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Montag, 19. Juni 2023

THilo und Silvio Neuendorf - Lenny Hunter. Die magische Sanduhr


5 von 5 Sternen



Schöne Abenteuergeschichte


Eines gleich vorweg: Das Kinderbuch „Lenny Hunter. Die magische Sanduhr“ von THiLO mit Bildern von Silvio Neuendorf ist ein sehr gelungenes Kinderbuch mit einer spannenden, ereignisreichen Abenteuergeschichte, die einen klaren, roten Faden aufweist, und detailreicher, ansprechender Bebilderung. Auch die verschiedenen Figuren sind kreativ und ausgefallen gestaltet worden. Nach meiner Meinung ist es am ehesten für Kinder ab 5 Jahren geeignet (fortgeschrittener Kindergarten bis Grundschule), weil der Vorlesetext doch recht umfangreich ausfällt und der Wortschatz stellenweise doch auch anspruchsvoll ist.

 

Was mir auch positiv aufgefallen ist: Die Abstimmung zwischen Text und Bild. Das, was man im Text liest, findet man auch so auf den Bildern wieder. Und viele großformatige Bilder sind mit viel Liebe zum Detail gestaltet worden. Es bietet sich oft an, länger bei den Bildern zu verweilen, weil es einiges auf ihnen zu entdecken gibt (Highlight: Das Büro in der Zentrale der Mystery Crew auf S. 7). Und die Gestalter des Buchs haben sich noch zwei weitere tolle Effekte einfallen lassen, die Aufmerksamkeit beim Nachwuchs erregen: Ein Buch im Buch in Form eines Notizbuchs sowie eine Entdeckerklappe, die den Blick auf eine Höhle hinter einen Wasserfall preisgibt. So etwas findet man auch nicht in jedem Kinderbuch.

 

Einen weiteren Aspekt, den ich noch loben möchte: Den kindgerechten Humor, der v.a. auf den Umschlagseiten aufblitzt (z.B. Don Wuff mit Hundefutter-Pistole und Messerchen, eine Kampfmaus, die mit dem Käsemesser ein Fliegenbein trifft). Der Vorlesetext kommt aber eher ernst daher, was natürlich auch daran liegt, dass es sich um eine actionreiche Abenteuergeschichte handelt, bei der Spannung erzeugt wird. Die Geschichte schlägt die jungen Zuhörer:innen nach meiner Erfahrung in ihren Bann. Ich musste das Buch gleich mehrfach vorlesen. Das ist immer ein gutes Zeichen.

 

Nun zwei Spitzfindigkeiten meinerseits: Auf dem Klappentext heißt es, dass man mit der magischen Sanduhr die Zeit für einen Moment zurückdrehen kann. Das sollte sich dann natürlich auch bei der Begründung der Bösewichte entsprechend wiederfinden, die Oma Wuff mit Hilfe des Gegenstands aus dem Gefängnis holen wollen. Und noch etwas: Text und Bild sollten im Idealfall so aufeinander abgestimmt sein, dass das Bild nicht schon verrät, was erst später durch den Text aufgelöst wird. So sieht man bereits auf dem Bild (vgl. S. 27), dass Rusty Lenny Hunter rettet, obwohl es eine Weile dauert, bis dies dann aus dem Lesetext hervorgeht. Aber das ist natürlich Jammern auf ganz, ganz hohem Niveau, was ich gerade hier betreibe.

 

Eine letzte Anregung möchte ich aber noch loswerden: Auf den Umschlagseiten wird sehr deutlich, dass es bereits eine Mystery Crew um Romulus gab. Vielleicht erfahren wir in einem weiteren Band noch mehr über die Vergangenheit des Großvaters? Sicher ist jedenfalls, dass noch weitere Bände um Lenny Hunter erscheinen werden (ab Juli 2023). Diese sind dann preiswerter und scheinen die jungen Zuhörer:innen noch stärker einzubeziehen, weil sie auch Rätsel aufweisen. Miträtseln war in diesem Band, den ich hier bespreche, nur eingeschränkt möglich, obwohl der Klappentext hier etwas mehr erwarten ließ.

 


Fazit

Ein sehr gelungenes Kinderbuch mit vielen kreativen Ideen. Das Buch zeichnet sich durch zwei Stärken aus: Die spannende Abenteuergeschichte, die einen klaren Aufbau und Spannungsbogen aufweist, sowie die dazu passende, detailreiche Bebilderung. Beides kann überzeugen. Da ich nur ganz wenige, kleinliche Verbesserungsvorschläge unterbreiten konnte, komme ich immer noch auf knappe 5 Sterne!  

Schami, Rafik - Vom Zauber der Zunge


5 von 5 Sternen



Über die Erzählkunst


Was ich an Rafik Schami schätze sind seine Reflexionen über das Erzählen, sein Ideenreichtum, sein Humor und die Auswahl interkultureller Themen. Und auch mit dem schmalen Band „Vom Zauber der Zunge“ bin ich wieder voll auf meine Kosten gekommen. Darin enthalten sind vier Reden, die der Autor im Rahmen von Preisverleihungen gehalten hat (München 1985, Stuttgart 1986, Hameln 1990, Wetzlar 1990).

