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Dienstag, 24. Januar 2023

Sager, Riley - Night


3 von 5 Sternen


Zu abwegig und zu konstruiert


Den neuen Thriller von Riley Sager zu beurteilen, ist gar nicht so einfach. Denn „Night“ überzeugt durchaus durch eine packende Schreibweise und kann auch immer wieder fesseln. Leider wird dieser positive Eindruck zum Schreibstil aber dadurch wieder zunichte gemacht, dass der Thriller insgesamt zu konstruiert wirkt und auch Logiklöcher aufweist. Im Folgenden möchte ich genauer begründen, was ich damit meine.

 

So habe ich mich schon zu Beginn gefragt, warum die Protagonistin Charlie zu einem Fremden ins Auto steigt, obwohl ihr bekannt ist, dass der sogenannte Campus-Killer noch frei herumläuft. Sieht man über dieses erste Logikloch hinweg, so wird man auf den folgenden Seiten noch gut unterhalten. Charlie wird dem Leser genauer vorgestellt. Sie ist Studentin der Filmwissenschaften, outet sich als Hitchcock-Fan und kennt sich unheimlich gut mit Filmen aus. Im weiteren Handlungsverlauf gibt es immer wieder Verweise auf bestimmte Filmszenen und auch auf Musik. Das ist gelungen!

 

Charlie hat ihre Eltern bei einem Unfall verloren und sie muss mit dem schrecklichen Schicksalsschlag umgehen, dass ihre Zimmergenossin Maddie vom Campus-Killer ermordet worden ist. Wohl auch aus diesen Gründen leidet sie unter Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Und die Passagen, an denen man als Leser nicht weiß, ob Charlie halluziniert oder nicht, sind schon gut gemacht. Man wird immer wieder aufs Glatteis geführt und fragt sich während der Lektüre, was Einbildung ist und was echt. Während der Fahrt scheint sich Charlies Zustand zu verschlechtern, auch das überzeugt. Darüber hinaus ist auch die Figurenzeichnung von Charlie für einen Thriller in Ordnung.

 

Allerdings wird im weiteren Verlauf der Lektüre klar, dass das Krankheitsbild von Charlie ab einem gewissen Punkt wenig realistisch und schon arg klischeehaft gestaltet worden ist. In erster Linie dient es dazu, einen dramatisierenden Effekt zu erzeugen. Darauf konnte ich mich zu Beginn auch bis zu einem gewissen Punkt einlassen, doch mit zunehmendem Handlungsverlauf wird es einfach immer unglaubwürdiger.

 

Letztlich lebt der Thriller anfangs davon, dass man als Leser nicht weiß, ob und inwieweit man sich auf die Wahrnehmung von Charlie verlassen kann. Man fragt sich zwischenzeitlich, ob sich Charlie womöglich in einen Verfolgungswahn hineinsteigert. Findet das Bedrohungsszenario vielleicht nur in ihrem Kopf statt? Doch leider macht der Autor in meinen Augen zu wenig aus dieser eigentlich guten Idee. Es driftet zu sehr ins Unglaubwürdige ab. Ab einem gewissen Punkt werden Handlungsweisen und Gedankengänge der Figuren unglaubwürdig, nicht plausibel und zudem wenig nachvollziehbar. Es verstärkt sich immer mehr der Eindruck, dass etwas aus dramatischen Gründen konstruiert wird. So etwas entspricht überhaupt nicht meinem Geschmack.

 


Fazit

Der Thriller startet durchaus vielversprechend und auch der Schreibstil ist gelungen. Es wird vor allem zu Beginn Spannung erzeugt. Auch die Idee mit Charlies Wahnvorstellungen hat Potential. Es macht Spaß, dass man beim Lesen immer wieder aufs Glatteis geführt wird. Leider wird es dann im weiteren Handlungsverlauf zunehmend unglaubwürdig. Handlungen und Gedanken der Charaktere werden unlogisch und sind nicht mehr plausibel. Das ist schade! Ich vergebe 3 Sterne. Ich würde den Thriller solchen Lesern empfehlen, die das Mittel des unzuverlässigen Erzählens mögen und nicht zu viel Wert auf Realismus und Logik legen.

Freitag, 20. Januar 2023

Gieselmann, Dirk - Der Inselmann


5 von 5 Sternen


Konzentrische Kreise


Hans auf der Insel, Hans in der Schule, Hans in der „Burg“. Das sind die Stationen, die der 10-jährige Hans durchläuft, den Dirk Gieselmann in seinem Roman „Der Inselmann“ ganz in den Mittelpunkt rückt. Der Autor spielt hierbei gekonnt mit den gattungsspezifischen Merkmalen von Entwicklungs-, Bildungs- und Erziehungsroman. Denn wir begleiten Hans auf seinem Werdegang, hindurch durch ein ganzes Leben. Doch Hans erscheint uns dabei selten als handelndes Subjekt, das etwas tut. Nein, mit Hans wird gemacht. Und das fand ich traurig zu lesen. Die Eltern nehmen ihn ungefragt mit auf die Insel, um dort ihr Selbstversorger-Einsiedler-Leben zu bestreiten, dann wird er aus diesem Leben herausgerissen, wieder ungefragt. Die Schulpflicht ruft. Und Hans kommt mit den neuen Strukturen, den Anforderungen und vor allem mit dem Schulmeister nicht wirklich zurecht. Daraufhin landet er in der „Burg“, einer Art Besserungsanstalt für auffällige Jugendliche. Und das macht etwas mit Hans…

 

Auffällig auch: die Sprache. Eine poetische, fast lyrische Sprache. Emotionslosigkeit, Sprachlosigkeit, Pragmatismus, das zeichnet sie aus. Die Sätze sind einfach, schmucklos. Viele Hauptsätze, viele substantivische Aufzählungen, Satzreihen, häufig Verzicht auf Konnektoren. Manchmal: gleiche, sich wiederholende Satzanfänge als Stilmittel. Und darüber hinaus: Bildhaftigkeit, Personifikationen, Antithetik. Das muss man mögen. Mir hat es gefallen.

 

Auf Handlungsebene: Vagheiten. Wann spielt die Handlung? Unklar. Wo spielt die Handlung? Auch unklar. Vieles bleibt erstaunlich konturenhaft, wenig greifbar. Es herrscht eine Art Zeitlosigkeit, die Tage, Monate, Jahre verschwimmen. Die Zeit verstreicht monoton und ereignislos. Handlungsarmut prägt die Seiten. Das passt gut zur Tristesse des beschriebenen Daseins. Hans bleibt dem Leser ein Fremder. Sein Innenleben wird kaum ausgebreitet. Zwischen den auftretenden Figuren gibt es kaum eine Beziehungsebene. Zwischenmenschlichkeiten werden aufs nötigste heruntergebrochen. Der Umgang der Charaktere miteinander ist oft lieblos, hart und kalt. Die Menschen interessieren sich nicht füreinander, nehmen kaum Notiz voneinander. Die schönen Seiten des Lebens sind nicht präsent. Alles ist trist, bedrückend und deprimierend.

