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Dienstag, 29. August 2023

Haas, Wolf - Eigentum




4 von 5 Sternen



Intergenerationales Verstehen


Von dem österreichischen Autor Wolf Haas habe ich bisher noch nichts gelesen. Ich gehe also ohne Vorwissen zu seinen bisherigen Werken, für die er verschiedentlich ausgezeichnet worden ist (u.a. mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis der Stadt Braunschweig für „Das Wetter vor 15 Jahren“), an seinen neuesten Roman „Eigentum“ heran.

 

Zum Inhalt: Ein Sohn besucht seine altersdemente Mutter im Altersheim, zwei Tage vor ihrem Tod. Anfangs wird diese Begegnung mit ironischer Distanz und Bissigkeit geschildert. Die Art der Mutter, anderen Menschen vorwurfsvoll zu begegnen und ihr eigenes Leid zu beklagen, wird auf die Schippe genommen. Sie erinnert sich an die Armut in ihrer Kindheit, die in ihrer Gedankenwelt sehr präsent ist. Die Mutter wurde 1923 geboren. Eine prägende Erfahrung, die sich in das Gedächtnis der alten Frau eingebrannt hat, ist die Hyperinflation. Und ihr Sohn wusste schon im Kleinkindalter, was es mit dem Begriff auf sich hat: „Schon als Fünfjähriger wusste ich, was Inflation war. Das ist, wie wenn dein Eis auf einmal zwei Schilling kostet statt einen Schilling. Und das Zweischillingeis kostet sechs Schilling, oder zehn Schilling oder tausend Schilling. Das Dreischillingeis kostet eine Million Schilling, weil das Geld hin ist“ (S. 34).

 

Das große Ziel der Mutter habe immer darin bestanden, Eigentum zu erwirtschaften. Ebenfalls eine prägende Erfahrung für den Sohn: „Ich hörte immer brav zu, ich sah schon mit drei Jahren alt aus. Die drei Phasen des Bausparvertrages (Sparphase, Zuteilungsphase, Darlehensphase) hielt ich für einen Kinderreim. Die Berechnung der Bewertungszahl beherrschte ich im Schlaf. Als ich in die Volksschule kam, war ich bereits Professor für Inflationstheorie“ (S. 37). Für die Mutter bestand das Leben aus drei Tätigkeiten: 1) sparen, sparen, sparen; 2) arbeiten, arbeiten, arbeiten und 3) zahlen, zahlen, zahlen.

 

Erinnerungen der Mutter werden episodenhaft in der Ich-Form in die Handlung eingeflochten. Dabei sind die Schilderungen der Lebensstationen der Mutter der Alltagssprache und ihrem Sprachduktus angenähert. Dies hinterlässt eine höchst authentische und realistische Wirkung. Es wird deutlich, mit welchen Hürden und Einschränkungen die alte Frau in ihrem Leben zu kämpfen hatte. Und durch die erinnerte Erinnerung des Sohns werden die Erinnerungen der Mutter wieder lebendig. Man taucht als Leser:in in eine vergangene Lebenswelt ein. Und ihr Schicksal steht sicherlich exemplarisch für das Schicksal vieler Frauen jener Generation.

 

Die Mutter erscheint als willensstarke Frau mit Begabung für Fremdsprachen, die aber irgendwann ihren Traum von Eigentum aufgeben musste und aus diesem Grund von Niedergeschlagenheit erfasst worden ist. Charakterlich sei sie eine schwierige Frau gewesen: „Sie konnte blind tippen mit dem Zehnfingersystem, aber sie konnte nicht mit den Leuten, sie konnte einem Kind die Inflation erklären, aber sie konnte nicht mit den Leuten, sie konnte Englisch, sie konnte Französisch, sie konnte Generationen von Wirtskindern durch die Schule tragen, aber sie konnte nicht mit den Leuten“ (S. 117). Der Wunsch, Eigentum zu erwirtschaften, habe das Leben der Mutter bestimmt.

