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Montag, 17. April 2023

Weßling, Bernhard - Der Ruf der Kraniche


5 von 5 Sternen




Kenntnisreich, faszinierend und spannend


Über viele Jahre hinweg beobachtete der Autor Bernhard Weßling, zugleich promovierter Chemiker und erfolgreicher Unternehmer, in seiner Freizeit Kraniche und stellte sich dabei immer wieder die Frage, wie die Vögel mit ihnen unbekannten Situationen umgehen und wie sie sich verhalten, wenn andere Tiere oder auch Menschen ihr Brutgeschäft oder die Nahrungsaufnahme stören. Weßling hat sich in die Verhaltensforschung eingearbeitet und geht dabei auch der überaus interessanten Frage nach, wie Denken eigentlich funktioniert. All seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen legt er in seinem sehr lesenswerten Buch „Der Ruf der Kraniche. Expeditionen in eine geheimnisvolle Welt“ zugrunde, das seit März 2023 als Taschenbuchausgabe vorliegt. Und schon auf den ersten Seiten wird deutlich, mit welchem Respekt der Autor die Natur betrachtet. Auch merkt man dem Autor seine Begeisterungsfähigkeit und Leidenschaft während der Lektüre an. Seine Liebe zu den Tieren ist offenkundig. Das macht wirklich Spaß! Der Schreibstil ist sehr lebendig.

 

Kapitel 1 – Wie alles anfing

Weßling schildert hier auf anschauliche Art und Weise, welcher Bedrohung brütende Kranichpaare ausgesetzt sind und beschreibt seine Tätigkeit als Kranichwächter. Eine der möglichen Bedrohungen ist z.B. der Eierdiebstahl.

 

Kapitel 2 – Kranichwissen kompakt: die Mythen und die Fakten

Hier führt der Autor einige Fakten zur Evolutionsgeschichte der Kraniche an und erläutert auch an einigen Beispielen ihre kulturgeschichtliche Bedeutung. Ebenfalls folgen einige Bemerkungen zum Bestand der Vögel. Zudem erfährt man einige Hintergrundinformationen zu den Tieren (Nahrung, Größe, Gewicht, Konflikte mit der Landwirtschaft, Ernährung, Flugleistung, Lebenserwartung). Nicht zuletzt wird auf bestehende Forschungslücken hingewiesen. In diesem Zusammenhang merkt Weßling an, dass es kaum Arbeiten zum Verhalten der Vögel gibt.

 

Kapitel 3 – Problemlösungen, Ballett-Balz und Fuchsalarm: Wie kommunizieren Kraniche miteinander?

Anhand eines beobachteten Kranichpaares verdeutlicht der Autor, dass er bei den Vögeln Intelligenz und Erfindungsgabe festgestellt hat. Er erkennt darin eine Anpassungsleistung. Am Beispiel der Balz beschreibt Weßling, dass die Tiere sich nicht einer Norm entsprechend verhalten. Stattdessen sei festzustellen, dass jeder Tanz für sich genommen einzigartig ist. Es fällt auf, dass der Autor bei seinen Beschreibungen sehr detailliert vorgeht. Eine weitere interessante Frage, der sich Weßling widmet: Können sich Kraniche verständigen? Hier verweist er auf das Phänomen des gleichzeitigen Abflugs und äußert einige spannende Vermutungen, was Kommunikationsstechniken angeht. So seien auch der Prozess der Entscheidungsfindung und Abwägungsprozesse beobachtbar, z.B. wenn es darum geht, ein Revier auszuwählen. Vor allem die Körpersprache diene als Mittel zur Verständigung, so der Autor. Haben die Tiere etwa Kriterien, nach denen sie die Güte eines Reviers beurteilen? Weßling meint, ja.


Kapitel 4 – Ankunft im Brook nach Rückflug aus dem Winterquartier: Allein oder in Gruppen?

Den Autor bewegen aufgrund einer überraschenden Beobachtung (ein großer Kranichtrupp flog einen Umweg, ein einziges Paar lässt sich aus der weiterfliegenden Gruppe in sein Revier fallen) folgende Fragen: Kommunizieren die Kraniche ihre Reiseabsichten? Und wenn ja, wie? Warum nehmen nicht alle Vögel die Hauptzugroute? Welche Planungs-, Navigations- und Kommunikationsleistungen stecken hinter dem beobachtbaren Verhalten? Auch meint der Autor, Emotionen bei den Vögeln entdeckt zu haben, so z.B. Freude über die Rückkehr.

