakt, sondern verständlich und nachvollziehbar dargelegt. Viele Illustrationen unterstützen den Text sinnvoll sowie funktional und sorgen auf diese Weise zusätzlich für Klarheit. Kurzum: Ein sehr gelungenes Buch!

 

Das Buch ist in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil des Buchs wird die Forschungsmethodik genauer vorgestellt. Während Dominika Wylezalek beobachtende Astronomin ist, handelt es sich bei Erik Bertram um einen theoretischen Physiker. Beide berichten aus ihrem jeweiligen Arbeitsalltag und auf diese Weise lernen wir die Arbeitsweise beider Fachrichtungen genauer kennen. Im zweiten Teil geht es um die Evolutionsgeschichte des frühen Universums. Leitfrage: Warum und wie ist es entstanden? Die Autoren konzentrieren sich dabei auf den „frühen“ Zeitraum der ersten 400 000 Jahre nach dem Urknall. Im dritten Teil geht es dann um das „späte“ Universum, als sich die ersten Sterne und Planeten bildeten.

 

Wylezalek nimmt uns mit in die chilenische Atacama-Wüste und schildert ihren Alltag. Wir lernen als Leser:innen, wie Teleskope funktionieren und erfahren, was für Daten sich mit ihrer Hilfe gewinnen und auswerten lässt. Interessant! Bertram hingegen arbeitet vor allem mit Computermodellen und beschreibt anschaulich, wie er mit Simulationen Forschungserkenntnisse gewinnt. Am Beispiel der Berechnung eines Sternentstehungsprozesses berichtet er anschaulich von den Herausforderungen und erläutert, wie eine Reise durch die Zeit möglich wird. Und verblüffend dabei: Reale, beobachtete und digitale Welt nähern sich immer weiter an! Lediglich über die erwähnte Millennium-Simulation und das Illustris-Projekt hätte ich gern noch mehr erfahren.

 

In einem weiteren Kapitel („das Tor zur Unendlichkeit“) geht es um das James-Webb-Teleskop. Die Vorbereitungen der Mission werden ebenso beschrieben wie erste Erkenntnisse. Auch wird kurz thematisiert, welche Erkenntnisfortschritte noch zu erwarten sind (Stichwort: genauere Erforschung von Exoplaneten). Faszinierend! Webb arbeitet im infraroten Wellenlängenbereich (ein Vorteil gegenüber dem Hubble-Teleskop) und besitzt einen größeren Spiegel als Hubble. So sind detaillierte Aufnahmen möglich. Es bleibt also spannend, was die Forschung noch entdeckt!

 

Im Zusammenhang mit der Entstehung des frühen Universums (Teil 2 des Buchs) stellen die Autoren auch das Standardmodell der Kosmologie genauer vor. Und sie widmen sich ausführlicher der Frage, woraus unser Universum besteht. Es werden die verschiedenen Elementarteilchen vorgestellt und in ihrem Aufbau erläutert. Eine interessante Schlussfolgerung: Das Standardmodell könne noch nicht vollständig sein, vor allem die sog. Dunkle Materie gebe noch große Rätsel auf.

 

In einem weiteren Kapitel („Geometrie mal anders“) gehen die Autoren der Frage nach, wie das Universum aussieht. Welche Form hat es? Und sie erläutern darüber hinaus verschiedene Theorien, wie das Universum enden könnte. Kommt es zu einem „big crunch“, einem „big rip“ oder einem „big freeze“? Ebenfalls spannend ist die folgende Fragestellung, auf die eingegangen wird: Warum ist die Temperatur im Universum überall im Mittel gleich?

 

Ebenfalls lesenswert ist das Kapitel „Kosmisches Finetuning“. Leitfrage: Warum ist unser Universum eigentlich so gut auf uns abgestimmt? Die verschiedenen Naturkonstanten scheinen perfekt für unsere Bedürfnisse ausgelegt zu sein. Ist das Zufall? In diesem Zusammenhang wird auch das sog. anthropische Prinzip erwähnt, das mir auch schon einmal in einem anderen Sachbuch begegnet ist (vgl. Bernhard Weßling 2022: Was für ein Zufall!, S. 43-44). Ich persönlich halte dieses Prinzip immer noch für am logischsten (was ich auch in meiner Rezension zu Weßlings Buch bereits dargelegt habe), auch wenn Wylezalek, Bertram und auch Weßling ihm als wissenschaftliches Prinzip die Eignung absprechen. Auch wird die (Super-)String-Theorie diskutiert, aus der die Annahme eines gigantischen Multiversums resultiert. Eine Theorie, der Weßling z.B. nichts abgewinnen kann, weil sie für ihn nicht überprüfbar sei (vgl. Weßling 2022: 205).