 

Letztlich eine interessante Lebensgeschichte, wie sie vermutlich von vielen erzählt werden könnte. Ein Buch, das ich mit Interesse gelesen habe. Das Werk ist für mich wieder ein Beweis dafür, dass Bücher Fenster zu neuen Welten öffnen können. Intergenerationales Verstehen wird durch dieses Werk gefördert. Allerdings hat mich der Roman nicht so sehr in seinen Bann gezogen, dass ich 5 Sterne geben kann. So komme ich auf 4 Sterne!

Sonntag, 27. August 2023

Strobel, Arno - Offline






Digital-Detox auf dem Watzmann


Von Arno Strobel habe ich bereits einige Thriller gelesen: „Sharing“, „Fake“, „Mörderfinder 1“, „Die App“. Zuletzt „Der Trip“ (vgl. dazu frühere Rezensionen). Und eines zeichnet alle Thriller in meinen Augen aus: Hohes Tempo und eine schnell getaktete Ereignishaftigkeit. Ich habe (bisher) noch keinen anderen Autoren gefunden, der ähnlich dynamisch schreibt. „Fake“ und „Mörderfinder 1“ haben mir von allen Thrillern, die ich von Strobel kenne, am besten gefallen. Sie weisen zusätzlich noch eine geschickt konstruierte Spannungskurve und unerwartete Wendungen auf.

 

Aus diesem Grund ist klar, dass ich immer einmal wieder Thriller von Strobel lese, in der Hoffnung, beim Lesen in einen Zustand innerer Anspannung und Aufregung versetzt zu werden. Dieses Mal fiel meine Wahl auf „Offline“, erschienen im Jahr 2019. Und das Ausgangssetting klang gut: Eine Gruppe von Menschen, die auf dem Watzmann für eine Woche einen „Digital-Detox-Urlaub“ einlegt und in einem von der Außenwelt abgeschnittenen Bergsteigerhotel unterkommt. Und plötzlich verschwindet jemand aus der Truppe und wird schwer misshandelt wiedergefunden. Er ist seiner Sinne beraubt worden: Taub, blind, bewegungsunfähig und ohne Zunge. Eine grausige Tat. Was ist ihm widerfahren? Wer ist zu so etwas in der Lage? War es jemand aus der Gruppe? Und schon fliegt man gespannt durch die Seiten, zumindest anfangs.

 

Die typische Strobel-Zutat findet man auch hier: eine hohe Dialoghaftigkeit, die Unmittelbarkeit erzeugt. Das ist gut! Und dann kommen zwei weitere Elemente hinzu, die mir in dieser Form bei Strobel bisher noch nicht begegnet sind: Ein geschlossener Handlungsraum und viele handelnde Figuren. Während die Wahl des (verwinkelten) Handlungsorts sicherlich die Spannung zu steigern vermag (Ruth Ware lässt grüßen), bremst die hohe Anzahl der Figuren das Tempo jedoch wieder aus. Das ist schade!

 

Besonders perfide ist dieses Mal, dass kein Mordopfer gefunden wird, sondern dass das Opfer durch Misshandlungen gequält wird. Das erfordert dieses Mal ein starkes Nervenkostüm. Die Vorstellung, wie das Opfer leidet, ist schwer auszuhalten. Man leidet mit. Im späteren Handlungsverlauf werden auch noch kurze Kapitel aus der Sicht eines weiteren Opfers eingebunden, die schwer lesbar sind. Die geschilderten Qualen in Form von Gefühlen und Gedanken gingen mir unter die Haut. Die anderen Thriller, die ich bisher von Strobel gelesen habe, fand ich nicht so grausam und brutal. Sie haben mir besser gefallen.

 

Nach der Tat beginnen die Mitglieder der Gruppe sich gegenseitig zu verdächtigen, die Anfeindungen und das Misstrauen nehmen zu. Und anfangs ist die Schilderung der Gruppendynamik auch äußerst interessant. Mit zunehmendem Handlungsverlauf verlor dieses Setting aber immer mehr seinen Reiz. Es wiederholt sich Vieles zu sehr, es dreht sich zu sehr im Kreis. Es fehlen neue, spannungserregende Impulse, die die Handlung vorantreiben. Die Darstellung der Gruppendynamik nutzt sich mit der Zeit einfach ab. Immer wieder wird (auf ermüdende Weise) durchgespielt, wer der Täter sein könnte und wie man sich vor weiteren Taten schützen kann. Das kann Strobel eindeutig besser!

