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Donnerstag, 8. Februar 2024

Timm, Uwe - Die Entdeckung der Currywurst






Die letzten Kriegstage in Hamburg


Der Ich-Erzähler denkt wehmütig an seinen letzten Besuch an der Currywurstbude von Frau Brücker zurück. Regelmäßig kehrte er dort ein, um eine Currywurst zu essen, bis der Imbiss eines Tages verschwunden ist. Für den Ich-Erzähler ist sie die Erfinderin der Currywurst. Er macht sich also auf die Suche nach der alten Frau und findet sie nach Recherchen im Einwohnermeldeamt tatsächlich im städtischen Altersheim in Harburg. Sie erinnert sich an ihn und berichtet ihm aus ihrem Leben. Sie beginnt die Geschichte im April 1945, als sie ihren späteren Ehemann Hermann Bremer während eines Luftangriffs kennenlernt. Bremer wird zum Fahnenflüchtigen, als er sich in Lena Brücker verliebt. Sie verbringen die letzten Kriegstage gemeinsam, gemeinsam in Brückers Wohnung. Und während Nazideutschland untergeht, entsteht zwischen den beiden Protagonisten Liebe. Eine Liebe, die von potentiellen Denunzianten bedroht wird. Darum geht es in der Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“ von Uwe Timm.

 

Die Atmosphäre der letzten Kriegswochen und die Stimmung der Bevölkerung wird gut, realistisch und authentisch eingefangen. Am Beispiel von Bremer erleben wir die Perspektive eines Deserteurs, der um sein Leben fürchten muss. Er hat die Wahl, beim „Volkssturm“ an die Front zu gehen oder zu desertieren. Wo bieten sich ihm die größeren Überlebenschancen? Das ist die entscheidende Frage, die ihn umtreibt. Letztlich entscheidet er sich gegen die Front in einem verlorenen Krieg. Und seine Angst, dass man ihn als Fahnenflüchtigen entlarvt, wird spürbar. Lena Brücker hingegen, Leiterin einer Kantine, muss Gestapo-Verhöre zu politischen Ansichten von Mitarbeitern über sich ergehen lassen und hört sich Motivationsreden zum nahenden Endsieg an. Bis zum Schluss gibt es Fanatiker, die unter Realitätsverweigerung leiden. Dazu zählt z.B. auch der Blockwart des Hauses (Lammers), in dem Lena Brücker wohnt. An seinem Beispiel wird deutlich, dass man auch in den letzten Tagen des Krieges fanatische Kriegsbefürworter und Denunzianten fürchten muss. Die Gefahr einer Anzeige bei der Gestapo ist allgegenwärtig.

 

Was ebenfalls geschildert wird: Die Phase des Übergangs im Angesicht der Kapitulation. Eine Zeit der Unsicherheit. Wie geht es nun weiter? Endet der Krieg? Der Autor ist unheimlich gut in der Lage, sich in die Gedankenwelt seiner Protagonisten hineinzuversetzen. Ihr Nicht-Wissen über die Zukunft und Bremers Ungewissheit, was aus ihm wird, kommen gut zum Ausdruck. Und gleichzeitig herrscht eine Form der Informationslosigkeit, es fehlt an Zeitungen und Pressemitteilungen. Mundpropaganda ist die einzige Quelle, um Informationen zu beziehen. Ein weiteres Thema des Buchs: Der Umgang mit der Niederlage. Aus einigen ehemaligen Nazis werden plötzlich britenfreundliche Deutsche, und das von heute auf morgen. Was auch an einer Stelle im Text gestreift wird: Die Frage nach der kollektiven Schuld. Das Wegsehen und das Nichtwissenwollen, was die Verbrechen an den Juden betrifft, werden thematisiert. Und auf den letzten Seiten wird dann auch der titelgebende Inhalt in den Blick genommen: Die Erfindung der Currywurst. Das ist dann die „unerhörte Begebenheit“, die ja für eine Novelle typisches Merkmal ist. Hier zeigt sich, wie kreativ und einfallsreich Lena Brücker agiert. Über verschiedene Tauschgeschäfte und Zufälle entsteht ihre unnachahmliche Currywurst, die dann den Siegeszug in verschiedene Himmelsrichtungen antritt.

 

Letztlich ist diese schmale Novelle von Uwe Timm eine tolle und bereichernde Lektüre, insbesondere für Leser:innen, die mehr über die letzten Kriegstage erfahren wollen. Das Buch vermittelt in meinen Augen ein authentisches Bild der Atmosphäre und der Stimmung zu jener Zeit. Und es werden viele wichtige Themen gestreift, die im Zusammenhang mit dem Krieg eine zentrale Rolle spielen.

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