 

Fazit

Ein Roman mit einem ungewöhnlichen Sprachstil, der aber eine zum Inhalt passende Wirkung erzeugt. Auch die nüchterne Darstellung der Handlungsebene passt gut zu dem Leben des isolierten Hans, der kaum etwas von seiner Umgebung mitbekommt und keine Zärtlichkeiten erlebt. Was auch gelungen ist: das Spiel mit den gattungsspezifischen Merkmalen von Entwicklungs-, Erziehungs- und Bildungsroman. Hans Persönlichkeit entfaltet sich nicht, sie wird förmlich zerstört. Für dieses Buch muss man in der passenden Stimmung sein, die Lektüre ist recht deprimierend. Für das gelungene Sprach-, Inhalts- und Gattungsexperiment vergebe ich 5 Sterne!

Mittwoch, 18. Januar 2023

Merchant, Judith - Nibelungenmord


5 von 5 Sternen


Jetzt erstmal einen Quittenschnaps


Von Judith Merchant kenne ich „Die Lügen jener Nacht“, „Atme!“ und „Schweig!“. Und vor allem die letzten beiden Bücher sind mir sehr positiv im Gedächtnis geblieben (vgl. dazu frühere Rezensionen), ich habe sie verschlungen. Aus diesem Grund wollte ich einmal wieder etwas von der Autorin lesen, ich mag ihren Schreibstil sehr. Begonnen hat Judith Merchant mit dem Genre „Kriminalroman“. Und in dem Werk „Nibelungenmord“, das ich besprechen möchte, geht es noch nicht so psychologisch zu wie in den nachfolgenden Werken. Es handelt sich um den Auftakt zu einer Reihe um den Kommissar Jan Seidel und seiner eigenwilligen Großmutter Edith (Miss Marple lässt grüßen). Und eines kann ich schon vorweg nehmen: Der Kriminalroman hat mir sehr gut gefallen, er weist einige lobenswerte kreative Ideen auf, der Schreibstil überzeugt. Einige Verlage hätten diesen Krimi vermutlich sogar als Thriller vermarktet, denn es geht durchaus dynamisch und wendungsreich zu. Das hätte ich so im Vorfeld gar nicht erwartet.

 

Was auffällt: Der Krimi nimmt sich selbst nicht zu ernst, ein großes Augenzwinkern schwingt oft mit. Das Spießbürgerliche blitzt immer wieder auf. Das hat mir gut gefallen. Und auch die Zeichnung der Figuren überzeugt. Die Autorin zeigt dabei eine Vorliebe für ausgefallene, teils skurrile Details, die sie ihren Charakteren verleiht. Im Zentrum steht Jan Seidel, ein Kommissar der bei seiner Großmutter wohnt, ein Freund der Lederjacke. Er redet lieber über Leichen als über seine geplatzte Hochzeit und vergisst auch gern einmal seine Dienstwaffe. Ihm zur Seite steht seine hormongeflutete Partnerin Elena: die mit dem breiten Rücken. Sehr amüsant! Welche Figur zu wem in welcher Beziehung steht wird erst nach und nach aufgelöst. Die dargestellten Beziehungskonstellationen sind nach meinem Empfinden ausgeklügelt und raffiniert. Alle Figuren weisen ein höchst turbulentes Liebesleben auf.

 

Flotte Szenenwechsel verleihen dem Inhalt eine fast „thrillerhafte“ Dynamik. Vor allem gegen Ende nimmt das Tempo deutlich zu und die Wendungen werden zahlreicher. Und eine weitere amüsante, kreative Idee: Jans Oma Edith mischt sich in die Ermittlungen ein und erweist sich als Buchhändlerin mit besonders guter Menschenkenntnis, die gern auch mal bei Kaffee und Kuchen Zeugen vernimmt. Seine Nachttischlektüre sollte man besser vor ihr verstecken. Mein Höhepunkt des Buchs: Ediths philosophische Überlegungen zu Jans Frühstücksei im blaugeblümten Eierbecher. Was ich ebenfalls interessant fand: Die Bezüge zum Nibelungenlied. Man wird während der Lektüre förmlich herausgefordert, sich mit dem Stoff näher zu beschäftigen. So wird der Notar Michael Sippmeyer mit Siegfried verglichen, seine verschwundene Ehefrau mit Kriemhild. Doch wer ist dann Romina? Und eigentlich ist es doch Siegfried, der ermordet wird? Schöne Idee! Nicht zuletzt fand ich lobenswert, wie das Kunstgewerbe durch den Kakao gezogen wird. Abschließendes Wort zur Auflösung des Falls: gelungen, nachvollziehbar und in sich schlüssig.

 

Fazit

Ein rundum gelungener Krimi, der auch zum Schmunzeln einlädt. Die Autorin hat viele kreative Ideen, ihr Schreibstil überzeugt. Die Figurenkonstellation ist durch die vielen Dreiecksbeziehungen ausgeklügelt. Tempo und Dynamik sind für einen Krimi stark ausgeprägt. Die Figuren sind mit vielen liebenswerten, skurrilen Attributen ausgestattet worden. Für mich absolut kein „Einheitsbrei“, der hier geboten wird. Aber für alle, die die Thriller „Schweig!“ und „Atme!“ großartig fanden, noch der Hinweis, dass es hier längst nicht so psychologisch zugeht.

Montag, 16. Januar 2023

Morris, Brandon Q - Die Störung


3 von 5 Sternen


Leider nur der Auftakt zu einer Reihe


Von Brandon Q Morris habe ich schon einige Bücher gelesen (The Hole, Enceladus, Mars Nation 1, Titan, Io, Möbius). Und was seine Werke auszeichnet ist der Umstand, dass er physikalische und kosmologische Hintergründe geschickt in die Handlung einbaut und so beiläufig einiges an Wissen vermittelt. Man merkt den Büchern einfach an, dass der Autor selbst vom Fach ist und dass er darauf achtet, den aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstand zu berücksichtigen. Das merkt man stets auch den sehr leserfreundlichen und anschaulich geschriebenen Sachtexten im Nachwort an, die sehr kenntnisreich und leserzugewandt verfasst sind. Bei den Büchern von Brandon Q Morris handelt es sich durchweg um „near-future-hard-science-fiction“, und die muss man natürlich mögen. Ich nehme jedes Mal wieder interessante Sachverhalte mit, wenn ich seine Werke lese und das ist einfach toll (vgl. frühere Rezensionen).