 

Kapitel 5 – Brutsaison: eine tragische Liebesgeschichte

Auch hier beschreibt der Autor eine beobachtete Emotion: Trauer. Dies verdeutlicht er am Beispiel eines Kranichpaares, bei dem ein Partner verschwunden ist, möglicherweise gewildert. Er beschreibt, wie der verbliebene Partner mit wehleidigen Klagerufen Kreisflüge unternommen habe, um nach dem Gefährten Ausschau zu halten. Weßling schreibt den Vögeln Gefühle zu und weist selbst daraufhin, dass seine Einschätzung womöglich als unwissenschaftlich ausgelegt werden kann. Er ist sich darüber bewusst, dass es sich lediglich um Interpretationen handelt. Die Leser:innen müssen für sich selbst entscheiden, ob sie dem Autor bei seiner Argumentationslinie folgen oder nicht. Überzeugend ist seine Interpretation in meinen Augen auf jeden Fall.

 

Kapitel 6 – Kampfläufer, Seeadler und andere Brookbesucher: Was Kranichbewacher so alles erleben können

Weßling beschreibt in diesem Kapitel seine Tätigkeit als Kranichschützer im Brook und schildert, mit welchen Herausforderungen er sich dabei auseinanderzusetzen hatte, aber auch, welche außergewöhnlichen Naturbeobachtungen dabei möglich sind.

 

Kapitel 7 – In der Schule des Lebens

Selbstkritisch hält der Autor zu Beginn dieses Kapitels fest, dass seine Forschungen als "unwissenschaftlich" und seine Beobachtungen als "anekdotisch" abqualifiziert werden könnten. Das wissenschaftliche Prinzip der Wiederholbarkeit sei nicht gewährleistet. Er plädiert aber dafür, die Tiere bei entsprechenden Forschungen in freier Wildbahn zu beobachten, um den Beobachtereffekt durch den Menschen auszuschließenUnter kontrollierten Bedingungen im Labor seien nur Verhaltensweisen beobachtbar, die in freier Natur nicht vorkommen. Und von dem beobachtbaren Verhalten ließen sich durchaus Hypothesen ableiten. So beschreibt Weßling, dass Kraniche ihre Umgebung sehr aufmerksam beobachten. Auch meint er, bei ihnen ein Zeitgefühl erkannt zu haben. Am Beispiel des Fliegenlernens verdeutlicht der Autor das Prinzip der Imitation. Während der Lektüre habe ich mir die Frage gestellt, ob nicht auch Videoaufnahmen dabei helfen könnten, eine größere Objektivität des beobachtbaren Verhaltens zu erzielen. Wenn eine Situation von verschiedenen Forschern ähnlich interpretiert würde, dann hätten die Ergebnisse womöglich eine noch größere Aussagekraft.

 

Kapitel 8 – Der Sprache der Kraniche auf der Spur: Sie rufen und erzählen so von ihrem Leben

Weßling äußert den Wunsch, die verschiedenen Kraniche individuell erkennen und wiedererkennen zu können. Und ihn packt die geniale Idee, Kraniche anhand von Aufnahmen ihrer Rufe individuell zu identifizieren. Mit Hilfe eines leistungsfähigen Richtmikrofons und einem digitalen Aufnahmegerät startet er die ersten Aufnahmeversuche. Und über einen Zeitraum von mehreren Wochen entstehen zahlreiche Aufnahmen. Und Weßling hält fest, dass die Vögel nicht nur über ihre Körpersprache, sondern auch vokal miteinander kommunizieren. Der Autor entdeckt eine Art „Abflugs-Abstimmungs-Laut“ sowie „gurrende“ und „kullernde“ Kontaktlaute. Er entwickelt ein eigenes Forschungsdesign, bei dem er auch die Rufe mit Programmen näher analysiert. So möchte er individuellen Unterschieden auf die Spur kommen. Und tatsächlich entdeckt der Autor einen akustischen Fingerabdruck, der für einzelne Individuen und Paare charakteristisch ist. Er arbeitet heraus, dass es bei der Revierbesetzung und -auswahl sowie bei der Revier- und Partnertreue viel komplizierter und dynamischer zugeht, als zunächst in der Forschung angenommen. Weßling betritt mit diesem Forschungsdesign neue Pfade in der Wissenschaft. Mit seiner Forschung zeigte er, dass es möglich ist, die Geschichte einer Kranichpopulation in einem gewissen Gebiet über mehrere Jahre hinweg zu dokumentieren und individuelle Biographien einiger Paare festzuhalten, ohne dass die Kraniche beringt werden müssen (also „störungsfrei“). Faszinierend! Und noch dazu auch genial! Spannend zu lesen, wie eine Idee immer mehr Konturen annimmt und den Weg für etwas Neues bereitet.