 

In der ersten Rede beschreibt der Autor immer wieder die Hindernisse, die ihn vom Schreiben des Textes abgehalten haben. Sehr amüsant! Interessant fand ich v.a. seinen Verweis auf das Genre der „Gastarbeiterliteratur“ („…die Welt wäre viel ärmer, wenn sie nur noch aus Deutschen und Nichtdeutschen bestehen würde. Wir sind viel lebendiger und stolzer, als daß wir durch die Negation der Deutschen definiert werden. […] Sie ist weder Exil- noch Arbeiterliteratur, weder den Themen noch der Form nach. Die Deutschen müssen mit und von uns lernen, daß es genau wie die englisch- und französischsprachige auch eine deutschsprachige Literatur von Fremden gibt, eine solche Definition trägt unserer Autonomie Rechnung“). Der Text endet schließlich mit einem Märchen, das den Titel „Der Wald und das Streichholz“ trägt.

 

In der zweiten Rede lernen wir den redegewandten, talentierten Erzähler Onkel Salim kennen. Eine Fee eröffnet ihm, dass er nur noch 21 Wörter zur Verfügung hat, bevor er endgültig verstummt. Sein Umfeld bemüht sich anschließend nach Kräften darum, sieben richtige Geschenke zu machen, um ihm seine Erzählkraft zurückzugeben. Gleichzeitig werden interessante Überlegungen zur Kunst des Erzählens eingeflochten. Die Rede selbst kann als Beispiel für gelungenes Erzählen dienen.

 

In der dritten Rede gefiel mir die Passage am besten, in der Schami über die Hürden des Erlernens der deutschen Sprache sinniert und auch Vergleiche zu seiner Heimatsprache anstellt (mehr davon!). Dafür findet er auch amüsante sprachliche Bilder. Für mich die lesenswerteste Rede im ganzen Buch.

 

In der vierten Rede erweckt der Erzähler eine von ihm erschaffene Figur zum Leben und hält mit ihr ein Zwiegespräch. Der Text ist autofiktional. Ein schönes Zeugnis von Kreativität und Fantasie und gleichzeitig eine Anregung für Autoren, mit den eigenen Charakteren übungsweise in den Dialog zu treten.

 


Fazit

Die vier Reden von Rafik Schami sind äußerst kreativ und enthalten zahlreiche inspirierende Anregungen für Übungen, die eigene Erzählkunst zu trainieren. Sie sind nur gut versteckt und werden subtil vermittelt. Klasse! Aus jeder Rede konnte ich etwas mitnehmen, Neues dazulernen und wurde zum weiteren Nachdenken angeregt. Was will man mehr. Von mir gibt es 5 Sterne!

Sonntag, 18. Juni 2023

Gruber, Andreas - Das Eulentor


5 von 5 Sternen



Der Schacht


Lust auf eine Abenteuerexpedition nach Spitzbergen im Jahr 1911, bei der etwas Unvorstellbares entdeckt wird? Dann empfehle ich die Lektüre des Horror-Thrillers „Das Eulentor“ von Andreas Gruber.

 

Das, was den Roman in meinen Augen ausmacht, ist die Beschreibung der unheimlichen Entdeckung in Spitzbergen: Ein Schacht, der senkrecht in die Tiefe führt und sein Geheimnis nicht preisgeben will. Wo führt er hin? Wo kommt er her? Wie tief ist er? Was wird man entdecken? Diese Fragen treiben die Handlung voran und erzeugen eine unfassbare Sogwirkung.

 

Die Erforschung des Schachts sind die stärksten Passagen des Thrillers. Und was sich der Autor hat einfallen lassen, ist kreativ und ideenreich. Immer wieder müssen Hindernisse überwunden werden. Immer neue Erkenntnisse kommen zum Vorschein. Und das Auftreten einer neuen Figur im späteren Handlungsverlauf (der Ingenieur Hansen) verleiht dem Inhalt noch einmal Triebkraft.

 

Hansen ist die für mich interessanteste Figur in diesem Thriller: Ein Karrierist, aber zugleich auch ein aufgeweckter Forscher mit unstillbarem Wissensdrang. Die Rahmenhandlung und die Beschreibung der anfänglichen Expedition sind auch in Ordnung, können in meinen Augen aber nicht mit den Passagen mithalten, in denen es um den Schacht geht. Mit zunehmender Tiefe nimmt die Bedrohung immer weiter zu.

 

Zwischenzeitlich hatte ich die Befürchtung, dass es mit zunehmendem Handlungsverlauf vielleicht immer irrwitziger wird. Aber nach meinem Empfinden war die Dosierung von Übernatürlichem und Grusel genau richtig gewählt. Und auch das Finale ist gelungen. Anfangs dachte ich noch, dass die Rahmenhandlung vielleicht unnötig sein könnte. Aber gegen Ende hat sie Sinn ergeben und den Grad an Spannung noch einmal in die Höhe getrieben.

 

Überhaupt ist die Konzeption des Spannungsbogens einfach herausragend gelungen. Da können nicht viele Bücher mithalten. Der Autor versteht es prima, immer wieder neue spannungserregende Impulse zu setzen. Und man befindet sich als Leser während der Lektüre in einem Zustand innerer Anspannung und spürt Unruhe. Das macht einen guten Thriller aus!