 

Dieses Mal habe ich für die Lektüre seines Werks „Die Störung“ entschieden, das im Fischer-Verlag erschienen ist. Und ich fand v.a. die Ereignisse auf dem Raumschiff „Shepherd-1“ gut geschildert. Die Crew ist ein eingespieltes Team, das wird gut deutlich. Und fasziniert habe ich wieder das Leben als Astronaut verfolgt, insbesondere die Außenbordeinsätze, also das Agieren im Vakuum, fand ich gut beschrieben (Assoziationen zum Film „Gravity“ stellen sich bei der Lektüre ein). Auch die integrierten Ausführungen rund um den Urknall fand ich toll. Das was auf der Erde passiert, hat mich weniger gefesselt.

 

Zentrales Handlungselement ist eine Katastrophe, die durch die Kommandantin Christine ausgelöst wird. In Abwesenheit der anderen Crewmitglieder verliert sie bei einer Explosion ihr Leben und im weiteren Handlungsverlauf, geht es dann um die Frage, was eigentlich an Bord passiert ist. Die Rekonstruktion der Ereignisse steht im Vordergrund. Und die Überlebenden bemühen sich darum, das Schiff wieder in Stand zu setzen, ihre Mission fortzuführen und dann wieder zurück zur Erde zu gelangen. Die Crew ist allein auf sich gestellt und muss gleichzeitig das Problem lösen, dass mit der Explosion eine Anomalie aufgetreten ist, die das weitere Schicksal der Erde bedroht. Das bildet den roten Faden. Und dabei entdeckt die Crew auch etwas, das ihre Missionsziele in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. Allerdings fand ich das, was die Crew dann unerwartet herausfindet, nicht gut umgesetzt. Hier fehlte mir bei den Figuren vor allem die psychologische Tiefe. Und auch die Anomalie selbst blieb mir zu geheimnisvoll und nebulös. Hier hätte ich mehr Beschreibungen erwartet. Und was mir auch zu sehr auf der Strecke blieb: die Spannung. Hier haben mich vor allem „Enceladus“ und „Titan“ deutlich mehr überzeugt.

 

Letztlich fand ich auch den Klappentext irreführend. In diesem wird etwas versprochen, was dann inhaltlich nicht wirklich eingelöst wird. Die Entdeckung, die Christine macht, wird einfach nicht weiter thematisiert, man wird auf einen Nachfolgeband (oder gar Bände?) vertröstet. Das hat mir gar nicht gut gefallen. Es wird einfach zu wenig verraten, gleichzeitig wird die Neugier des Lesers aber weiter geschürt. Das hinterlässt den faden Beigeschmack, dass Leser lediglich bei der Stange gehalten werden sollen. Das ist mir bei Mars Nation 1 und Möbius 1 schon negativ aufgefallen (vgl. dazu die Rezensionen). Zumindest sollte im Vorfeld einer Reihe transparent gemacht werden, dass sich die Handlung über mehrere Bände erstreckt. Im Idealfall sollte auch die Anzahl der Bände vorher schon festgelegt werden, damit man als Leser weiß, worauf man sich einlässt. Ich würde dem Autor hier zu mehr Transparenz raten und ihm empfehlen, mehr in sich abgeschlossene Einzelbände zu schreiben (so steht „die letzte Kosmonautin“ noch auf meiner Wunschleseliste).

 

Fazit

Es handelt sich hier um eine Reihe. Das war mir im Vorfeld nicht klar. Und ich finde es einfach schade, dass sich der Autor die Auflösung zentraler Inhalte für Nachfolgebände aufhebt. Das war schon bei Möbius 1 und Mars Nation 1 so. Ich würde mich über mehr Transparenz freuen. Der Inhalt des Romans ist in meinen Augen durchschnittlich, ich habe schon Besseres von Morris gelesen (v.a. Enceladus und Titan). Die Spannung bleibt mir zu sehr auf der Strecke und die Figuren sind auch recht blass geraten. Dafür besticht das Buch wieder durch faszinierende physikalische und kosmologische Hintergründe, die geschickt in die Handlung integriert werden. Und vor allem das anschaulich und leserzugewandt verfasste Nachwort am Ende hat mir wieder sehr gut gefallen.

Samstag, 14. Januar 2023

Köhlmeier, Michael - Frankie

 


4 von 5 Sternen



Ein antipsychologischer Roman


„(…) die Frage, warum einer tut, was er tut, ist nicht so wichtig (…) Es kann sich niemand vorstellen, dass einer etwas tut und keinen Grund dafür hat. Das will sich niemand vorstellen“ (S. 86).


Diese Textstelle macht in meinen Augen deutlich, was den Roman „Frankie“ von Michael Köhlmeier ausmacht. Ich würde dieses Werk als einen antipsychologischen Roman bezeichnen, einen Roman, in dem viele Leerstellen bleiben. Leerstellen, die vom Leser selbst gefüllt werden müssen, auf die es keine Antwort gibt. Darauf sollte man sich bei der Lektüre dieses Werks einlassen wollen. Es wird sicherlich nicht jedem Leser zusagen, und auch mir war die Offenheit tatsächlich etwas zu groß. Ein paar mehr Dinge hätte ich schon noch gern erfahren (z.B. über die Beziehung zwischen Frankies Großvater und dessen Tochter etc.). Aber nun gut, es ist, wie es ist. Köhlmeier hat es getan. Fertig. Kein Warum, kein Weil. Er hat getan, fertig aus (Achtung, intertextuelle Referenz).

Was diesen Roman ausmacht, ist darüber hinaus auch die Ausgestaltung der Mutter-Sohn und der Enkel-Großvater-Beziehung. Es gibt einen deutlichen Kontrast zwischen der innigen Mutter-Sohn und der schroffen Enkel-Großvater-Beziehung. Frankies Opa wirkt forsch und direkt, er ist das Gegenteil von sanftmütig und verständnisvoll, Frankie ist von ihm eingeschüchtert. Eine große Angst des Opas: bloßgestellt zu werden. Darauf reagiert er aggressiv. Seine Selbstunsicherheit wird gut deutlich. Und er überschreitet dabei Grenzen, wird ausfallend und teilt auch aus. Er hat seine Emotionen nicht im Griff. Und die zwischenzeitlichen Annäherungen von Großvater und Enkel sind nie von Dauer, sie sind äußerst brüchig. Und eine große Frage, die im Raum steht: Was hat Frankies Großvater eigentlich für eine Tat begangen? Warum saß er 18 Jahre im Gefängnis? Und was hat er nun eigentlich vor?

Erzählt wird aus der Perspektive des 14-jährigen Frankie. Doch sein Sprachduktus und auch seine Erfahrungswelt entsprechen in meinen Augen nicht konsequent denen eines Jugendlichen. Auf mich wirkt Frankie wie ein Anachronismus, irgendwie aus der Zeit gefallen. Ob das nun absichtlich oder irrtümlich so gestaltet worden ist, wer weiß, wer weiß.