 

Kapitel 9 – Aufbruch in die weite Welt: Asiatische und amerikanische Kranicharten rufen mich

Hier wird die in den USA entstandene Organisation „International Crane Foundation“ (ICF) und deren Initiativen zum Schutz der Kraniche vorgestellt. Der Autor beschreibt, wie er auch von anderen Kranicharten Aufnahmen der Rufe anfertigt. Der Schreikranich rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit, eine sehr bedrohte Art. Weßling wird mit seiner Methode Teil eines größeren Projekts zur Rettung der Schreikraniche. Dabei werden auch die Unterschiede dieser Art zu den grauen Kranichen erläutert.

 

Kapitel 10 – Forschungs-Abenteuer: Mandschurenkraniche belauschen bei minus 25 Grad und bewacht von Grenzsoldaten

Weßling nimmt auch Rufe von japanischen Mandschurenkranichen auf. Er hat seine Methode dabei modifiziert und spielt den Kranichen per Megaphon aufgenommene Rufe vor, um auf diese Weise eine mögliche Reaktion in Form von Duettrufen zu provozieren. Der Autor lässt uns lebhaft teilhaben an seinen Untersuchungen: Akzeptieren die Kraniche die Rufe von CD? Antworten sie darauf, weil sie ihr Revier verteidigen wollen? Das liest sich äußerst spannend. Und der Autor geht sogar noch einen Schritt weiter: In der demilitarisierten Zone an der Grenze zu Nordkorea erforscht er eine weitere Population von Mandschurenkranichen. Werden diese auf die Rufe ihrer japanischen Verwandten reagieren? Ich will an dieser Stelle nicht zu viel verraten.

 

Kapitel 11 – Das Abenteuer geht weiter: bei den wilden Schreikranichen

Der Autor sucht das sehr abseits gelegene Winterquartier von Schreikranichen in den USA auf (im Aransas National Wildlife Refuges, Texas) und beschreibt, mit welchen Herausforderungen er bei seinen Forschungen zu kämpfen hatte. Wird er es schaffen, Duett- und Warnrufe aufzuzeichnen und verschiedene Revierpaare ausfindig zu machen? Es ist einfach bewundernswert, mit welcher Akribie und mit welcher Ausdauer Weßling sein Vorhaben verfolgt. Auch seine Demut vor der Natur ist jederzeit spürbar. Ein wirklich sehr interessantes Kapitel!

 

Kapitel 12 – Wir fliegen los: der schwere Weg zur Migrations-Flugschule

In diesem Kapitel wird ein Auswilderungsprojekt von Schreikranichen mit Ultraleichtflugzeug näher beschrieben. Sein wertvollstes Forschungsprojekt, wie Weßling selbst äußert. Auf sehr interessante Art und Weise erläutert er die Vorgeschichte zum genannten Projekt und verweist auf Probleme, Teilerfolge sowie Herausforderungen.

 

Kapitel 13 – Was können wir über Intelligenz, Zugverhalten, Kulturbildung, Werkzeuggebrauch und Selbstbewusstsein bei Kranichen lernen?

Inwieweit ist das Zugverhalten der Kraniche genetisch bestimmt? Weßling führt einige Argumente an, die gegen eine genetische Festlegung sprechen. Er meint vielmehr, die Entwicklung einer „Zugkultur“ beobachtet zu haben. Es zeige sich, dass viele Kraniche den Flugweg wechseln. Spannend sind zudem die Ausführungen des Autors über ein mögliches Bewusstsein bei den Vögeln. Erkennen Kraniche womöglich ihre eigenen Rufe?

 

Kapitel 14 – Können Kraniche strategisch denken? Weitere erstaunliche Beobachtungen

Der Autor stellt weitere Thesen in den Raum: Verfügen Kraniche womöglich über ein episodisches Gedächtnis? Gehen sie strategisch geplant vor? Haben sie gar eine Art Moralkodex? Hier muss man sich natürlich wieder ins Gedächtnis rufen, dass es sich um Interpretationen des Autors handelt. Er argumentiert aber auf Grundlage seiner zahlreichen Beobachtungen durchaus nachvollziehbar und plausibel. Dennoch bedarf es dazu weiterer Belege und Untersuchungen (womöglich in Form von Videographie?).