 

Fazit

Wer sich nicht durch das Vorkommnis übernatürlicher Elemente abschrecken lässt, wird mit diesem Buch bestens unterhalten. Der Spannungsbogen ist hervorragend konstruiert, die Spannung flacht kaum ab und alles, was um den Schacht herum passiert, habe ich mit Faszination gelesen. Ich wollte ebenfalls wissen, was es mit dem sogenannten „Eulentor“ auf sich hat. Absolute Empfehlung. 5 Sterne von mir!

Freitag, 16. Juni 2023

Kliem, Susanne - Das Scherbenhaus


3 von 5 Sternen



Guter Beginn, langsamer Mittelteil, enttäuschendes Ende


Kennt ihr auch diese Bücher, die vielversprechend starten, denen dann aber im weiteren Verlauf der Handlung die Luft ausgeht? Leider gehört der Thriller „Das Scherbenhaus“ von Susanne Kliem auch in diese Kategorie. Susanne Kliem schreibt auch unter dem Namen Kristina Hauff und sie ist mir durch das Werk „In blaukalter Tiefe“ sehr positiv aufgefallen (vgl. eine frühere Rezension). Ich dachte mir, wer ein solch toll durchkomponiertes Werk schreibt, der wird bestimmt auch einen guten Thriller zu Papier bringen. In diesem Fall leider nein!

 

Doch der Einstieg ist, wie gesagt, gelungen. Die Protagonistin wird von einem Stalker heimgesucht, der ihr Briefe mit Fotos von verwundeter Haut schickt. Auf diese Weise entsteht eine permanente Bedrohungslage für Carla Brendel. Hinzu kommt eine Schwester, die Carla darum bittet, möglichst bald nach Berlin zu kommen, weil sie ihr etwas anvertrauen will. Die Neugier ist also geweckt. Wer ist der Stalker? Wird er Carla noch gefährlich werden? Was möchte die Schwester mit Carla bereden?

 

Ein weiterer Spannungsimpuls entsteht, als Carla sich mit ihrer Schwester Ellen trifft, diese dann einen Anruf erhält, vor die Tür geht und auf einmal spurlos verschwindet. Später findet man Ellens Leiche. Und als Leser fragt man sich: Was ist mit ihr geschehen? War es wirklich nur ein Unfall? Doch statt dieses Handlungselement weiterzuverfolgen und zu vertiefen und den Stalker nun stärker als Bedrohungselement einzubeziehen, wird eine andere inhaltliche Richtung eingeschlagen. Carla zieht in das von Ellen entworfene Haus ein und schlägt sich dort mit ihren neuen Bewohnern herum, die allesamt sehr mysteriös wirken. Jeder von ihnen scheint etwas verbergen zu wollen.

 

Und genau hier ist für mich der Punkt, wo die Handlung für mich an Reiz verliert. Der Stalker tritt nach meinem Geschmack zu sehr in den Hintergrund und auch die Idee des Smart Home wird kaum bedient. Stattdessen verschiebt sich der Handlungsschwerpunkt nun auf die undurchsichtigen Bewohner des neuen Zuhauses und es wird zunehmend unglaubwürdig. Der Tod von Ellen lässt Carla keine Ruhe und sie stellt eigene Nachforschungen an. Gespräche mit den Nachbarn treten nun in den Vordergrund. Und die Spannungskurve flacht leider ganz schön ab. Das ist sehr schade, weil die Ausgangsidee mir gefallen hat und der Spannungsbogen zu Beginn gut ausgeprägt war. Und eine Stärke der Autorin zeigt sich auf jeden Fall auch hier: Sie entwirft lebensechte, glaubwürdige Figuren (zumindest zu Beginn).

 

Fazit

Ein Thriller, der gut startet, sich dann aber in eine Richtung entwickelt, die mir nicht zusagte. Das Ausgangsszenario ist vielversprechend (Stalker, Smart Home), doch nach meinem Empfinden macht die Autorin zu wenig daraus. Mit dem Einzug in das neue Haus und Carlas Nachforschungen verliert die Geschichte an Reiz, der Spannungsbogen flacht ab. Das Finale hat mich nicht gepackt, die Auflösung hat mich nicht überzeugt. Die Ereignisse überschlagen sich förmlich. Sehr schade. Zurück bleibt ein durchschnittlicher Thriller, der aber klar erkennen lässt, dass die Autorin ein Talent für die Zeichnung lebensechter Figuren hat. 3 Sterne von mir!

Mittwoch, 14. Juni 2023

Bentow, Max - Rotkäppchens Traum


2 von 5 Sternen



Abstrus, unglaubwürdig und zu konstruiert


Ein guter Thriller ist spannend von der ersten bis zur letzten Seite. Wenn man das Buch in die Hand nimmt, wird man so sehr von den Geschehnissen vereinnahmt, dass man niemandem mehr die Tür aufmachen will. Telefongespräche werden zu eine lästigen Unterbrechung. Ein solches Gefühl zu erzeugen, schaffen nach meiner Erfahrung nur ganz, ganz wenige Thriller. Leitfrage dieser Rezension: Schafft es Max Bentow mit „Rotkäppchens Traum“ ein solches Gefühl zu erzeugen?