 

Im dritten Teil ihres Buchs geht es dann um die Entwicklungsgeschichte des „späten“ Universums. Dabei wird auch ein kurzer, kompakter Abriss der Forschungsgeschichte unserer Galaxie skizziert. Wichtige Forscher und Erkenntnisse werden benannt. So weiß man heute z.B., dass Galaxien nicht homogen im Universum verteilt sind, sondern in Filamenten, Gruppen und Haufen. Heute bestimmt man unterschiedliche Farben, Formen und Größen von Galaxien und unterscheidet verschiedene Typen. Wer sich noch ausführlicher mit der Entdeckungsgeschichte der Milchstraße auseinander setzen möchte, dem sei folgendes, erst kürzlich erschienenes Buch von Harald Lesch, Cecilia Scorza-Lesch und Arndt Latussek als Ergänzung empfohlen (vgl. dazu meine Rezension): „Die Entdeckung der Milchstraße“ (2023).

 

In einem weiteren Kapitel („Die schlafende Galaxie“) wird dargelegt, was man bisher zu unserer Milchstraße herausgefunden hat. So weiß man inzwischen, dass sich im Zentrum der Galaxie ein massereiches Schwarzes Loch befindet, das momentan nicht aktiv ist. Auch wurden Annahmen über eine habitable Zone innerhalb unserer Heimatgalaxie angestellt. Weitere Themen des dritten Teils: Eine Evolutionsgeschichte unserer Sonne (Wie ist sie entstanden? Wie wird sie sich entwickeln? Woraus bestehen Sterne? Wie funktionieren sie?), Leben außerhalb unserer Erde. Am Beispiel der sog. Drake-Gleichung wird vorgeführt, wie wahrscheinlich es ist, dass in unserer Milchstraße weitere Zivilisationen existieren. Vor allem der weiteren Erforschung der Atmosphäre von Exoplaneten wird noch eine große Bedeutung zukommen, so die Autoren.

 

In ihrem Nachwort formulieren die Autoren die Hoffnung, dass die Lektüre nicht nur herausfordernd war, sondern auch Spaß gemacht hat. Und das kann ich absolut bejahen! Und was mir auch gut gefallen hat: Im Literaturverzeichnis wird deutlich, dass die Autoren auch auf einige jüngere Quellen zurückgegriffen haben. Sie sind also „up to date“. Dankbar war ich auch für die weiterführenden Literaturhinweise auf S. 222.

 

Das einzige, was ich an diesem Buch bemängeln kann, ist die zu kleine Schriftgröße (oder benötige ich etwa eine neue Brille?). Das Format des Buchs hätte nach meinem Empfinden ruhig etwas größer ausfallen können, vor allem die Zusammenfassung der Kapitel ist sehr klein geraten. Auch finde ich die Titelwahl des Buchs nicht so treffend. Um Zufälle geht es immer nur am Rande mal, aber sie werden nicht systematisch ins Zentrum des Interesses gerückt (hierfür empfehle ich das Buch von Bernhard Weßling, der auch begrifflich näher bestimmt, was für verschiedene Arten von Zufällen es überhaupt gibt). Und leider wird keine zufriedenstellende Antwort auf die im Titel formulierte Frage gefunden. Ist denn nun alles Zufall im All? Selbstkritisch halten die Autoren dazu fest: „Zudem beschränken sich unsere Beobachtungen bislang ausschließlich auf ein und dasselbe Universum, und es erscheint unwahrscheinlich, dass sich dies in naher Zukunft ändern wird, um die Frage nach dem kosmischen Zufall zufriedenstellend beantworten zu können“ (S. 215). Trotzdem ein 5-Sterne-Buch!


Freitag, 3. November 2023

Kuhlmann, Torben - Einstein. Die fantastische Reise einer Maus durch Raum und Zeit





Was ist Zeit?