In sprachlicher Hinsicht sind die verwendeten Sätze der gesprochenen Sprache angenähert, oft sind die Konstruktionen ungelenk, auch mal umständlich. Eine Auffälligkeit sind zudem die zahlreichen Wiederholungen, die vor allem bei der Sprechweise des Opas deutlich werden, dadurch erscheint er verunsichert und tatterig („Hat sie das gesagt? Sicher hat sie das gesagt. Ich sehe dir an, dass sie das gesagt hat“, S. 45), nicht wie eine starke Figur, die auch einmal seinem Enkel gegenüber gewalttätig wird. Ein schöner Kontrast!


Fazit

Ein Roman, der einmal einen anderen Weg einschlägt und zentrale Details auslässt. Hier wird es einmal nicht psychologisch, Leerstellen und Interpretationsspielraum entstehen. Darauf muss man sich einlassen wollen. Für mich war es insgesamt dann aber doch zu offen, deshalb ziehe ich einen Stern ab. 4 Sterne von mir!

Mittwoch, 11. Januar 2023

Ravensburger Verlag (Hrsg.) - Guinness Word Records für Erstleser. Tiere


5 von 5 Sternen


Rekorde im Tierreich

 

Bei dem Buch „Guinness World Records für Erstleser. Tiere“, herausgegeben vom Ravensburger-Verlag, handelt es sich um eine lesenswerte Sammlung von Rekorden im Tierbereich. Der Inhalt gliedert sich in vier größere Kapitel: Es geht um die Größten und Kleinsten (S. 9-22), um die Schnellsten und Langsamsten (S. 23-34), um die Giftigsten und Gefährlichsten (S. 35-46) und um die Verrücktesten und Erstaunlichsten (S. 47-58).

 

Wie schon im Band zu den Dinosauriern sind auch hier die Fotos und Graphiken besonders gelungen, die Tiere werden lebensecht und realistisch präsentiert. Und die Texte sind immer dann besonders gelungen, wenn die gezeigten Tiere zur Veranschaulichung mit Bezugsgrößen in Relation gesetzt werden. Da wird die Wallace-Riesenbiene z.B. zusammen mit einem Streichholz abgebildet. Und das Zwergchamäleon wird auf einem Daumennagel sitzend gezeigt. So können die jungen Erstleser sich die Maße besonders gut vorstellen. Auch die Texte sind mehrheitlich ebenfalls anschaulich konzipiert (z.B. „Mit einem einzigen Biss kann die Schlange 110 Milligramm Gift abgeben. Das ist so viel wie 8 Esslöffel“). Das ist durchdacht und überzeugt (wie schon beim „Guinness-Dinosaurier-Buch“).

 

Im direkten Vergleich zum Guinness-Dinosaurier-Buch gefällt mir das Guinness-Tier-Buch besser, weil die Zahlenangaben vielfältiger sind. Gewichts-, Größen- und Längenangaben kommen vor, aber auch Tempo-, Datums- und Altersangaben. Auch empfand ich den Inhalt als systematisch geordneter und den Inhalt noch etwas anschaulicher. Beides sind sehr gute Bücher, aber wenn ich zwischen beiden Büchern wählen müsste, so würde ich mich für das Tierbuch entscheiden.

 

Wie schon beim Dinosaurier-Buch möchte ich auch hier anmerken, dass ich das Buch eher für schon  fortgeschrittene Erstleser geeignet  finde (ab Klasse 2), was an den Zahlenangaben liegt, die teilweise über den Zahlenraum von Hundert hinausgehen. Auch Kommazahlen kommen hin- und wieder vor. Es fehlen allerdings die schwierig auszusprechenden Dinosauriernamen, deshalb ist es vom Niveau etwas leichter als das Guinness-Dinosaurier-Buch. Anders ausgedrückt: Mit diesem Buch werden Schülerinnen und Schüler bereits beiläufig im Umgang mit Zahlen trainiert. Sie üben so, wie man verschiedene Zahlenangaben liest und ausspricht.

 

Fazit

Guinness-Rekorde sind für Kinder spannend, sie interessieren sich erfahrungsgemäß dafür. In diesem Buch liegt der Schwerpunkt auf Tieren. Gelungen sind die zahlreichen Illustrationen, die sehr realistisch wirken. Immer dann, wenn die Texte anschaulich mit Referenzwerten formuliert sind, sind sie besonders gelungen. Das Buch trainiert den Umgang mit Zahlen (die Zahlen gehen aber über den Zahlenraum von 100 hinaus), die Aussprache von Zahlenangaben wird hier gut geübt. Ich finde es noch ein bisschen besser als das Guinness-Dinosaurier-Buch und würde es für Erstleser ab Klasse 2 empfehlen. 5 Sterne von mir!

Dienstag, 10. Januar 2023

Cavanagh, Steve - Fifty-fifty


5 von 5 Sternen


Ein vertrackter Fall für Eddie Flynn


Auf Steve Cavanagh bin ich erstmals durch seinen Justizthriller „Thirteen“ aufmerksam geworden, der mir richtig gut gefallen hat (vgl. eine frühere Rezension). Aus diesem Grund wollte ich mehr von diesem Autor lesen und freute mich, dass im Goldmann-Verlag noch weitere Werke von ihm ins Deutsche übersetzt worden sind. Den Anfang macht „Fifty-fifty“ (und es werden noch weitere Bücher von Cavanagh übersetzt). Und „Fifty-Fifty“ ist eines dieser Bücher, in denen man sofort beim Lesen mitgerissen wird, weil die Grundidee schon gut ausgeklügelt ist. Ausgangsfrage: Welche Schwester sagt die Wahrheit, welche lügt? Täuscht sich Eddie Flynn mit seiner Einschätzung oder wird er Recht behalten, dass seine Mandantin die Wahrheit sagt?

 

Das Figurenensemble ist geschickt arrangiert. Wir haben zwei Schwestern, die sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe schieben, und Anwälte, die sich mit ihren Strategien gegenüberstehen. Ebenfalls gelungen: Die Perspektive der Täterin wird beleuchtet, ohne dass man weiß, um wen es sich handelt. Diese zwischengeschobenen Kapitel sind mit der Überschrift „Sie“ versehen und werden aus der ungewöhnlichen Perspektive der dritten Person geschildert (erlebte Rede!). Doch wer ist „Sie“? Die Auflösung bleibt bis zum Ende spannend! Sehr gelungen! Die Charaktere haben in meinen Augen allesamt Zugkraft, wir haben die beiden unterschiedlichen Schwestern, von denen eine als „It-Girl“ gezeichnet wird, die andere hingegen erscheint als gebrochene Figur mit psychischen Problemen. Zu Eddie Flynn muss ich nicht viel sagen. Er ist charismatisch und durch sein cleveres Agieren wird jeder Prozess zu einem spannenden Ereignis. Was ich auch sehr an ihm mag: seine unkonventionellen Methoden und seine manchmal etwas hitzköpfige Art. Ihm gegenüber steht Kate, eine Anwältin, die sich ihren Weg vor Gericht erst einmal erkämpfen muss und gerade deshalb die Sympathie des Lesers gewinnt (Die „me-too-Debatte“ lässt grüßen). Sie ist noch unerfahren und jung, aber nicht weniger gewitzt als Eddie. Eine ebenbürtige Gegnerin. Ein tolles Duell. Packend zu lesen!