 

Das Ausgangsszenario ist zunächst packend, es wird viel Neugier erzeugt. Das liegt vor allem an der Verwendung des Amnesie-Motivs. Die Protagonistin erwacht nach einem Sturz ohne Erinnerung. Wer ist sie? Was ist ihr widerfahren? Wird sie sich wieder erinnern? Diese Fragen hatte ich zu Beginn im Kopf und sie haben mein Interesse erregt. Und als Leser verfügen wir über genauso wenig Wissen wie Anni. Wir verstehen nicht recht, was um sie herum passiert und warum sie weder Arzt noch Polizei informieren will. Der Zustand der Verwirrung und der Orientierungslosigkeit kommt gut zum Ausdruck. Der Autor versteht es gut, dem Leser relevante Informationen vorzuenthalten. Das hat mich überzeugt. Und auch der Schreibstil ist fesselnd.

 

Der Plot hält allerdings auch einige Überraschungen bereit. Und ab einem gewissen Punkt konnte ich dann nicht mehr mitgehen. Zu konstruiert ist das psychologische Element, zu unglaubwürdig wird das Handeln der Figuren. Für mich war es dann einfach irgendwann zu überdreht und zu abstrus. Jede Begründung an dieser Stelle würde allerdings zu sehr spoilern, deshalb verzichte ich darauf.

 

Fazit

Der Thriller entwickelt sich mit zunehmendem Handlungsverlauf in keine gute Richtung. Vieles ist dann nicht mehr plausibel und in sich schlüssig. Das ist schade, weil das Buch vielversprechend startet, viel Neugier erregt und Bentow einen packenden Schreibstil hat. Das einleitend beschriebene Gefühl stellt sich also nicht ein, ich habe mich später nur noch durchs Buch gequält. 2 Sterne von mir!

Winkelmann, Andreas - Nicht ein Wort zu viel


3 von 5 Sternen



„Dunkelheit, mein Freund“


Ein Mann, an einen Stuhl gefesselt und wehrlos. Wer ist er? Was hat man mit ihm vor? Wer steckt dahinter?

 

Ein Einsatzteam, bei dem ein Zugriff schiefläuft, eine Geisel kommt ums Leben. Welche Folgen wird das für das Team und den Verantwortlichen haben?

 

Dies sind die einleitenden Fragen, die man sich stellt, wenn man das Buch „Nicht ein Wort zu viel“ von Andreas Winkelmann in die Hand nimmt.

 

Das Ausgangsszenario ist gut gewählt, die Schreibweise packend. Und auch das Setting fand ich stimmig: Die Verbrechen sind in der Buchblogger-Szene angesiedelt. Dem Betrieb rund ums Buch wird schön der Spiegel vorgehalten.

 

Die einzelnen Spannungsbögen werden immer wieder gut unterbrochen, so dass das Interesse der Leser:innen nicht abflacht. Zumindest zu Beginn.

 

Die Charaktere sind passend gewählt: Die schüchterne, introvertierte Buchhändlerin, der eitle und selbstverliebte Autor und der erfolgsneidische Buchblogger. Ergänzt wird dieses Ensemble um einen Ermittler mit Ecken und Kanten: Jaro ist aufbrausend, emotional und hat Fehler.

 

Gespräche des Ermittlers Jaro mit einer Psychologin ergänzen die Handlung um eine psychologische Komponente, die mir ebenfalls zugesagt hat. Ein Grauton der Figur ist erkennbar: Hat er beim Zugriff eigenmächtig Selbstjustiz angewendet? Ist Jaro vertrauenswürdig?

 

Meine Kritikpunkte: Der Einstieg ins Buch ist gelungen, der Plot zeichnet sich durch einige kreative Ideen aus, die ich oben benannt habe. Doch die Spannungskurve ebbt ab, als die Ermittlungsarbeit beginnt. Ab diesem Zeitpunkt ist ein Rückfall in altbekannte Muster erkennbar. Jaro verliert seine Ecken und Kanten.

 

Fazit

Der neue Thriller von Andreas Winkelmann hat Höhen und Tiefen. Der Beginn ist fesselnd, es blitzen gute Ideen auf. Leider verliert das Buch aber mit zunehmendem Handlungsverlauf an Reiz. Ich möchte als Leser in einen Zustand innerer Anspannung versetzt werden, wenn ich einen Thriller lese. Ich möchte Stress, innere Unruhe und Druck spüren. Ich möchte das Buch nicht mehr aus der Hand legen wollen. Dieses Gefühl blieb leider über weite Strecken aus. Von mir gibt es drei Sterne!

Dienstag, 13. Juni 2023

Egmont Bäng! Comics - Idefix und die Unbeugsamen. Der Wecker von Lutetia.


3 von 5 Sternen



Erstlesebuch mit Verbesserungspotential


Mit „Idefix und die Unbeugsamen“ hat der Egmont Bäng Verlag ein Erstlesebuch zur aktuellen TV-Serie herausgebracht. Es trägt den Titel „Der Wecker von Lutetia“. Meiner Tochter hat die Lektüre mit Ausnahme des ersten Kapitels Spaß gemacht, sie hat das Buch mit Interesse gelesen, obwohl uns die Serie im Vorfeld unbekannt war. Aus Elternsicht habe ich aber dennoch einiges an dem Buch zu bemängeln.