Wusstet ihr, dass Einsteins Relativitätstheorie nicht ohne die Hilfe einer kleinen Maus entwickelt worden wäre? In seinem wunderschön illustrierten Kinderbuch „Einstein“ (2020) berichtet uns der Autor Torben Kuhlmann von einer schicksalhaften Begegnung. Es ist das vierte Mäuseabenteuer nach „Lindbergh“ (2014), „Armstrong“ (2016) und „Edison“ (2018), die ich mit Ausnahme von „Lindbergh“ ebenfalls rezensiert habe. Das Werk von Kuhlmann habe ich schon mehrfach ausführlich gelobt (vgl. dazu frühere Rezensionen). Und so viel kann ich bereits an dieser Stelle verraten: Auch „Einstein“ ist ein hervorragendes Kinderbuch. Für mich ist es das gelungenste der mir bekannten Mäuseabenteuer. Warum? Weil der Aufbau logisch durchdacht ist. Geschichte, Bilder und Anhang sind inhaltlich klar aufeinander abgestimmt und werden geschickt miteinander verzahnt. Das Thema „Zeit“ verbindet alles stringent miteinander. Noch in „Edison“ hatte ich bemängelt, dass der Anhang zu wenig mit der erzählten Geschichte zu tun hat. Mit „Einstein“ knüpft Kuhlmann jedoch wieder an die Qualität von „Armstrong“ an.

 

Eine kleine Maus bricht auf in die Schweiz zum Besuch des Käsefests, muss vor Ort aber feststellen, dass gar kein Käse mehr da ist. Sie hat das Fest um einen Tag verpasst und wundert sich, wie das passieren konnte („Hatte sie sich verzählt? Irgendwie einen Tag vergessen? Oder war sie einmal vor Mitternacht eingeschlafen, ohne ein Kalenderblatt abzureißen?“). Die Maus wünscht sich, die Zeit zurückdrehen zu können und beginnt Uhren zu verstellen. Sie stellt jedoch fest, dass sie damit keinen Erfolg hat. Daraufhin besucht sie eine Uhrmacher-Maus und sucht Rat. Sie möchte verstehen, was Zeit ist. Und der Uhrmacher erzählt ihr, was er in seinen Berufsjahren über die Zeit gelernt hat. Doch eine zufriedenstellende Antwort kann er ihr nicht geben. Er weiß aber, wer der jungen Maus bei der Lösung ihrer Frage helfen könnte.

 

Die junge Maus besucht anschließend das Patentamt von Bern und entdeckt die Fotografie eines berühmten Mannes (wer das wohl sein könnte?). Für Recherchen verbringt sie Tage und Nächte auf den Dachboden des Patentamts und stößt auf eine Schrift zur Relativitätstheorie. Durch die Lektüre hat die Maus eine Idee zum Bau einer Zeitmaschine. Sie reist zurück in die Vergangenheit. Was sie jedoch in der Vergangenheit tut, das möchte ich hier nicht genauer verraten. Nur ein kleiner Tipp: Sie reist in das Jahr 1905.


Im Anhang erfahren wir etwas über die Biographie von Albert Einstein. Seine Leistungen und das Wunderjahr 1905 werden besonders hervorgehoben. Darüber hinaus findet man einen Text mit dem Titel „Albert Einstein und die Relativität“. Darin wird ein kleiner Einblick in das umfangreiche neue Weltbild gegeben, das Einstein in seiner allgemeinen und speziellen Relativitätstheorie beschreibt. Man merkt den Sachtexten im Anhang an, dass der Autor sich um Verständlichkeit bemüht, z.B. auch durch Beispiele und unterstützende Illustrationen. Dennoch dürfte der Inhalt für jüngere Kinder noch zu abstrakt sein. Das ist aber auch der einzige Aspekt, den ich kritisieren kann. Kurzum: Kuhlmanns Werke sollte man im Schrank stehen haben. Man kann sie mehrfach vorlesen und entdeckt immer wieder etwas Neues. Und zusätzlich wird noch nützliches Wissen vermittelt. 