 

Und noch etwas, das mich enttäuscht hat: Die Auflösung am Ende. Sie konnte mich nicht überzeugen. Ich fand sie unrealistisch und insgesamt zu unausgegoren. Auch das kann Strobel besser! Für mich das bisher schwächste Buch, das ich vom Autor gelesen habe. Schade!  


Freitag, 25. August 2023

Noa, Sandra und Daniel Sohr - Detektive und Ermittler (Wieso, Weshalb, Warum? Bd. 11)




4 von 5 Sternen



Für mich zu wenig Übungen auf Satz- und Textebene


Das Erstleser-Buch „Detektive und Ermittler“ aus der Reihe „Wieso, Weshalb, Warum? (Bd. 11)“ vom Ravensburger-Verlag gliedert sich in vier Kapitel: 1) Was machen Detektivinnen und Detektive (S. 6-19), 2) Wie gehen Detektive und Detektivinnen vor? (S. 20-33), 3) Wer ermittelt sonst noch? (S. 36-47) und 4) Warum ermitteln wir alle so gern? (S. 48-57). Der Text ist von der Schriftgröße und vom Textumfang gut für geübte Erstklässler:innern geeignet (bei rein schulischer Vermittlung). Der Verlag weist das Buch der Lesestufe 2 zu. Es werden viele interessante Informationen rund um den Beruf eines Detektivs/ einer Detektivin vermittelt. Für Kinder, die gerne Hintergründe erfahren möchten, ist das Buch also bestens geeignet, evtl. auch als Nachbereitung zu solchen Buchreihen wie „???“ oder „TKKG“ etc.

 

Am Ende jedes Kapitels gibt es jeweils noch ein Leserätseln, vorwiegend mit Übungen auf Wort- und Buchstabenebene. So müssen im Anschluss an Kapitel 1 geheime Botschaften entschlüsselt werden (Bild-Buchstaben-Zuordnungsübung auf Wortebene), ein Gitterrätsel mit sechs versteckten Begriffen will bearbeitet werden (Wortebene) und es muss die Anzahl von Silben bei drei vorgegebenen Wörtern ermittelt werden (Wortebene). Das Leserätsel nach Kapitel 2 weist folgende Übungsformate auf: a) fehlende Buchstaben in Wörtern ergänzen (Buchstabenebene), b) Silben von Wörtern miteinander verbinden, so dass sie ein sinnvolles Wort ergeben (Wortebene), c) Eine Bild-Satz-Zuordnungsübung im Sinne von richtig-falsch-Aussagen, die dann ein entsprechendes Lösungswort ergeben (Satzebene, gut!).

 

In der Mitte des Buchs gibt es eine Doppelseite zum Stickern. Den vorgegebenen Sätzen müssen die passenden Bilder zugeordnet werden (Satz-Bild-Zuordnungsübung auf Satzebene). Kapitel 3 weist folgende Übungsformate auf: Buchstaben in die richtige Reihenfolge bringen (Wortebene), ein Sudoku mit vier Silben, die allerdings am Ende keine sinnvollen Wörter ergeben (Silbenebene?!), Wortbestandteile zu sinnvollen Komposita verbinden (Wortebene). Das Leserätsel zu Kapitel 4 trainiert wieder in erster Linie die Rechtschreibkompetenz. In einer Lückenübung müssen Konsonantenverbindungen korrekt eingefügt werden (Buchstabenebene). Und in einem Labyrinth müssen einzelne Buchstaben zu einem sinnvollen Wort verknüpft werden (Wortebene). Zwei Übungen, die dann aus der Reihe fallen, sind das Lesequiz und das Leselotto. Beim Lesequiz müssen multiple-choice-Aufgaben zum Textinhalt beantwortet werden (Textebene, gut!). Beim Leselotto müssen Bild-Wort-Kombinationen und Sätze einander zugeordnet werden (Satzebene).