 

Der Einstieg ins Buch konnte mich nicht überzeugen. Bei den Steckbriefen fehlt eine zentrale Figur: Sinfonix. Auch dauert es zu lange, bis man in die Geschichte hineinfindet. Die Textgestaltung im ersten Kapitel ist sprunghaft. Es macht den Eindruck, als gebe es gleich mehrere Einleitungen. Auch doppelt sich die Einführung der Figuren teilweise mit den Steckbriefen. Im ersten Kapitel fehlt ein klarer Aufbau, ein klarer roter Faden. Das gestaltet den Einstieg ins Buch unnötig demotivierend. Das ist auch deshalb besonders tragisch, weil die nachfolgenden Kapitel deutlich besser sind.

 

Der Wortschatz ist vom Schwierigkeitsgrad in Ordnung. Die wenigen komplizierten Wörter kann man als nützliche Möglichkeit zur Erweiterung der Lexik ansehen. Was allerdings weniger überzeugt hat: Die Länge und der Komplexitätsgrad der Satzkonstruktionen. Diese sind für Erstleser in Klasse 1 und 2 in meinen Augen herausfordernd. Und auch sind einige Kapitel nach meinem Dafürhalten etwas zu lang geraten. Und noch etwas: Die Text-Bild-Verzahnung überzeugt mich nicht. Auch fand ich die Anzahl, die Auswahl und die Farbgebung der Screenshots verbesserungswürdig

 

Fazit

Dieses Buch ist für fortgeschrittene oder gut geübte Erstleser geeignet. Am ehesten wird es Lernenden in Klasse 2 entgegenkommen. Ich empfehle den Eltern aber, vorab einen Blick ins Buch zu werfen. Auch wenn die Lektüre meiner Tochter (ab Kapitel 2) Spaß gemacht hat, habe ich aus meiner Sicht einiges zu bemängeln, v.a. was die Komplexität der Satzkonstruktionen, den Einstieg ins Buch und die Gestaltung der Screenshots betrifft. Auch hätte ich mir noch nachbereitende Übungen zur Lesekompetenz gewünscht. Deshalb gebe ich nur gut gemeinte 3 Sterne!

Donnerstag, 8. Juni 2023

Glattauer, Daniel - Die Wunderübung


5 von 5 Sternen


Kurzweilig, amüsant, kreativ


Lust auf ein zerstrittenes Ehepaar in den Vierzigern, das sich gegenseitig im Therapiegespräch die Hölle heiß macht? Dann empfehle ich die Lektüre der Komödie „Die Wunderübung“ von Daniel Glattauer. Es handelt sich um einen Einakter, der mich immer dann hat schmunzeln lassen, wenn die gegenseitigen Anfeindungen besonders giftig waren (was sagt das nur über mich aus?).

 

Wo sonst als im Dialog ist eine Handlung unmittelbarer? In diesem Stück entstehen Ereignishaftigkeit und Emotionalität schon allein durch den darin angelegten Beziehungskonflikt. Das Stück strotzt vor Lebhaftig- und Kurzweiligkeit sowie Abwechslungsreichtum. Ich fühlte mich während der Lektüre prima unterhalten.

 

Direkt zu Beginn wird deutlich, wie Joanna ihrem Mann ständig Vorwürfe macht. Und gleichzeitig unterstellt ihr Mann Valentin ihr seinerseits stets böse Absichten. Vor allem die Aufteilung der gemeinsamen Pflichten, die über das Berufliche hinausgehen, scheinen ihnen Probleme zu bereiten. Ein weiterer zentraler Vorwurf von Joanna: Valentin wolle sich nicht ändern und er habe seine Leidenschaft verloren. Der hitzige Konflikt ist also vorprogrammiert. Und der Therapeut als neutrale Instanz versucht zu vermitteln. Er kämpft regelrecht darum, das Positive und Verbindende der Doreks herauszustellen. Problem: Seine fehlende Durchsetzungsstärke und Überforderung im Dialog.

 

Die Frage, die man sich natürlich während der Lektüre stellt, ist die Folgende: Werden die Doreks ihre Krise überwinden? Finden sie wieder zusammen oder werden sie sich trennen? Zu Beginn macht es jedenfalls den Eindruck, als seien Valentin und Joanna hoffnungslose Fälle. Zwar wird deutlich, dass beide früher einmal aufrichtig und innig ineinander verliebt waren (ihre gemeinsamen Rückblicke in die Vergangenheit sind verträumt), aber wird das reichen? Beide scheinen einander unversöhnlich gegenüberzustehen. Zwischenzeitlich fragt man sich, ob es sich um eine Tragikkomödie handelt.

 

Doch dann kommt es im letzten Drittel zu einer schönen Wendung. Der Therapeut fällt aus seiner professionellen Rolle heraus. Eine Veränderung belebt die Handlung. Der Fokus verschiebt sich auf den Berater. Herrlich! Alles wird plötzlich auf den Kopf gestellt. Doch ich will nicht zu viel verraten.

 

Fazit

Ein rundum gelungenes Stück mit einem kreativ angelegten Grundkonflikt. Die Figuren machen allesamt eine Wandlung durch. Die Auflösung des Einakters am Ende ist einfallsreich und amüsant. Mir hat die Lektüre viel Spaß gemacht. Auch die Komik hat mir zugesagt, sowohl was sprachliche Gestaltung, Charaktere und Situation angeht. Ich gebe 5 Sterne!