 

Kapitel 15 – Kraniche sind Subjekte. Plädoyer für mehr Bescheidenheit und Respekt vor der Natur.

Abschließend plädiert Weßling für mehr Bescheidenheit und Respekt vor der Natur. Er unterbreitet dafür viele konkrete Vorschläge.

 

Anhang

Hier werden noch einige Einzelbeobachtungen zusammengefasst, die in den vorangegangenen Kapiteln keine Berücksichtigung mehr gefunden haben. Dazu gehört z.B. die Auflistung von beobachteten Emotionen, Erlebnisse mit einem flugunfähigen Kanada-Kranich sowie Manöver der Täuschung und Taktik bei Mandschurenkranichen etc.

 

Abschließende Bemerkungen zur englischen Ausgabe

Anders als in der deutschsprachigen Ausgabe findet man die Fußnoten unter dem Text und nicht in Form von Schlussbemerkungen. Auch sind den einzelnen Kapiteln passende Fotos und Karten zugeordnet. In der deutschsprachigen Ausgabe findet man die Fotos und Karten an zwei Stellen gesammelt vor, ohne dass eine thematische Einbettung in die Kapitel erfolgt. Ein weiterer Vorteil der englischen Ausgabe: Es gibt darin auch Graphiken (vgl. z.B. S.92-103) und Bilder (32 vs. 20). Und übrigens sind in beiden Ausgaben alle Karten und Bilder farbig!

 

Fazit

Wer sich für Kraniche und allgemein für Vogelkunde interessiert, der kommt in meinen Augen nicht an diesem Buch vorbei. Aber auch denjenigen, die sich für empirische Forschung und die damit verbundenen Herausforderungen interessieren, sei dieses Buch ans Herz gelegt. Der Autor lässt die Leser:innen an vielen interessanten Projekten teilhaben und gewährt spannende Einblicke. Auf sehr anschauliche, lebendige und mitreißende Art und Weise berichtet Weßling von seiner jahrelangen Beschäftigung mit den Vögeln. Und es ist beachtlich, mit welcher Liebe, Akribie, Ausdauer und mit welchem Engagement er sich mit den Tieren beschäftigt. Was das Buch in meinen Augen vor allem auszeichnet: Weßling entwickelt eine neue Forschungsmethode, die er auch weiterentwickelt und modifiziert. Und seine Daten liefern zahlreiche neue Erkenntnisse, die ich mit Faszination gelesen habe. Ich habe von Kranichen nun ein ganz anderes Bild als noch vor der Lektüre. Großartig! Ich vergebe 5 Sterne!

2 Kommentare:

Dr. Bernhard Weßling hat gesagt…

Vielen Dank für diese ausführliche Rezension! Bitte gestatten Sie mir einen kleinen Kommentar:

Was Ihren Vorschlag "Videos aufnehmen" anbelangt, kann ich nur sagen: theoretisch ja, aber praktisch nahezu undurchführbar, denn ich habe wohl 1000mal mehr Zeit in Beobachtungen investiert, in der gar nichts passiert ist, als die kurzen (und dann ein Video werten) Momente, in denen das, was ich geschildert habe, geschehen ist. Das allerallermeiste geschah ja plötzlich und überraschend, vollkommen unerwartet! (und hat sich oft erst im Nachhinein als mit einer vorherigen Beobachtung, die nicht bemerkenswert erschien, im Zusammenhang stehend herausgestellt) Außerdem konnte ich nicht ständig mit einer aufnahmebereiten Videokamera herumlaufen, zumal ich ja - jedenfalls während meiner Bioakustik-Zeit - meine ganze Akustikausstattung dabei hatte. Das würde ähnlich für andere Forscher bzw Forschergruppen zutreffen: man hätte 1000mal mehr (und todlangweiliges) Videomaterial, als man auswerten und verwerten kann. Letztlich wird Videographie in freier Natur an wild lebenden Tieren auch nur angewendet, wenn man dort mit ihnen gezielt Experimente anstellt - Futter auslegt oder den Zugang erschwert, Rufe über Lautsprecher aussendet, scheinbare Bedrohungen konstruiert o. ä. Das alles widerspricht meiner Praxis, nämlich GAR NICHT einzugreifen, nur zu beobachten.

Tobias Kallfell hat gesagt…

Vielen Dank für Ihre Stellungnahme zu den Hindernissen videographischer Forschung.

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