Charakterstudie
Wer sich für zwischenmenschliche Feinheiten und Abgründe interessiert,
der ist bei dem Roman „In blaukalter Tiefe“ von Kristina Hauff genau richtig.
Erzählt wird im Wechsel von vier verschiedenen Perspektiven, so dass man
verschiedene Standpunkte kennen lernt und
nah dran an den Gedanken und Gefühlen der Protagonisten ist. Und durch
die asymmetrisch angelegten Beziehungsverhältnisse entsteht viel emotionaler
„Zündstoff“. Die beiden befreundeten Paare passen nicht gut zusammen. Und
begleitet werden die vier Passagiere von einem eigenbrötlerischen, wortkargen
Skipper, über den man nicht viel erfährt und der mysteriös wirkt.
Daniel und Tanja nehmen die Einladung von Andreas und seiner Frau
Caroline zu einem Segeltörn an, auch wenn Tanja sich dabei nicht wirklich wohl
fühlt. Sie wirkt zu Beginn ziemlich unsicher, aber auch sehr authentisch und
fürsorglich. In ihrer Partnerschaft ist sie aufopferungsvoll, begibt sich aber
auch in Abhängigkeit von Daniel. Caroline kommt hingegen unterkühlt, berechnend
und fordernd daher und wirkte auf mich äußerst unsympathisch, weil sie aus
allem ein kleines Machtspiel veranstaltet. Anders als Tanja agiert sie meist
souverän und selbstsicher. Sie kennt ihren Mann genau und es reizt sie, ihn zu
provozieren. Auch beobachtet sie ihre Mitreisenden genau und durchschaut sie
mühelos. Der Kontrast zwischen den Frauenfiguren ist interessant gestaltet
worden. Beide stammen aus ganz unterschiedlichen Lebenswelten. Und Caroline
scheint eine große innere Leere zu verspüren.
Die männlichen Protagonisten stehen hierarchisch nicht auf derselben Stufe.
Beide sind Juristen in derselben Kanzlei. Andreas ist Daniels Chef und Daniel
versucht sich auf dem Segeltörn zu profilieren. Es besteht also ein
Abhängigkeitsverhältnis, das Andreas geschickt für sich auszunutzen weiß. Und
Daniel gerät schon bald in Gewissenskonflikte. Denn auch im Urlaub spielt die
Arbeit bald eine Rolle und hält die beiden Kollegen auf Trab. Andreas wirkt anfangs
kontrollsüchtig, es fällt ihm nicht leicht, Verantwortung abzugeben, und das
Altern bereitet ihm Schwierigkeiten. Er erzählt gern von sich und steht gern im
Mittelpunk. In brenzligen Situationen ist er darum bemüht, jederzeit einen
kühlen Kopf zu bewahren und souverän zu agieren. In seinem Inneren plagen ihn
aber tiefe Selbstzweifel. Daniel wirkt aufgrund der beruflichen Problematik sehr
angespannt und auch ungeduldig. Und irgendwann kommt es zwischen beiden Männern
zu einem Konflikt. Andreas beginnt Grenzen zu überschreiten und fordert Daniel
heraus. Und Daniel beginnt sich zu verbiegen. Das alles ist klug konzipiert!
Was ebenfalls gelungen und lobenswert ist: Alle Figuren entwickeln
sich weiter. Tanja wird stärker, Caroline wird kaltblütiger, Andreas wird
unberechenbarer und Daniel wird schwächer. Zusätzliche Würze erhält der Inhalt zudem
noch durch weitere Zutaten: Einerseits
durch den Handlungsort (ein Segelboot) und andererseits durch Eric, den
Skipper. So müssen Andreas, Caroline, Tanja und Daniel im Boot auf engstem Raum
zusammenleben und sich miteinander arrangieren, auch wenn Konflikte aufbrechen.
Es gibt so gut wie keine Privatsphäre und keine Möglichkeit, die anderen zu
meiden und sich zurückzuziehen. Eine Flucht ist auf offener See nicht möglich.
Und beim Segeln müssen alle als Team agieren und ihre persönlichen Befindlichkeiten
außen vor lassen. Eric, der Skipper, bemüht sich darum, professionelle Distanz
zu seinen Passagieren zu wahren. Doch das hält er nicht lange durch und schon
bald wird er mit in die Krise an Bord hineingezogen. Das alles liest sich spannend!
Sehr metaphorisch ist auch die Schilderung des Wetters und des Wellengangs: Die
Unruhe auf dem Meer spiegelt den inneren Zustand der Mannschaft wider. Klasse!
Fazit:
Vorrangig geht es in diesem Buch um verschiedenartig gelagerte
Beziehungsdramen. So etwas sollte man mögen. Menschliche Abgründe und
zwischenmenschliche Machtspiele machen den Reiz aus. Es handelt sich um eine
klug angelegte Charakterstudie, bei der die Figurenzeichnung in meinen Augen
äußerst gelungen ist. Was für Dynamik sorgt: Die Charaktere entwickeln sich
allesamt weiter und die Allianzen zwischen den Beteiligten wechseln munter. Das
einzige, was mich nicht zu 100% überzeugen konnte, war das Ende. Einige
Verhaltensweisen der Figuren fand ich nicht schlüssig, v.a. was Daniel und
Tanja betrifft. Auch empfand ich den Schluss passagenweise als etwas zu überhastet
erzählt. Ich gebe 4 Sterne, ganz knapp an den 5 Sternen vorbei!
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