 

Mittwoch, 7. Juni 2023

Würger, Takis - Unschuld


4 von 5 Sternen



Wer trägt die Schuld?


Der Vater von Molly sitzt wegen Mordes in Haft. Er soll hingerichtet werden. Doch Molly fasst einen Rettungsplan und schleust sich unter falschem Vorwand und mit falscher Identität bei der Familie des Opfers ein, um mehr über die Hintergründe der Tat zu erfahren. Sie hat 35 Tage Zeit, die mögliche Unschuld ihres Vaters zu beweisen. Der zeitliche Druck sorgt für Tempo, Dramatik und Anspannung bei den Leser:innen. Die Kapitel werden countdownartig heruntergezählt und in eingeschobenen Rückblicken erfahren wir gleichzeitig mehr über die Kindheit von Molly und auch über das verstorbene Opfer, Casper Rosendale. Darum geht es in dem Werk „Unschuld“ von Takis Würger, das mir gut gefallen hat.

 

Was der Handlung in meinen Augen „Triebkraft“ verleiht, sind mehrere Dinge. Zunächst einmal erregen die Nachforschungen Mollys bei den Rosandales Neugier. Was wird sie herausfinden? Wird es ihr tatsächlich gelingen, die Unschuld ihres Vaters zu beweisen? Darüber hinaus ist es die Dramatik der Ereignisse, die Spannung erzeugt. Schließlich steht das Leben von Mollys Vater auf dem Spiel. Was könnte ergreifender sein? Weitere Elemente, die für Abwechslung sorgen: der undurchsichtige, mysteriöse Joel und seine Beziehung zu seinen Eltern sowie der soziale Unterschied zwischen Molly und den Rosendales. Sie stammen aus jeweils anderen Welten. Das ist gut zum Ausdruck gebracht worden (kultureller Hintergrund, Klassenzugehörigkeit, Privilegien, Statussymbole etc.).

 

Was mir auch gut gefallen hat, ist die Charakterisierung der Figuren. Diese werden durch passende Handlungselemente vermittelt, also durch Dialoge und Handlungen. Auch empfand ich die Figuren als glaubwürdig und lebendig sowie facettenreich. Und beiläufig werden auch noch interessante Themen angesprochen: Medikamentenabhängigkeit, Waffenmissbrauch und die Georg-Huntington-Krankheit. Das einzige, was ich kritisch anmerken möchte: Ich hatte schon früh eine Vorahnung, in welche Richtung sich die Handlung entwickeln wird. Das war etwas schade. Ich hätte mir gewünscht, dass meine Erwartungen noch mehr durchbrochen worden wären (z.B. durch Überraschungen).

 

Fazit

Ein Roman, der bei mir Spannung und Neugier erzeugt hat. Auch die Charakterzeichnung hat mir gefallen. Die Handlung war lediglich etwas zu vorhersehbar. Deshalb 4 Sterne von mir!


Dienstag, 6. Juni 2023

Sanchez Vegara, Maria Isabel - Anne Frank (Little people, big dreams)


5 von 5 Sternen



Kindgerecht und nicht überfordernd


Kinder interessieren sich für historische Persönlichkeiten. Das habe ich immer wieder festgestellt. Deshalb ist es mir ein Bedürfnis, noch einmal eine andere Reihe vorzustellen, die solche Personen (kindgerecht?) näher beleuchtet: Und zwar die Reihe „Little people, big dreams“ von Maria Isabel Sanchez Vegara aus dem Insel Verlag. Mit der Reihe „Jede*r kann die Welt verändern“ aus dem Egmont BÄNG Verlag konnte ich ja leider überhaupt nichts anfangen (vgl. dazu frühere Rezensionen zu „Anne Frank“ und „Albert Einstein“). Das Buch zu „Anne Frank“ fand ich altersunangemessen und überfordernd. Aus diesem Grund wollte ich mir einmal genauer anschauen, wie das Thema „Anne Frank“ in der Reihe „Little people, big dreams“ aufbereitet worden ist. Ist die didaktische Reduktion angemessen umgesetzt?

 

In meinen Augen, ja. In diesem Buch werden die Themen „Zweiter Weltkrieg“, „Judenverfolgung“, „Hitler“ und „Konzentrationslager“ auf das nötigste reduziert. So heißt es zu Adolf Hitler z.B. „da kam ein Großmaul mit Bärtchen an die Macht. Adolf Hitler hasste die Juden und hätte sie am lieben aus der Welt geschafft“. Zum Krieg heißt es: „dann überfielen Hitlers Nazis halb Europa und besetzten auch Holland“. Die Judenverfolgung wird konkret am Beispiel des Judensterns veranschaulicht („Alle jüdischen Kinder mussten auf eine extra Schule gehen und einen Stern an der Brust tragen“). Auch die Lebensbedingungen im Versteck, die Angst von Anne und ihr Tagebuch als wichtige Gefährtin werden passend thematisiert. Auch das traurige Kapitel der KZs wird vage angedeutet („Drei Tage brauchte der Zug bis zum schlimmsten Ort auf der Erde. Nur Annes Vater überlebte das KZ“).

