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Donnerstag, 29. Februar 2024

Thiele, Markus - Zeit der Schuldigen


Wunsch und Wirklichkeit



Was ich an Markus Thiele und an seinen Büchern, die ich kenne, sehr schätze: Er leuchtet Grauzonen des Rechts in Deutschland aus und lässt sich dabei von wahren Fällen inspirieren. So war es bei „Die sieben Schalen des Zorns“ (vgl. dazu eine frühere Rezension), und so ist es auch bei seinem neuesten Werk „Zeit der Schuldigen“. Hinzu kommt seine Expertise als Jurist. Man merkt seinen Büchern an, dass er sich fachlich gut auskennt und auf diese Weise lernt man beiläufig auch noch etwas über das Rechtssystem in Deutschland dazu.

 

Seine Bücher dürften insbesondere für Fans von „True Crime“ interessant sein, die an der Nachzeichnung einer realen Prozesshistorie interessiert sind. Thiele orientiert sich an dem Fall von Frederike von Möhlmann. Wer z.B. Ferdinand von Schirach oder die Justiz-Krimis von Florian Schwiecker und Michael Tsokos mag, der wird bestimmt auch an den Büchern von Markus Thiele Gefallen finden. Und eines gleich vorweg: Thiele muss den Vergleich mit den genannten Autoren nicht scheuen. Das beweist sein neuestes Werk einmal mehr. Er schreibt fesselnd, lebendig, man bleibt an den Seiten haften und er fordert die Leser:innen zum Nachdenken heraus. Der Fall, den er in „Zeit der Schuldigen“ schildert, wird nicht nur packend erzählt, der Stoff zeigt Grenzen des Rechts auf und emotionalisiert sehr stark. Und auch sein Nachwort ist erhellend und kenntnisreich (Mein Rat: dieses sollte man allerdings erst im Nachgang lesen, sonst büßt der Handlungsverlauf vermutlich an Spannung und an Überraschungseffekten ein).

 

Der Roman ist auf zwei Zeitebenen angesiedelt. Auf der gegenwärtigen Handlungsebene verfolgen wir das Geschehen um die Kommissarin Anne Paulsen, die den tatverdächtigen Volker März für sein Verbrechen Jahrzehnte nach der Tat auf ihre eigene Weise zur Rechenschaft ziehen will. Und auf der Vergangenheitsebene erhalten wir Einblick in die Beziehungsverhältnisse des Opfers und vollziehen den Kampf des Vaters um Gerechtigkeit nach. Und eines kann ich versprechen: Mit zunehmendem Handlungsverlauf wird man als Leser:in immer stärker emotional gepackt. Man taucht immer tiefer in den Fall ein und ist fassungslos, dass Recht und Gerechtigkeit so weit auseinander liegen können. Doch ich will nicht zu viel verraten. Lasst euch selbst mitreißen! Nur so viel: Ich hätte nicht damit gerechnet, dass die Gesetzeslage in Deutschland so ausschaut. Und ich habe mir häufiger die Frage nach dem „Warum“ gestellt.

 

Thieles Schreibweise hat mir gut gefallen. Seine Schilderungen von Handlungsorten und Figuren sind klar und greifbar. Die Charaktere wirken lebensecht und sind facettenreich gestaltet worden. V.a. die psychische Belastung des Vaters vom Opfer wird in meinen Augen spürbar! Wie konnte dieser Mann das alles nur verkraften und die verschiedenen Verfahren durch die Instanzen aushalten? Man fühlt mit ihm mit. Beim Lesen entstehen stets Bilder vor dem inneren Auge. Ein gutes Zeichen! Und man erkennt an vielen Stellen, dass Thiele sich auskennt und weiß, wovon er schreibt. Das merkt man z.B. schon daran, wie er die arbeitsorganisatorischen Abläufe bei der Polizei oder die Vernehmungen von März darstellt.

 

Den Grad an Spannung empfand ich durchweg als hoch, ich wollte stets wissen, wie es weitergeht und hatte während der Lektüre stets genügend offene Fragen im Kopf, die mich zum Weiterlesen und später zum Verschlingen des Buchs animiert haben. Zum Ende zieht die Spannung spürbar an. Der Autor eröffnet zahlreiche Spannungsbögen, die immer wieder gut unterbrochen werden. Sehr geschickt! Auch gab es immer einmal wieder gut platzierte Überraschungen, mit denen ich im Vorfeld nicht gerechnet habe. Die Darstellung der Verhandlungen empfand ich ebenfalls als eine große Stärke des Buchs. Gebannt verfolgt man die Prozesse und die damit verbundene Rechtsprechung. Sie wirken allesamt sehr authentisch, was natürlich daran liegt, dass der Autor sich in diesem Bereich als Jurist bestens auskennt.

 

Und noch etwas Lobenswertes: Der Autor entlässt mich nach der Lektüre nachdenklich. Er wirft viele (v.a. auch moralische) Fragen auf, die man für sich selbst klären muss. Auch habe ich mich an einigen Stellen gefragt, wie Beteiligte bestimmte Dinge mit sich selbst vereinbaren können. Das finde ich großartig und es wertet das Buch noch einmal zusätzlich auf, weil der Inhalt dadurch nachhallt. Nach meiner Erfahrung gibt es nicht viele Werke, die eine solche Wirkung haben. Kurzum: Ich bin von „Zeit der Schuldigen“ begeistert. Von mir gibt es 5 Sterne (= herausragend)!

4 Kommentare:

Volker Kaiser hat gesagt…

Deinen Kommentar regt mich dazu an, dieses Buch auf meine Merkliste zu setzen. Mit dem Begriff "True Crime" bin ich immer vorsichtig, weil er nicht unumstritten ist. VG

Tobias Kallfell hat gesagt…

Inwiefern umstritten? Kläre mich gern auf. In diesem Fall ist der Begriff in meinen Augen berechtigt, weil der Autor sich an den Fall Frederike von Möhlmann anlehnt und dessen Prozesshistorie nachzeichnet. Allerdings gibt es auch Dinge, die frei erfunden sind, z.B. die Figuren und ihre Beziehungen zueinander sowie das Näheverhältnis von Opfer und Täter. VG

Dr. Tobias Kallfell hat gesagt…

Lieber Volker, danke für deinen Hinweis. Ich habe die Rezension noch einmal etwas präzisiert, damit niemand in die Irre geführt wird. VG

Volker Kaiser hat gesagt…

Eine prima Rezension, die auch dem Autor offensichtlich gefallen hat. VG

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