 

Was mir ebenfalls gut gefallen hat, ist der Einsatz der erlebten Rede im Zusammenhang mit den Täter-Kapiteln. Eine solche erzählerische Gestaltung liest man selten und sie erfüllt eine besondere Funktion: Es wirkt, als ob ein Erzähler über die beteiligte Person spricht. Die Gedanken und Gefühle werden also nicht von der Figur selbst berichtet. Das macht Sinn, sonst würde man vielleicht schon frühzeitig erahnen, um welche der Schwestern es sich handelt. Der Erzähler ist damit ganz nah dran an der Täterin. Und der Leser nimmt die Gedanken und Gefühle vermittelt durch die Erzählerinstanz wahr. Sehr geschickt vom Autor arrangiert! Klasse! Und gleichzeitig sind die Gedankengänge der Täterin verstörend. Es wird gut eine psychopathische Persönlichkeitsstörung deutlich, und das auf realistische Art und Weise.

 

Was ebenfalls sehr schön deutlich wird (wie schon bei „Thirteen“), sind die Machtspiele zwischen den Verteidigern und der Anklage. Und was dieses Mal besonders vertrackt ist: Der Ankläger ist Gegner der Verteidigung und Eddie und Kate müssen gegeneinander antreten und zeitgleich vor der Anklage bestehen. Und zu Beginn gibt es sogar noch Rivalitäten innerhalb eines Verteidigerteams. Diese verfahrene Situation ist durchdacht und einfach kreativ umgesetzt! Ein Lob an den Autor! Der Prozess ist durch ein taktisches Agieren geprägt und das verleiht dem Ganzen in meinen Augen eine ungeheure „Triebkraft“. Eine weitere spannende Frage: Soll das Verfahren aufgeteilt werden oder nicht? Sollen beide Schwestern also in einem Prozess verurteilt werden oder in zwei voneinander getrennten Verfahren?

 

Grundsätzlich schafft Cavanagh es immer wieder, der Handlung spannungserregende Impulse zu verleihen. Es kommt keine Langeweile auf. So fand ich auch die Idee mit dem Lügendetektortest interessant und reizvoll! Auch werden punktuell immer mal wieder einige juristische Hintergründe beleuchtet (allerdings nicht in einem solchen Umfang wie noch bei „Thirteen“). Dieses Mal wird beispielsweise auf interessante Art und Weise erläutert, was es mit einem Befangenheitsantrag auf sich hat. Nicht zuletzt übten die Kreuzverhöre beim Lesen einen besonderen Reiz auf mich aus. Kurzum: Das war mit Sicherheit nicht mein letztes Buch von Steve Cavanagh!

 

Fazit

Ein Justiz-Thriller, der den Vergleich mit „Thirteen“ standhält. Der Fall ist äußerst vertrackt und wird dadurch sehr spannend. Das Zusammenspiel von Anklage und Verteidigung sowie von Kate und Eddie überzeugt. In meinen Augen stimmt in diesem Thriller einfach alles. Auch die Auflösung am Ende ist packend und wendungsreich. Solche Bücher gibt es selten, deshalb ganz klar 5 Sterne!

Freitag, 6. Januar 2023

Ravensburger-Verlag (Hrsg.) - Guinness Word Records für Erstleser. Dinosaurier

 


5 von 5 Sternen


Dino-Rekorde

 

Bei dem Kinderbuch „Guinness World Records für Erstleser. Dinosaurier“, herausgegeben vom Ravensburger-Verlag handelt es sich um eine lesenswerte Sammlung von Rekorden im thematischen Bereich der Dinosaurier. Der Inhalt gliedert sich in vier größere Kapitel: Es geht um eindrucksvolle Größen- und Gewichtsangaben (S. 9-28), um den Dinosauriernachwuchs (S. 29-35), um die Forschung zu den Riesenechsen (S. 35-50) und um Dinosaurier in heutiger Perspektive (S. 51-59).

 

Gelungen sind in meinen Augen die zahlreichen Fotos und Graphiken. Zur Veranschaulichung werden die Dinosaurier mit Bezugsgrößen in Relation gesetzt. Da wird der 60m lange Amphicoelias z.B. vor einem Flugzeug abgebildet oder der Argentinosaurus steht zusammen mit 10 Elefanten auf der Waage. So können die jungen Erstleser sich die Maße besonders gut vorstellen. Auch die Texte sind mehrheitlich ebenfalls anschaulich konzipiert (z.B. „Der Hals des Sauroposeidon war so lang wie ein Linienbus“). Das ist durchdacht und überzeugt. Hinzu kommen Bilder, auf denen die Dinosaurier sehr lebensecht aussehen. Die Bilder haben in den meisten Fällen die Qualität einer Fotografie, was für ein hohes Maß an Realismus sorgt. Auch das ist lobenswert.

 

Allerdings finde ich das Buch eher für fortgeschrittene Erstleser geeignet (ab Klasse 2). Einerseits aufgrund der schwierig auszusprechenden Dinosauriernamen, andererseits aufgrund der vielen Zahlenangaben, die teilweise über den Zahlenraum von Hundert hinausgehen. Auch Kommazahlen kommen hin- und wieder vor. Allerdings kann man natürlich auch Leseanfänger aus der ersten Klasse auf diese Weise fordern, man sollte sie nur nicht überfordern. Positiv formuliert: Mit diesem Buch werden Schülerinnen und Schüler bereits beiläufig im Umgang mit Zahlen trainiert. Sie üben, wie man Längen-, Höhen- und Breiten- sowie Gewichtsangaben liest und ausspricht. Es ist aber sicherlich hilfreich, wenn man die Kinder beim Lesen etwas unterstützt.

 

Fazit

Guinness-Rekorde sind für Kinder spannend, sie interessieren sich dafür. In diesem Buch liegt der Schwerpunkt auf Dinosauriern. Gelungen sind vor allem die zahlreichen Illustrationen, die sehr realistisch wirken. Immer dann, wenn die Texte anschaulich mit Referenzwerten formuliert sind, sind sie besonders gelungen. Das Buch trainiert den Umgang mit Zahlen (die Zahlen gehen aber über den Zahlenraum von 100 hinaus), die Aussprache von Zahlenangaben wird hier gut trainiert. Ich würde es für Erstleser ab Klasse 2 empfehlen und vergebe 5 Sterne.