 

Betrachtet man die Übungsformate, so ergibt sich zusammenfassend folgendes Bild. Sieben Übungen sind auf Wortebene angesiedelt, zwei Übungen auf Buchstabenebene, drei auf Satzebene, eine auf Silbenebene und eine auf Textebene. Es überwiegen also vor allem die Übungen auf Wort-, Silben- und Buchstabenebene. Übungen auf Satz und Textebene kommen zu kurz. Mit den Übungen wird also vor allem die Rechtschreibkompetenz gefördert, weniger die Lesekompetenz (Ausnahme bilden hier die Übungen auf Satz- und Textebene). Das Erstlese-Buch ist in meinen Augen für starke Schüler also keine echte Herausforderung mehr. Es ist für solche Lernenden geeignet, die Rechtschreibung festigen und wiederholen möchten, weniger für solche, die die Lesekompetenz trainieren möchten. Ansonsten müsste es im Anschluss an die Kapitel mehr Aufgaben v.a. auf Textebene geben (z.B. richtig-falsch-Aufgaben etc.). Das sollten Eltern im Blick haben, wenn sie sich einen Übungseffekt durch das Buch versprechen. Die Aufgabenstellungen sind nach meiner Einschätzung mit einer Ausnahme (= Übung 3 auf S. 33) alle klar verständlich formuliert, so dass die Erstleser:innen wissen, was sie tun müssen. Ich gebe 4 Sterne!

Donnerstag, 24. August 2023

Glattauer, Daniel - Alle sieben Wellen





Dialogische Tagebuchaufzeichnungen


Emmi Rothner und Leo Leike sind zurück! Das unglückliche Paar, das noch nicht zusammengefunden hat, obwohl die Zuneigung beider Figuren zueinander so offensichtlich ist. Wer den Roman „Gut gegen Nordwind“ von Daniel Glattauer gelesen hat, dürfte vom Ende des Buchs überrascht worden sein. Leo verschwindet nach Boston, Emmi bleibt allein zurück, der Kontakt bricht ab. Doch der Autor hat mit den Leser:innen ein Einsehen. Leo kehrt aus Boston zurück und der E-Mail-Kontakt zu Emmi wird wieder aufgenommen.

 

Zwischen beiden entwickelt sich ein stetiges Auf und Ab in ihrer Gefühlswelt. Leo möchte gern einen Schlussstrich unter die Beziehung setzen und bereut, dass er überhaupt auf Emmis Mail reagiert hat. Er hat mit Pam(ela) eine neue Frau kennen gelernt. Und Emmi ist einverstanden. Sie wünscht sich ein persönliches Treffen, um auf diese Weise einen Abschluss zu finden, und zwar eine Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Wie wird es nun mit Emmi und Leo weitergehen?

 

Beide Protagonisten sind in ihren jeweiligen Lebenswelten gefangen, wünschen sich aber insgeheim etwas anderes. Doch es fehlen ihnen die Entschlusskraft und der Mut, den letzten Schritt zu gehen, und das gemeinsam. Mir als Leser ist das völlig klar, nicht hingegen den beiden Figuren, denen man wünscht, endlich einmal das Herz in die Hand zu nehmen. Wohin führt ihr E-Mail-Verkehr? Wie werden sich Emmi und Leo entscheiden? Finden sie zusammen? Oder werden sie getrennte Wege gehen? Das sind die zentralen Fragen, die ich als Leser während der Lektüre beantwortet wissen wollte. Und auf Dauer ist es etwas anstrengend den Gedankengängen der Figuren zu folgen. So ging es mir z.B. bei der Textstelle, als Emmi ihre Unentschlossenheit zeigt: „Wie es mit uns weitergehen soll, Leo? – Weiter wie bisher. Ob es mit uns weitergehen soll? – Unbedingt. Wohin? – Nirgendwohin. Einfach nur weiter. Du lebst dein Leben. Ich lebe mein Leben. Und den Rest leben wir gemeinsam.“ (S. 66). Weiß sie selbst, was sie will? Kann das funktionieren? Wird Leo sich darauf einlassen? Und was wird dann aus Pam? Für mich als Leser war die Entscheidungsunfreudigkeit der beiden äußerst nervig. Emmi, weiß nicht, was sie will. Und Leo wartet in meinen Augen nur auf ein Zeichen von ihr. Würde sie ihm klar zu verstehen geben, dass sie mit Bernhard unglücklich ist und sich von ihm trennt, stünde dem Glück der beiden nichts mehr im Wege. Man wünscht Leo und Emmi ein Happy End, auch wenn mir Pamela und Bernhard dabei ein wenig leidtun. Doch wird es soweit kommen?