Mittwoch, 1. November 2023

Gruber, Andreas - Apokalypse Marseille




 

Noch einmal Science-Fiction von Andreas Gruber


Andreas Gruber ist bei vielen Leser:innen bekannt für seine Thriller-Reihen um Maarten S. Sneijder, Walter Pulaski oder Peter Hogart. Seine ersten Gehversuche als Autor unternahm er allerdings in einem anderen Genre. Ab 1996 verfasste er zahlreiche Kurzgeschichten im Horror- und Science-Fiction-Bereich (vgl. Vorwort zu „Apocalypse Marseille“ von 2016, erschienen im Luzifer-Verlag). Erst kürzlich habe ich seinen Erzählband „Die letzte Fahrt der Enora Time“ gelesen und rezensiert, der erstmals 2001 erschienen und in überarbeiteter Form nochmals 2018 im Luzifer-Verlag veröffentlicht worden ist, und war sehr angetan von der großen Bandbreite seines erzählerischen Könnens (vgl. dazu meine frühere Rezension). Aus diesem Grund wollte ich noch mehr Science-Fiction aus der Feder von ihm lesen. Und glücklicherweise gibt es mit „Apocalypse Marseille“ (2016) einen weiteren Erzählband. Und eines vorweg: Auch dieses Werk hat wieder einiges zu bieten.

 

Es geht bereits los mit einem interessanten Vorwort, in dem uns Gruber über seinen persönlichen Zugang zur Science-Fiction berichtet. Wir erfahren etwas über seine Lesebiographie und darüber, welche medialen Einflüsse ihn als Autor geprägt haben. Man kann die eine oder andere Anregung für eigene Lektüren daraus mitnehmen. Und es wird an seinem Beispiel gut deutlich, dass ein Autor nicht „nur“ schreibt, sondern auch viel selbst liest. Interessant!

 

Der Band enthält 13 Kurzgeschichten, die sich ganz unterschiedlichen Sub-Genres zurechnen lassen. Man erhält also auch noch einen guten Überblick über die verschiedenen Spielarten von Science-Fiction. Und abermals war ich nach der Lektüre beeindruckt davon, wie viele verschiedenartige spannende Ideen Gruber erschaffen hat. Der Schreibstil hinterließ zudem teils auf mich auch einen anderen Eindruck als noch bei „Die letzte Fahrt der Enora Tim“. Einige Geschichten sind deutlich offener gehalten und eröffnen auf diese Weise vermehrt Interpretationsspielräume, regen zum weiteren Nachdenken an. Auch enden viele Erzählungen recht abrupt und bleiben teils offen. Das hat mir sehr gut gefallen.


Und ich konnte wieder einige Highlights ausfindig machen. So z.B. die Erzählung „Einundvierzig Grad nördliche Breite“, bei der es sich um eine Zeitreise-Geschichte handelt. Der Untergang der Titanic soll verhindert werden. Das Schiff wird dabei zum Spielball verfeindeter Mächte, die die Katastrophe abwenden bzw. die Abwendung der Katastrophe verhindern wollen. In einer weiteren Erzählung wird eine dystopische Reality-Show beschrieben („Weiter oder raus“), die an „Running Man“ erinnert, aber noch deutlich brutaler daherkommt. Nichts für schwache Nerven! Vier Kandidaten nehmen aus unterschiedlichen Motiven an der Show teil und werden dann gequält. Sie müssen vor laufender Kamera immer neue Schmerzprüfungen überstehen und sich entscheiden, ob sie weitermachen oder aussteigen wollen (ein schöner Seitenhieb auch auf solche Shows wie „Dschungelcamp“ und andere). Eine weitere Erzählung die mir gut gefallen hat: „Wenn der Himmel gefriert“. Eine Hommage an „Terminator“ von James Cameron, mit der eine Leerstelle des Films kreativ ausgefüllt wird. Was passiert kurz nach dem Tag des Jüngsten Gerichts, wenn Maschinen die Macht ergreifen und die Menschheit auszulöschen versuchen? Eine Protagonistin kämpft ums nackte Überleben und versucht andere Überlebende zu finden. Ein weiteres Highlight: „Parkers letzter Auftrag“. Ein Mann lässt sich Nano-Maschinen in den Körper injizieren, um den Alterungsprozess aufzuhalten. Und dann noch eine Abenteuergeschichte im Stil von „Indiana Jones“, gepaart mit „Stargate“ („Der Maya-Transmitter“). Bei der Erforschung einer Maya-Pyramide stößt man auf eine ungewöhnliche Maschine. Was hat es mit ihr auf sich?