Mittwoch, 4. Januar 2023

Lylian - Die Giganten 1. Erin


5 von 5 Sternen



Erin und Yrso - eine symbiotische Beziehung

Bei dem Comic „Die Giganten 1. Erin“ handelt es sich um den ersten Teil einer sechsteiligen Reihe. In dieser Reihe werden nach und nach verschiedene Heldinnen und Helden mit ihren gigantischen Freunden eingeführt, die in einer besonderen, harmonischen Beziehung stehen. In diesem ersten Band steht Erin im Vordergrund. Erin ist ein Mädchen mit einem starken Charakter, das früh seine Eltern verloren hat. Sie hat einen grünen Daumen und interessiert sich sehr für Flora und Fauna.

Eines Tages lernt Erin zufällig ihren Giganten Yrso kennen, der sie gegen eine Jungenbande verteidigt. Und Yrso eröffnet Erin, dass es noch mehr Giganten und einen uralten Konflikt in ihrer Welt gibt. Zudem wird gut deutlich, dass beide in einer besonderen Beziehung zueinander stehen. Sie leben in einer Art Symbiose und Yrso kann dafür sorgen, dass Erin die Welt der Pflanzen wahrnimmt. Mit seiner Hilfe kann Erin auch Pflanzen wachsen lassen.

Doch Yrso wird bedroht. Ein Forschungsteam ist hinter ihm her. Und im Eis von Grönland wird ein weiterer Gigant gefunden, der Yrso und den anderen Giganten feindlich gesinnt ist. Am Ende des ersten Bands bleiben viele Fragen offen, so dass man zum Weiterlesen animiert wird: Welche Ziele verfolgt das Forschungsteam in Grönland? Was hat es mit dem Multimilliardär Crossland auf sich? Er wirkt sehr bedrohlich. Wie geht es mit Erin und ihrem Giganten weiter? Wohin werden sie gehen? Werden sie die anderen Giganten suchen und finden? Und wird es zum Kampf mit Alyphar kommen?

Es ist davon auszugehen, dass in jedem Band weitere Figuren und weitere symbiotische Beziehungen eingeführt werden. Vermutlich wird es dann im letzten Band ein großes Finale geben. Grundsätzlich habe ich keine Verbesserungsvorschläge zu unterbreiten. Es gibt einen klaren roten Faden, die Figuren erhalten einen passenden Charakter und ein erkennbares Profil. Interessant gestaltet fand ich die Kommunikation zwischen Erin und ihrem Giganten. Auch die Leserichtung war immer eindeutig. Die Bilder sind strukturiert angeordnet. Der Text ist in ausreichendem Umfang vorhanden.

Was mir auch gut gefallen hat: Es gibt häufiger einmal Schnitte wie im Film. Dann folgen geschickt platzierte Szenenwechsel. Und auch Überblendungen werden punktuell eingesetzt. Auch die atmosphärische Gestaltung hat mir gefallen, insbesondere wenn der Gigant auftritt, werden die Bildsequenzen auch einmal düster und unheimlich. Der Zoom auf die Augenpartie sorgt dann für eine weitere Dramatisierung.

Fazit

Für Kinder, die gern Comics lesen, ist diese Reihe sicherlich empfehlenswert. Im Zentrum stehen Heldinnen und Helden mit ihren jeweiligen Giganten, zu denen eine Vorgeschichte deutlich wird und die in einer besonderen Beziehung zu ihren Schützlingen stehen. Ich finde es geschickt gemacht, dass man direkt von Anfang an weiß, wie viele Bände diese Reihe umfasst und dass schon klar ist, worum es in den einzelnen Bänden jeweils ungefähr gehen wird. Man ist neugierig darauf, weitere Charaktere kennenzulernen und weitere Hintergründe zu den Forschungsteams und ihren Plänen aufzudecken. Auch wartet man schon jetzt auf das Duell mit Alyphar.

Montag, 2. Januar 2023

Arno Geiger - Das glückliche Geheimnis


4 von 5 Sternen


Ein Suchender


In seinem autobiographischen Werk „Das glückliche Geheimnis“ beschreibt Arno Geiger sein Leben als suchender Schriftsteller. Was ihn auszeichnet: Seine Liebe zu Büchern und zu Briefkonvoluten. Aus Weggeworfenem bezieht er seinen Lesestoff und verdient mit dem Verkauf solcher Werke in den Studentenjahren seinen Lebensunterhalt. Es wird deutlich, mit welcher Leidenschaft er seinem Treiben nachgeht. Im Rahmen seiner Recherchen und Lektüren eignet sich Geiger nicht nur viel Wissen, sondern auch Menschenkenntnis an. Eine wichtige Vorbedingung für seinen Erfolg als hoch gelobter und mehrfach ausgezeichneter Schriftsteller.

 

Die Beschreibungen empfand ich allesamt als recht grob, nicht detailliert. Ich hatte schon das Gefühl, dass der Autor seine Leser bei allen privaten Einblicken, die er gewährt, noch auf genügend Abstand halten will (was auch völlig in Ordnung ist). Geiger bleibt oft im Abstrakten und Vagen, einiges wird nur angedeutet und angerissen. Dennoch gibt es zahlreiche Passagen, die ich sehr interessant fand, so z.B. die Beschreibung der Phase des Stillstands, als Geiger feststeckte und in seinem literarischen Schaffen auf der Stelle trat. Diese Phase bezeichnet der Autor als depressives Intermezzo.

 

Auch fand ich solche Textstellen aufschlussreich, wo Geiger Auskunft über die Verlagsarbeit gibt, auch über den Umgang von Verlagsmitarbeitern mit seiner Person und seinem Werk. Hier wird schon gut deutlich, wie schwer man es als Schriftsteller hat, sich zu etablieren, und wie sehr man abhängig ist von den Entscheidungen anderer. Man benötigt scheinbar einen „langen Atem“. Und irgendwie ist es schon bitter zu lesen, dass Geiger sich bei der Arbeit an seinem dritten Buch vom Verlag eher entmutigt als ermutigt fühlte.

 

Auch solche Passagen, an denen Geiger Einblick in den Entstehungsprozess von Werken gibt, finde ich äußerst interessant. So wird auch sehr klar, dass die Arbeit als Schriftsteller anstrengend und auch kraftraubend ist. Ein Buch zu vollenden, erscheint als regelrechter Leidensprozess. Auch interessant: Durch die Verleihung eines Buchpreises ändert sich das Leben von Geiger plötzlich völlig. Dabei berichtet der Autor auch offen darüber, welche Schattenseiten der Erfolg hat.

 

Sehr bereichernd fand ich auch die Ausführungen zu der Frage, was literarische Qualität ausmacht. Und nach Geiger ist es eben nicht die Stilisierung eines Textes, sondern der Umstand, dass das Geschriebene alltäglich und unbekümmert sowie aufrichtig verfasst ist. Weiterhin fand ich Geigers Bemerkungen zum Thema der Lebenserfahrungen und zu der Frage, was Texten Leben einhaucht, lesenswert. Letztlich finde ich beeindruckend, was Geiger in Weggeworfenem für „Schätze“ geborgen hat und was er daraus gemacht hat. Das Entsorgte verleiht seinem künstlerischen Schaffen erst wichtige Impulse. Ohne die Briefkonvolute z.B. wäre „Unter der Drachenwand“ in dieser Form wohl nie entstanden.