 

Was mir in diesem Buch von Daniel Glattauer darüber hinaus gefällt, ist die Sprachgestaltung. Emmi und Leo schreiben unglaublich kreativ, spielerisch und wortgewandt. Dies wird z.B. bei der Analyse der Wendung „Ja, aber (…). Nein, kein Aber. Ja!“ (S.53) deutlich: „Zuerst ein ‚ja‘ der scheinbar entschlossenen Zusage. Dann ein Komma der zu erwartenden Beifügung. Dann ein ‚Aber‘ der angekündigten Einschränkung. Dann eine runde Klammer der schriftlichen Formalkunst. Dann drei Punkte der geheimnisumwitterten Gedankenvielfalt. Danach Disziplin genug, um die Klammer zu schließen und das anonyme Wirrnis zu verpacken. Danach ein wertkonservativer Punkt, um im inneren Chaos die äußere Ordnung aufrechtzuerhalten. Dann plötzlich ein trotziges ‚Nein‘ der scheinbar entschlossenen Absage. Wieder ein Komma der bevorstehenden Ergänzung. Danach ein ‚Kein‘ der kompromisslosen Ablehnung. Dann ein neuerliches ‚Aber‘, ein sich auflösendes, ein ‚Aber‘, das nur da ist, um aufzuzeigen, dass es keines mehr gibt. Alle Zweifel angedeutet. Kin Zweifel ausgesprochen. Alle Zweifel abgeschoben. Am Ende steht ein tapferes ‚Ja‘ mit trotzigem Ausrufezeichen.“ (S. 53-54). Das ist typisch für Glattauer. Genial!

Sonntag, 20. August 2023

Menger, Ivar Leon - Angst




4 von 5 Sternen


Stalking in Berlin


Mia, eine 25-jährige Frau, die von einer Schauspielkarriere träumt und in einer 3-er WG wohnt, trifft sich zu einem Date mit Viktor, der nur so mit Geld um sich wirft. Doch bei Mia funkt es nicht. Ein Abend reicht ihr, um zu erkennen, dass Viktor nicht der Richtige für sie ist. Doch es gibt ein Problem. Nach dem Date vermisst sie ihren Haustürschlüssel. Steckt Viktor etwa dahinter? Ist Mia womöglich in seine Falle getappt? Oder macht sie sich doch nur unnötig Sorgen? Ein Bedrohungsszenario baut sich auf und Gefahr liegt in der Luft. Und über allem schwebt die Frage: Wird Mia paranoid oder ist Viktor wirklich ein Stalker? Darum geht es in dem Thriller „Angst“ von Ivar Leon Menger, der sich gut und flüssig liest. Der Autor schafft es, Neugier zu erzeugen (z.B. auch durch gut gestaltete offene Kapitelenden) und der Handlung immer wieder neue Impulse zu verleihen, so dass man mit Interesse weiterliest.

 

Was mir ebenfalls gut gefallen hat: Das Setting mit der 3er-WG, das sehr stimmig konzipiert worden ist. Das verleiht den Beziehungen der Figuren noch einmal zusätzlich Schwung und Abwechslung. Philipp ist beispielsweise ein netter, fürsorglicher und hilfsbereiter Mitbewohner. Yvonne hingegen verhält sich sonderbar und nimmt die Sorgen von Mia nicht so recht ernst, so dass man auch als Leser ins Zweifeln gerät. Auch das ist gut gemacht. Und was mir auch aufgefallen ist: Menger legt Wert darauf, die Atmosphäre von Berlin treffend einzufangen. Gerüche, akustische und visuelle Eindrücke werden an vielen Stellen eingebunden, wenn die Umgebung beschrieben wird. Klasse!

