Die letzten Kriegstage in Hamburg
Der
Ich-Erzähler denkt wehmütig an seinen letzten Besuch an der Currywurstbude von Frau
Brücker zurück. Regelmäßig kehrte er dort ein, um eine Currywurst zu essen, bis
der Imbiss eines Tages verschwunden ist. Für den Ich-Erzähler ist sie die
Erfinderin der Currywurst. Er macht sich also auf die Suche nach der alten Frau
und findet sie nach Recherchen im Einwohnermeldeamt tatsächlich im städtischen
Altersheim in Harburg. Sie erinnert sich an ihn und berichtet ihm aus ihrem
Leben. Sie beginnt die Geschichte im April 1945, als sie ihren späteren Ehemann
Hermann Bremer während eines Luftangriffs kennenlernt. Bremer wird zum Fahnenflüchtigen,
als er sich in Lena Brücker verliebt. Sie verbringen die letzten Kriegstage gemeinsam,
gemeinsam in Brückers Wohnung. Und während Nazideutschland untergeht, entsteht
zwischen den beiden Protagonisten Liebe. Eine Liebe, die von potentiellen
Denunzianten bedroht wird. Darum geht es in der Novelle „Die Entdeckung der
Currywurst“ von Uwe Timm.
Die
Atmosphäre der letzten Kriegswochen und die Stimmung der Bevölkerung wird gut,
realistisch und authentisch eingefangen. Am Beispiel von Bremer erleben wir die
Perspektive eines Deserteurs, der um sein Leben fürchten muss. Er hat die Wahl,
beim „Volkssturm“ an die Front zu gehen oder zu desertieren. Wo bieten sich ihm
die größeren Überlebenschancen? Das ist die entscheidende Frage, die ihn
umtreibt. Letztlich entscheidet er sich gegen die Front in einem verlorenen
Krieg. Und seine Angst, dass man ihn als Fahnenflüchtigen entlarvt, wird
spürbar. Lena Brücker hingegen, Leiterin einer Kantine, muss Gestapo-Verhöre zu
politischen Ansichten von Mitarbeitern über sich ergehen lassen und hört sich
Motivationsreden zum nahenden Endsieg an. Bis zum Schluss gibt es Fanatiker,
die unter Realitätsverweigerung leiden. Dazu zählt z.B. auch der Blockwart des
Hauses (Lammers), in dem Lena Brücker wohnt. An seinem Beispiel wird deutlich,
dass man auch in den letzten Tagen des Krieges fanatische Kriegsbefürworter und
Denunzianten fürchten muss. Die Gefahr einer Anzeige bei der Gestapo ist
allgegenwärtig.
Was
ebenfalls geschildert wird: Die Phase des Übergangs im Angesicht der
Kapitulation. Eine Zeit der Unsicherheit. Wie geht es nun weiter? Endet der
Krieg? Der Autor ist unheimlich gut in der Lage, sich in die Gedankenwelt
seiner Protagonisten hineinzuversetzen. Ihr Nicht-Wissen über die Zukunft und
Bremers Ungewissheit, was aus ihm wird, kommen gut zum Ausdruck. Und
gleichzeitig herrscht eine Form der Informationslosigkeit, es fehlt an
Zeitungen und Pressemitteilungen. Mundpropaganda ist die einzige Quelle, um Informationen
zu beziehen. Ein weiteres Thema des Buchs: Der Umgang mit der Niederlage. Aus
einigen ehemaligen Nazis werden plötzlich britenfreundliche Deutsche, und das
von heute auf morgen. Was auch an einer Stelle im Text gestreift wird: Die
Frage nach der kollektiven Schuld. Das Wegsehen und das Nichtwissenwollen, was
die Verbrechen an den Juden betrifft, werden thematisiert. Und auf den letzten
Seiten wird dann auch der titelgebende Inhalt in den Blick genommen: Die Erfindung
der Currywurst. Das ist dann die „unerhörte Begebenheit“, die ja für eine
Novelle typisches Merkmal ist. Hier zeigt sich, wie kreativ und einfallsreich
Lena Brücker agiert. Über verschiedene Tauschgeschäfte und Zufälle entsteht
ihre unnachahmliche Currywurst, die dann den Siegeszug in verschiedene
Himmelsrichtungen antritt.
Letztlich
ist diese schmale Novelle von Uwe Timm eine tolle und bereichernde Lektüre,
insbesondere für Leser:innen, die mehr über die letzten Kriegstage erfahren
wollen. Das Buch vermittelt in meinen Augen ein authentisches Bild der
Atmosphäre und der Stimmung zu jener Zeit. Und es werden viele wichtige Themen
gestreift, die im Zusammenhang mit dem Krieg eine zentrale Rolle spielen.
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