 

Was mich grundsätzlich weniger angesprochen hat, waren die Beschreibungen des Familienlebens mit den tragischen Schicksalsschlägen und die der Frauengeschichten. Das mag anderen Lesern aber vermutlich ganz anders gehen. Geiger selbst bemerkt schon selbst sehr treffend, dass bei seinem Buch jeder Leser seine eigenen Anknüpfungspunkte finden wird. Man sollte keinen chronologisch geordneten Text erwarten.

 

Fazit

Ein Buch, in dem wohl jeder Leser, der sich für die Person Arno Geiger interessiert, etwas Wissenswertes über ihn erfährt. Manchmal hätte ich mir gewünscht, dass der Autor an den für mich interessanten Textstellen noch mehr in die Tiefe geht und Dinge ausführlicher schildert, deshalb vergebe ich 4 Sterne und keine 5 Sterne.

Sonntag, 1. Januar 2023

Gable, Rebecca - Drachenbanner


3 von 5 Sternen


Nicht aus einem Guss


Das Werk „Drachenbanner“ von Rebecca Gable ist ein umfangreiches Buch, das insgesamt vier Teile umfasst. Ich nehme mein Fazit einmal vorweg: Die ersten beiden Teile, die in den Jahren 1238-1248 angesiedelt sind und ungefähr die Hälfte des Buchs ausmachen, haben mir gut gefallen. Eindrucksvoll und lebendig werden hier das Leben in Leibeigenschaft und das am Hofe beschrieben, und zwar am Beispiel der beiden Charaktere Adela von Waringham und dem Leibeigenen Bedric. Vor allem die Figurenzeichnung von Bedric empfand ich als sehr gelungen. Doch dann kommt es zu einem Bruch. Es gibt einen Zeitsprung von 10 Jahren und es folgen Teil 3 (1258-1259) und Teil 4 (1263-1265). Diese zweite Hälfte des Buchs hat mich dann weniger überzeugt.

 

Doch warum empfand ich das so? Im ersten Teil ist die Charakterzeichnung, in meinen Augen vor allem die von Bedric, absolut überzeugend gestaltet worden. Wir verfolgen sein Schicksal und leiden v.a. mit ihm mit. Es wird den Lesern lebendig vor Augen geführt, wie sich das Leben als Leibeigener anfühlt und wie es wohl gewesen sein mag, im 13. Jh. von dem Willen eines Grundherrn abhängig zu sein. Bedric ist ausgeliefert, er hat keine Rechte. Er muss Schikanen und Ungerechtigkeiten erdulden, doch er hat ein Ziel vor Augen: die Freiheit. Und er benimmt sich nicht wie der typische Leibeigene, sondern leistet Widerstand und zeigt oft Mut (oder Leichtsinn?), indem er sich widersetzt. Man fiebert mit ihm mit. Die Geschichte um Bedric fesselt und die detailgetreue, realistische Schilderung der Lebensumstände überzeugt. Das Machtgefälle, die Hierarchien und die Unterordnung kommen sehr anschaulich zum Ausdruck. Man erhält einen authentisch anmutenden Einblick in das Leben von Leibeigenen sowie in das bäuerliche und dörfliche Leben allgemein. Am Beispiel der Zwangsheirat von Eldrida, der Mutter von Bedric, mit Wigot wird die Rechtlosigkeit z.B. gut deutlich.

 

Auch Adelas Charakterisierung ist gelungen. Sie erscheint als starke, wehrhafte Frauenfigur, die sich auch gegen übergriffige Männer wehrt. Und es ist gut, dass bei der Vielzahl der auftretenden Figuren die beiden Protagonisten Bedric und Adela den roten Faden bilden. Sie stehen klar im Mittelpunkt und geraten auch nicht aus dem Blick (zumindest in Teil 1 und Teil 2). Das ist gut! Und es ist auffällig, mit welcher Detailverliebtheit die Autorin die Handlungselemente ausschmückt. Ihr Schreibstil wirkt unheimlich informationsreich, aber nicht überladen. Bis ins kleinste Detail werden die Situationen beschrieben, so dass ein sehr gutes Bild vorm inneren Auge entsteht. Und gerade das erzeugt den Realismus und die Authentizität. Toll!

 

Die Fragen, die mir während des Lesens in den Sinn kamen, waren die folgenden: Werden Adela und Bedric zusammenfinden? Werden sie die Standesschranken überwinden? Und wie wird sich ihre Beziehung zueinander entwickeln? Wer jetzt aber befürchtet, es handele sich nur um eine reine Liebesgeschichte, die erzählt wird, den kann beruhigen. Dem ist (glücklicherweise!) nicht so. Denn es gibt einen weiteren roten Faden in diesem Buch: Wird Bedric die Freiheit erlangen? Wenn ja, wie? Und vor allem letzterer Handlungsstrang hat mich emotionalisiert.

 

Nun zu dem, was ich kritisch sehe: Teil 3 und Teil 4. Für mich geraten die beiden zentralen Figuren, Bedric und Adela, zu sehr aus dem Blickfeld. Sie spielen zwar noch eine Rolle, kommen immer einmal wieder vor, stehen aber längst nicht mehr so im Fokus wie in der ersten Hälfte des Buchs. Dachte ich erst noch, dass es sich um einen Entwicklungsroman handelt, in dem es um die Charakterbildung von Adela und insbesondere von Bedric geht, so hat sich diese Erwartung ab der Hälfte des Buchs immer mehr zerschlagen. Das fand ich sehr schade! Ich empfand die Lektüre ab dem dritten Teil teilweise zu überfrachtet mit historischen Details (Das kann aber anderen Lesern natürlich ganz anders gehen). Das liegt daran, dass in der zweiten Hälfte des Buchs die historischen Figuren auf einmal viel mehr ins Zentrum der Handlung rücken, und das, obwohl sie in der ersten Hälfte des Buchs nur marginal eine Rolle spielten.

 

Ich musste mich nach dem Zeitsprung von 10 Jahren (Beginn von Teil 3) erst einmal orientieren und wieder „einlesen“. Die Handlung geht (leider!) nicht unmittelbar flüssig weiter. Stattdessen hat sich die Autorin für eine Art Zäsur entschieden. Das Figurentableau wechselt. Andere (v.a. historische) Figuren rücken plötzlich in den Fokus. Politik und Ränkelspiele treten in den Vordergrund. Das Thema der Leibeigenschaft ist dadurch nicht mehr so präsent, die Figur mit der größten Zugkraft gerät aus dem Blick: Bedric. Die Handlung „zerfasert“ mir zu sehr. Es wurde mir zu trocken. Und das wirkte sich auch auf mein Lesevergnügen aus. Ich habe die zweite Hälfte des Buchs nicht mehr mit einer solchen Faszination und Besessenheit gelesen wie die erste Hälfte. Vielleicht hätte dem Roman doch eine Kürzung gut getan? Für mich hat das Werk ab Teil 3 an Erzählkraft verloren (andere Leser werden aber gerade die Darstellung von Politik und Ränkelspielen vielleicht mögen).