 

Der Autor versteht es sehr gut, Handlungselemente in der Schwebe zu halten und sie nicht vorschnell aufzulösen. Auch werden die verschiedenen Spannungsbögen schön in die Länge gezogen, ohne dass ich zu sehr auf die Folter gespannt wurde. Prima! Und als Leser war ich ständig hin- und hergerissen, was ich Mia glauben kann und was nicht. Steigert sie sich nicht womöglich in etwas hinein? Sind ihre Gedanken nicht zu abwegig? Sind ihre Befürchtungen, die oft nur auf Indizien beruhen, wirklich gerechtfertigt? Diese Fragen stellt man sich bei der Lektüre immer wieder zwischendurch. Das alles ist sehr gut arrangiert.

 

Die einzigen Verbesserungsvorschläge, die ich unterbreiten kann, sind die folgenden: Die Handlung war stellenweise zu vorhersehbar. Einige Überraschungen konnte ich bereits frühzeitig antizipieren. Aber das ist natürlich sehr subjektiv. Andere Leser:innern mögen das vielleicht überhaupt nicht so empfinden. Es hängt vermutlich auch davon ab, wie viele Thriller man so kennt und liest. Auch fand ich einige Aspekte gegen Ende unrealistisch und konstruiert. Das hat mich auch nicht überzeugt. Kurzum: „Angst“ ist ein sehr guter Thriller, aber er ist nicht herausragend. Ich gebe 4 Sterne!

Donnerstag, 17. August 2023

Kling, Marc-Uwe - Der Tag, an dem Tiffany das Wasser aus der Wanne geschaukelt hat






Kinderbuch mit Stolperstellen


Wer kennt es nicht, das Neinhorn? Ein tolles Kinderbuch mit vielen, vielen kreativen Ideen und einem kindgerechten Humor. Aus diesem Grund wollten wir gerne mehr von dem Autor Marc-Uwe-Kling lesen und entschieden uns für „Der Tag, an dem Tiffany das Wasser aus der Wanne geschaukelt hat“. Das Buch wird empfohlen für Kinder ab 6 Jahren. Und so viel vorweg: Die Altersempfehlung finde ich ungeeignet. Der Humor und die vielen versteckten Anspielungen sind eher etwas für ältere Kinder. Ich hatte das Gefühl, dass Kling sich darum bemüht hat, ein Buch zu schreiben, das für Kinder und Erwachsene gleichermaßen geeignet ist. Doch in meinen Augen gelingt das leider nicht. Ich will gern begründen, warum ich das so sehe.

 

Eines Tages beschließen Mama, Luisa und die Oma, einen Erholungstag mit Sauna einzulegen. Papa, Opa und Tiffany bleiben zu Hause und Papa möchte endlich einmal in Ruhe ein Buch lesen. Doch kaum beginnt er seine Lektüre, da taucht auf einmal Tiffany auf und bittet ihn darum, mit ins Haus zu kommen. Dort gibt es ein kleines Problem: „Plötzlich hatte er nasse Füße. Im ganzen Flur war nämlich Wasser. Da staunte Papa nicht schlecht“ (S. 16). Und auf den nachfolgenden Seiten geht es dann um die Problemlösung. So weit, so gut.

 

Was, mich allerdings beim Vorlesen gestört hat, waren Passagen, in denen der Witz für Kinder nur schwer verständlich ist, weil z.B. Ironie vorkommt oder Anspielungen auftauchen, die nicht der Lebenswelt von 6-jährigen Kindern entsprechen („Das war aber nicht gerade ein Beitrag zu einem herrschaftsfreien Diskurs im Habermas’schen Sinne“, S. 43; „Aber manchmal, wenn das Schiff auf einen Eisberg zufährt, dann ist es Quatsch, darüber abzustimmen, ob es jetzt links oder rechts vorbeifahren soll oder vielleicht doch weiter darauf zu!“, S. 44-45). Da hilft es auch nicht, dass der Begriff Ironie an Beispielen erklärt wird („Ironisch heißt, dass man etwas anders meint, als man es sagt“, S. 26). Die Ausführungen zu der Wendung „Danke, Merkel!“ (vgl. S. 28-32) fand ich ebenfalls absolut unpassend. Wie soll ich das denn meinem Nachwuchs erklären? Zumal damit eine politische Einstellung transportiert wird, die ja nicht sachlich-neutral daherkommt. Das mag für Erwachsene in Ordnung sein, die ja dann auch entscheiden können, ob sie der Position zustimmen oder nicht. Aber für Kinder finde ich das fragwürdig.