 

Im Anschluss an den kindgerechten Text, der angemessen auf das Nötigste reduziert wurde, findet man noch einen doppelseitigen Sachtext mit sechs Fotos zur echten Anne. So erhalten die jungen Zuhörer:innen bzw. Leser:innen noch einmal ein realistisches Bild von ihr. Letztlich müssen die Eltern selbst entscheiden, ob und ab wann sie dieses Thema mit ihrem Nachwuchs besprechen möchten. Und es ist davon auszugehen, dass folgende Nachfragen der Kinder kommen werden: Warum hasste Adolf Hitler die Juden? Warum mussten die jüdischen Kinder einen Stern tragen? Was ist ein KZ und was genau passierte dort? Darauf sollte man sich einstellen. Und damit sollte man dann umgehen können. Vielleicht werden auch noch andere, herausforderndere Fragen kommen.

 

Fazit: 

Das Buch „Anne Frank“ aus der Reihe „little people, big dreams“ überfordert die Kinder nicht (wenn man als Eltern die Lektüre angemessen begleitet), die didaktische Reduktion ist besser umgesetzt als in der anderen Reihe, die ich oben erwähnt habe. Und die schwarz-weiß Illustrationen sind lebensecht und nicht synthetisch comichaft wie in der Reihe „Jede*r kann die Welt verändern“. Mir und meinen Kindern hat das deutlich besser gefallen. Aber dennoch Achtung: Das Buch löst große Betroffenheit aus! Der Leseprozess sollte gut begleitet werden. Die Eltern müssen für sich selbst entscheiden, ob sie sich diesem Thema auf diese Weise und schon recht frühzeitig annähern möchten. Ich gebe für dieses gelungene Kinderbuch 5 Sterne!

Montag, 5. Juni 2023

Fischer, Franziska - Unsere Stimmen bei Nacht


3 von 5 Sternen



"Stillleben in warmen Farben"


Der Einstieg in das Werk „Unsere Stimmen bei Nacht“ von Franziska Fischer ist gelungen. Es beginnt mit der Protagonistin Lou, die mit Gloria, der das Haus der WG gehört, ein Vorstellungsgespräch führt und die WG besichtigt, in die sie einziehen möchte. Die sprachliche Gestaltung konnte mich auf Anhieb überzeugen. Der Einbau ausgefallener Details und die kreative, teils bildliche Beschreibung visueller Eindrücke haben mir gut gefallen. Auch das Setting erscheint auf den ersten Eindruck äußerst reizvoll: Eine bunt zusammengewürfelte Wohngemeinschaft mit Menschen in verschiedenen Lebensphasen und mit unterschiedlichen Lebensentwürfen. Werden sie miteinander auskommen? Ich habe mich auf ein interessantes Miteinander eingestellt.

 

Doch meine Erwartungen haben sich im weiteren Handlungsverlauf leider nicht erfüllt. Die Erwartungshaltung wird stattdessen (bewusst?) durchbrochen. Die Charaktere kommen alle sehr gewöhnlich daher und zeichnen sich nicht durch irgendwelche Eigenheiten oder Schrulligkeiten aus. Mir fehlte irgendwie die besondere Würze in der Geschichte. Am interessantesten fand ich noch die Lebenskünstlerin Lou, alle anderen Figuren sind unspektakulär. Die Leistung der Autorin besteht darin, Gewöhnlichkeit und ereignislose Normalität darzustellen. Die Szenen werden teilweise so dargestellt, dass man an eigene Familienbegebenheiten erinnert wird.

 

Das muss man mögen! Wer gerne Harmonie und warmherzigen Umgang miteinander lesen möchte, der wird sich hier gut unterhalten fühlen. Es gibt auch einige schöne tiefgründige Dialoge. Wer aber z.B. gerne mehr über die Vorgeschichte der Bewohner erfahren möchte, wird weitestgehend enttäuscht. Auch sonst fehlen spannungserregende Impulse. Ja, aufkommende Neugier des Lesers wird teilweise sogar (bewusst?) ausgebremst (was hat es z.B. mit den Geldproblemen von Herbert auf sich?) Es gibt keinen Streit, keine Meinungsverschiedenheiten, keine Konflikte, keine Probleme. Stattdessen: Gegenseitige Rücksichtnahme, Ratschläge, Unterstützung und Lebenshilfe. Alle gehen unheimlich tolerant und wertschätzend miteinander um. Man hört einander zu, hilft sich. Kurzum: Idylle!

 

Jetzt kann man sich fragen, ob das dann realistisch und lebensecht ist. Ist das nicht zu schön, um wahr zu sein? Ist das nicht genauso konstruiert wie das Gegenteil davon? Ich habe während der Lektüre darauf gewartet, dass endlich irgendetwas passiert, dass die Idylle irgendwie gefährdet wird. (auf eine Krise oder ein außergewöhnliches Ereignis, das die Handlung belebt). Doch das bleibt über weite Strecken aus. Und ich habe die starke Vermutung, dass dies absichtsvoll so gestaltet worden ist. Erst auf den letzten 15 Seiten passiert dann tatsächlich doch noch etwas. Mir reichte das dann aber auch nicht mehr. Der spannungserregende Moment kam zu spät und war zu knapp. Es zeigt aber, dass die Autorin Neugier hervorrufen kann, wenn sie es denn will. Das beweist, dass sie bewusst mit den Erwartungshaltungen ihrer Leser:innen spielt. Nicht mein Fall! Das Ende könnte das Ausgangsszenario für einen weiteren Roman sein (den ich dann aber nicht lesen werde).