Bei einigen Kurzgeschichten sind die Enden offen gehalten, so dass man selbst zum Nachdenken über den möglichen weiteren Verlauf angeregt wird. Auch das fand ich klasse. Grundsätzlich hat mir „Apocalypse Marseille“ auch noch ein Stück besser gefallen als „Die letzte Fahrt der Enora Time“. Mir gefielen vor allem die vielen intermedialen Anspielungen. Und es gab einige Geschichten, in denen Gruber trotz aller Kürze der Erzählung, ein hohes Maß an Spannung erzeugen konnte. Und wie schon in dem anderen Erzählband gibt Gruber auch wieder viel Einblick in Autobiographisches und gewährt einen Einblick in seinen Werdegang als Schriftsteller (Stichwort „Druckkostenzuschuss-Verlag“). Jeder Kurzgeschichte wird ein kleines persönliches Vorwort vorangestellt. Ich wurde rundum sehr gut unterhalten. Ein toller Erzählband! Und ich bekräftige noch einmal meinen Wunsch, irgendwann hoffentlich einmal einen längeren Science-Fiction-Roman von Andreas Gruber zu lesen. 


Kuhlmann, Torben - Edison






Abenteuerreise unter Wasser


Von Torben Kuhlmann habe ich zuletzt „Die graue Stadt“ (2023) und „Armstrong“ (2016) rezensiert. Da mich und meine Töchter die Bücher so begeistern, möchte ich nun das Werk „Edison“ genauer vorstellen, das 2018 erschienen ist. Zu den Illustrationen möchte ich an dieser Stelle gar nicht mehr viel schreiben. Dieses Mal sind es vor allem die Illustrationen unter Wasser, die großartig aussehen (vor allem wegen der Licht- und Schatteneffekte). Die Zeichnungen suchen einfach ihresgleichen. Und ich habe sie schon ausführlich in den anderen Rezensionen gelobt. Kuhlmann erschafft mit seinen Kinderbüchern kleine Kunstwerke, die man nicht nur einmal lesen und anschauen kann. Und eines darf ich schon verraten: Es gibt einen kleinen, lustigen Rückbezug zum Band „Armstrong“. Ich will aber an dieser Stelle nicht zu viel verraten.  

 

Also gleich zum Inhalt: Die junge Maus Pete sucht einen Professor auf, den sie um Hilfe bittet. Sie erzählt ihm von einem verschwundenen Vorfahren, der auf einer Schiffsreise auf dem Atlantik in die USA verschollen ist. Er hatte einen Schatz dabei. Bei ihren Recherchen entdecken Pete und der Professor, dass das Schiff vor vielen Jahren in Seenot geraten und gesunken ist. Es ist nie in Amerika angekommen. Was wurde also aus dem Vorfahren und dem Schatz? Hat er überlebt? Gibt es den Schatz noch oder liegt er auf dem Meeresgrund?

 

Pete fasst den Entschluss, den Meeresgrund zu besuchen. Er konstruiert eine Taucherglocke und startet erste Versuche in der Badewanne. Mit der Hilfe des Professors gelingt es ihm, einen Plan zu schmieden. Beide Mäuse entpuppen sich dabei als echte praktische Forscher. Natürlich werde ich hier in dieser Rezension nicht verraten, ob Pete den Schatz findet und was darin enthalten ist. Das möge jeder selbst herausfinden.

 

Es handelt sich um eine schöne Abenteuergeschichte, bei der man auch wieder etwas dazulernt (so wie man es von Kuhlmann kennt). Im Anhang erfährt man genauere Hintergründe zur Erfindung des elektrischen Lichts und Thomas A. Edison wird in Form eines kurzen Porträts vorgestellt. Kleiner Wermutstropfen: Den Vergleich zum Band „Armstrong“ kann „Edison“ in meinen Augen jedoch nicht standhalten. Das Besondere an „Armstrong“ war der klare rote Faden (Thema: Mondlandung). Der Aufbau der Handlung ist bei „Edison“ nicht ganz so stringent. Die Erfindung der Glühbirne spielt bei der Abenteuerreise thematisch kaum eine Rolle. Das war etwas schade. Dennoch bleibt „Edison“ ein großartiges Buch!