 

Die Grundidee der Geschichte ist in meinen Augen in Ordnung. Und wenn der Text von den nicht altersgerechten Passagen bereinigt worden wäre, dann wäre es bestimmt ein lustiges Kinderbuch geworden. Es gibt durchaus gute Ideen, der Text ist stellenweise auch gelungen. Die Illustrationen sind beispielsweise geglückt. Sie unterstützen den Text passend. Aber die erwähnten Stolperstellen wiegen nach meinem Dafürhalten zu schwer, um dieses Buch guten Gewissens weiterempfehlen zu können.

Dienstag, 15. August 2023

Giolito, Malin Persson - Mit zitternden Händen






Bandenkriminalität in Schweden


„In Schwedens moderner Geschichte wurden noch nie so viele Kinder verdächtigt, verhaftet und/ oder wegen schwerer Gewaltverbrechen verurteilt wie derzeit. 2021 schätzte die Polizei, dass etwa 15 Prozent der Bandenkriminellen in Wohngebieten mit ‚schwachem sozioökonomischen Status‘ unter 18 Jahre alt waren. Mittlerweise geht man davon aus, dass der Anteil auf ein Drittel angewachsen sein könnte. Mindestens.“ (Quelle: „Straftaten von Kids in Schweden steigen“ von Reinhard Wolff in: taz.de, 14.2.23, 13.35 Uhr)

 

Der im Zitat beschriebenen Problematik widmet sich auch das Buch „Mit zitternden Händen“ von Malin Persson Giolito, die selbst in Stockholm aufwuchs und in Schweden mit ihrem Werk einen Nr.1-Bestseller landete. Vor der Lektüre des Romans war mir gar nicht bewusst, dass Schweden zum gefährlichsten Land in Europa avancierte. Nirgendwo sonst in Europa sterben so viele Menschen an Schusswaffentaten (Recherche im Internet dazu empfohlen). Am Beispiel eines fiktiven Falls widmet sich die Autorin diesem Thema. Auf S. 236 legt sie einem Polizisten folgende Worte in den Mund: „Die Bandenkriminalität ist vollkommen außer Kontrolle geraten. Wir haben mehr Schießereien als je zuvor. Kinder erschießen Kinder. Das System ist kaputt, die Gesellschaft zerrissen, wir müssen es reparieren, alles müssen wir reparieren.“ Eine erschreckende Analyse, wie ich finde.

 

Auf einem Spielplatz in ein einem Vorort von Stockholm ertönt ein Schuss. Danach folgt ein Anruf in der Polizeinotrufzentrale. Ein Kind berichtet, dass jemand in den Kopf geschossen worden sei. Und das Drama nimmt seinen Lauf… Das Geschehen wird den Leser:innen in zwei Perspektiven vermittelt. Einerseits wird die sich anbahnende Freundschaft zweier Jungen, Billy und Dogge, im Rückblick geschildert, andererseits werden die Ereignisse nach der Tat beschrieben. Kurz nach dem Mord wird nämlich der vermeintliche Täter bereits gefasst und vernommen: Dogge. Und gleichzeitig wird die Verzweiflung der Mutter von Billy eindringlich geschildert, die ihren tödlich verletzten Sohn im Krankenhaus besucht, um von ihm Abschied zu nehmen. Eine sehr emotionale, traurige Passage, die unter die Haut geht. Es stellen sich folgende zentrale Fragen: Wie konnte es soweit kommen? Was war der Anlass? Warum musste Billy sterben? Die Auflösung hebt sich die Autorin bis zum Schluss auf.