 

Fazit

Eine Geschichte für harmoniebedürftige Leser, die auf spannungserregende Impulse verzichten können und gerne eine unaufgeregte Geschichte lesen wollen. Eine Geschichte, in der vor allem Gewöhnlichkeit und ein warmherziger Umgang miteinander zum Ausdruck gebracht werden. Mir war das zu langweilig. Aber gegen die Charakterzeichnung ist nichts einzuwenden. Die  Autorin scheint sich bewusst für diesen Weg entschieden zu haben. Und es wird sicherlich Leser:innen geben, die genau diese Art von Geschichten mögen. Ich gehöre leider nicht dazu. Mir war das zu langweilig. Bei mir hat die Handlung zu wenig Neugier erzeugt. Deshalb nur 3 Sterne!

Freitag, 2. Juni 2023

Schalansky, Judith - Der Hals der Giraffe


5 von 5 Sternen



Einblick in eine dehumanisierte Psyche


Eine Lehrerin kurz vor der Pension offenbart ihr menschenverachtendes Weltbild. Sie verhält sich gegenüber ihren Schüler:innen vollkommen distanziert, ist erstarrt in Routinen, betrachtet die Welt pessimistisch und beurteilt die ihr anvertrauten Lerner:innen verächtlich und abschätzig. Sie lässt keinerlei Nähe und Beziehungsebene zu. Besonders bezeichnend: Die Vergleiche ihrer Schützlinge mit dem Tierreich. Darum geht es in dem (Anti-)Bildungsroman „Der Hals der Giraffe“ von Judith Schalansky.

 

Inge Lohmark unterrichtet am Charles-Darwin-Gymnasium die Fächer Biologie und Sport, praktiziert das „survival-of-the-fittest“-Prinzip direkt in ihrem Unterricht und tritt als Befürworterin sozialer Schließungsmechanismen auf. Ihr Unterrichtsstil zeichnet sich durch geschlossene Wissensabfragen, Frontalunterricht, Abschreiben lassen, permanenten Leistungsdruck und zynischem Humor aus. Ihre Erzrivalin: Eine jüngere Kollegin („die Schwanneke“), die Schülernähe zur Schau trägt. Und ihre unmittelbare Umwelt nimmt sie in Form biologischer Schemata wahr, d.h. sie kategorisiert und analysiert permanent. Der Blick auf die Welt ist sachlich, kalt und distanziert. Die Einschätzung des Schulsystems ist nach 30 Jahren Berufserfahrung böse und desillusioniert. Die Beziehung zu ihrer eigenen Tochter ist gestört und unterkühlt. Entfremdung wird deutlich. Und was auch durchscheint: DDR-Sozialisation.

 

Auffällig ist auch die Sprachgestaltung. Assoziative Gedankenreihung, kurze, knappe pointierte Sätze, zahlreiche Ellipsen. Die Gedankenwelt von Inge Lohmark wird so gut greifbar, doch ihr Weltbild hat mich als Leser befremdet und ratlos zurückgelassen. Kann man so sein? Wie wird man so? War sie schon immer so? Ist sie als Charakter nicht evtl. überzeichnet? Hat ihr Charakter nicht auch andere Schattierungen? Das sind Fragen, über die man nachdenken kann. Und zumindest zeigt sich im Buch auch, dass Inge überaus belesen ist. Im Lehrerzimmer begegnet man auch anderen Lehrertypen. Im Gespräch treffen verschiedene Weltanschauungen aufeinander. Nicht alle Kollegen zeigen einen solch geringschätzigen Blick auf die Schutzbefohlenen.

 

Jetzt könnte man als Leser:in mit Inge Lohmark hart ins Gericht gehen und ihr vorwurfsvoll begegnen. Doch ist das angemessen? Sie erscheint mir zutiefst dehumanisiert und unempathisch. Man könnte fast die These in den Raum stellen, dass hier das Psychogramm einer Burn-out-Patientin literarisch gestaltet worden ist. Gleichzeitig fehlt dafür aber die Erschöpfung, die Inge nicht zu erkennen gibt, denn sie agiert überaus kraftvoll und rigoros. Sie ist (noch?) durchsetzungsstark. Allerdings bin ich auch kein Psychologe, so dass es mir die Einschätzung, ob Inge unter einem Burn-Out leidet, nicht leicht fällt. Vieles deutet aber daraufhin. Ist Inges Zustand womöglich eine Abwehrreaktion? Will sie sich auf diese Weise vor weiteren belastenden Interaktionen schützen? Braucht sie Hilfe?

 

Fazit

Ein Roman, der zum Nachdenken anregt. Inge Lohmark ist eine unsympathische Figur, die ein menschenverachtendes Weltbild offenbart. Distanz zu den Schüler:innen ist ihr wichtig. Man tendiert als Leser:in schnell dazu, sie zu verurteilen. Doch was ich mich bei der Lektüre gefragt habe: War sie schon immer so? Und wie ist sie so geworden? Hier bleibt vieles offen. Auch das Ende lässt viel Raum zum Spekulieren. Ein Buch, über das man an vielen Stellen gut ins Gespräch kommen kann. Und der Schreibstil ist passend zum Inhalt gestaltet worden. Eine lohnenswerte Lektüre, die herausfordert. Ich gebe 5 Sterne!