 

Fazit

Das Werk gliedert sich für mich in zwei Teile. In der ersten Hälfte des Buchs ist das Thema der Leibeigenschaft zentral. Bedric ist darin die Figur mit Zugkraft, mit ihm leidet man mit. In der zweiten Hälfte spielt dann das eine Rolle, was in der ersten Hälfte zu kurz kam: Politik und Ränkelspiele. Auf einmal treten viele historische Figuren in den Vordergrund. Für mich verlor das Werk dadurch an Erzählkraft. Denn ein Roman braucht einfach starke Figuren, mit denen man mitfiebert. Die fehlten mir ab Teil 3 zu sehr. Deswegen kann ich auch nur 3 Sterne vergeben. Für mich hätte die Autorin sich klarer entscheiden müssen, welchen Weg sie einschlagen will. Das Werk wirkt dadurch „unrund“. Die Wechsel der Figurentableaus tun dem Buch nicht gut.

Peterson, Phillip P. - Nano


5 von 5 Sternen


Tschernobyl 2.0

Bis auf die vollständige Transport-Reihe habe ich von Phillip P. Peterson alle Bücher gelesen. Oft habe ich sie in einem Rutsch innerhalb weniger Tage durchgelesen. Was ich an seinen Büchern immer sehr schätze: Er kann absolut packend und spannend erzählen, seine Bücher zeichnen sich durch einen klaren roten Faden aus und man will stets wissen, wie es weitergeht. Nicht jeder Autor schafft es, seine Leser so zu fesseln. Das ist ganz klar eine Qualität. Trotzdem war ich in der Vergangenheit oft kritisch, insbesondere die Figurenzeichnung habe ich oft bemängelt (vgl. frühere Rezensionen).

 

Nun habe ich sein neuestes Werk „Nano“ gelesen und bin begeistert. Ich konnte es kaum aus der Hand legen und fand den Spannungsbogen absolut gelungen konzipiert. Und die Charakterisierung der Figuren geht für einen Thriller völlig in Ordnung, die psychologische Tiefe ist vorhanden. Man fiebert mit den Protagonisten mit und kann mit ihnen mitfühlen. Während des Lesens entstehen folgende Fragen: Wo führt diese Katastrophe noch hin? Lässt sie sich eindämmen? Und wenn ja, wie?

 

Und der Autor bietet uns inhaltlich nun einmal etwas anderes. Es geht einmal nicht um Raumfahrt oder eine kosmologische Katastrophe. Nein, dieses Mal legt Peterson einen Wissenschaftsthriller vor, bei dem es vor allem um die Schilderung eines fehlgeschlagenen Experiments geht. Das vorgestellte Horror-Szenario nimmt dabei immer größere und unvorstellbarere Ausmaße. Erinnerungen an Tschernobyl werden bei der Lektüre wach.

 

Durch geschickte Perspektivwechsel wird das Ereignis aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet. Wir haben Leute, die direkt an der Einsatzstelle vor Ort agieren, wir haben Politiker, die schwierige Entscheidungen treffen müssen und von außen durch Experten beraten werden. Und wir haben eine junge Mutter, die bei der Katastrophe ihren Mann verliert und mit ihrer Tochter Massenpanik und Flucht durchleben muss.

 

Was mir auch gut gefallen hat, der Thriller nimmt sich auf den ersten Seiten erstmal Zeit, die Figuren in Ruhe einzuführen. Auch eine Kritik am Wissenschaftsbetrieb und an der Mittelvergabe wird auf den ersten Seiten gut deutlich. Zudem fließt dieses Mal auch eine politische Seite mit in die Handlung ein und wird gut in den Blick genommen, ebenso wie das (misslungene) Krisenmanagement und das Kompetenzgerangel.

 

Auch spielt der Autor gekonnt mit dem Erzähltempo. Es gibt zwischenzeitlich immer einmal wieder ruhigere Passagen zum Durchatmen, dann zieht das Tempo wieder an und die Seiten verfliegen nur so. Der Autor versteht es hervorragend, der Handlung immer wieder neue Impulse zu verleihen, so dass die Lektüre nie langatmig wird. Und die Taktung der Ereignisse nimmt zum Ende hin immer weiter zu. Die „Spannungsschraube“ wird geschickt immer weiter nach oben gedreht. Der Schreibstil ist durchgängig packend und mitreißend.

 

Zwischendurch gibt es auch drastischere Passagen, in denen Menschen zu Schaden kommen oder ihr Leben verlieren. Solche Textstellen gehen schon ganz schön unter die Haut. Teilweise hatte ich schon grausige Bilder im Kopf. Ich war schon ganz froh, dass der Autor es aber nicht mit solchen Sequenzen übertreibt, sonst wäre es doch zu sehr ins horrormäßige abgedriftet.

 

Natürlich muss man sich auf das Szenario, das der Autor hier entwirft, einlassen. Man sollte beim Lesen nicht zu viel hinterfragen. Die Lektüre von Petersons Büchern lässt sich in meinen Augen gut mit dem Schauen eines Blockbusters vergleichen. Vielleicht ist Peterson sogar der Roland Emmerich des deutschen Buchmarkts. Man wird sehr gut unterhalten und wie im Kino krallt man sich beim Lesen des Öfteren in seinem Sessel fest, weil man unbedingt wissen will, ob und wie die Katastrophe eingedämmt wird.

 

Das einzige, was ich dieses Mal etwas kritisch beleuchten kann, ist der Umstand, dass manches, was sich der Autor ausdenkt etwas schwarz-weiß ist. So wird bei den Politikern z.B. schon oft das Klischee bedient, dass es sich bei ihnen um egozentrische, machthungrige Karrieristen handelt. Auch hätte er sich am Ende ruhig mehr Zeit nehmen können, das Setting „auszuerzählen“. Aber sonst habe ich nichts zu bemängeln.

 

Fazit

Für mich das bisher beste Buch aus der Feder von Phillip P. Peterson. Das Werk überzeugt durch einen ausgefeilten Spannungsbogen und einen packenden, mitreißenden Schreibstil. Der Autor versteht es, der Handlung immer wieder neue spannungserregende Impulse zu versetzen, so dass keine Längen entstehen. Man fiebert mit den Protagonisten mit und will wissen, ob die Katastrophe abgewendet werden kann und wenn ja, wie. Lediglich das Ende wirkte etwas zu überstürzt erzählt. Ich vergebe 5 Sterne. Bücher, die so fesseln, gibt es nur wenige.