 

Billy und Dogge stammen aus unterschiedlichen Welten. Und durch den Rückblick wird deutlich, wie beide auf die schiefe Bahn geraten und kriminell werden. Eines ihrer Opfer ist z.B. ein Ladenbesitzer, der immer wieder bestohlen wird. Sie lernen Mehdi kennen, der für sie zum Anführer wird und ihnen alles beibringt. Sie geraten immer tiefer in ein System aus Angst, Repression und Abhängigkeit. Und die Mutter, die etwas ahnt, will Billy aus dem kriminellen System heraushelfen…

 

Auf der Gegenwartsebene hingegen werden realistisch und detailgetreu die Vernehmungen des Täters durch die Polizei geschildert. Die Darstellung der Polizeiarbeit wirkte auf mich authentisch. Das lässt eine gute Recherche der Autorin erahnen, die auch selbst Jura studiert hat. Darüber hinaus ist erschreckend, in was für einem frühen Alter die beiden Jungen bereits mit Kriminalität und Gewalt in Berührung kommen.

 

Später kommt Dogge in eine geschlossene Jugendeinrichtung. Wir begleiten ihn dabei, wie er sich einfindet und lernen die Strukturen kennen, mit denen er sich arrangieren muss. Wie es der Zufall will, trifft er dort einen Jungen wieder, den er von früher kennt und der ihn massiv einschüchtert und ihm droht: „Mehdi möchte, dass ich dich im Auge behalte. Denn wir wollen ja nicht, dass dem kleinen Lasse etwas Unangenehmes zustößt. Niemand möchte, dass Lasse sich wehtut. Oder?“ (S. 186). Und als Leser:in fragt man sich: Wie wird Dogge sich verhalten? Was wird aus ihm? Ich will hier nicht zu viel verraten.

 

Was mir auch gut gefallen hat, war die Darstellung der Polizeiarbeit. Der ermittelnde Polizist wirkte desillusioniert und überfordert. Er hat Schwierigkeiten, eine sichere Beweiskette herzustellen. In diesem Zusammenhang wird auch eine interessante Diskussion zur Frage eröffnet, wie mit solchen Kindern zu verfahren ist. Hat der Polizist etwa Recht mit seiner Einschätzung? („Ich versuche seit mehr als zehn Jahren, diese Kinder zu verstehen, und ich schaffe es nicht. Sie lügen über Dinge, bei denen sie gar nicht lügen müssten, und sie sagen die Wahrheit, wenn man es am wenigsten erwartet. Sie können morden, weil jemand über den falschen Scherz lacht oder das falsche Foto auf Instagram liked, sie können ein Mädchen besoffen machen, mit ihr schlafen, wenn sie bewusstlos ist, und sich gleichzeitig dabei filmen. Hör auf, sie verstehen zu wollen. Da gibt es nichts zu verstehen. Sie sind Scheusale“, S. 321-322). Auch die Überforderung von Justiz- und Schulsystem wird punktuell in der Handlung verdeutlicht. Sie führt zu der folgenden Frage, die ebenfalls im Buch thematisiert wird: Darf man das Gesetz in die eigene Hand nehmen, wenn man sich auf Polizei und Gerichtsbarkeit nicht verlassen kann?

 

Abschließend mein Fazit: Für mich nahm die Schilderung der Vergangenheitsebene zu viel Raum ein. Aber das ist natürlich Geschmackssache. Auch gab es zwischendurch schon einige Längen, das Tempo war nicht sehr hoch. Die Wechsel der Perspektiven waren nicht immer geschickt platziert. Dafür punktet das Buch mit einer guten Charakterzeichnung sowie mit einer realistischen Darstellung von Polizei- und Justizarbeit. Was ebenfalls gut zum Ausdruck kommt, ist ein permanent vorherrschendes Bedrohungsszenario durch die Unberechenbarkeit und Kaltblütigkeit der kriminellen Charaktere. Das Thema ist aktuell und man lernt etwas über Bandenkriminalität in Schweden dazu.

Samstag, 12. August 2023

Strobel, Arno - Der Trip




4 von 5 Sternen


Nicht so gut wie „Fake“


Von Arno Strobel habe ich in der letzten Zeit zwei Thriller gelesen, die mich begeistert haben, und zwar „Fake“ und „Mörderfinder 1“ (vgl. dazu frühere Rezensionen). In meiner letzten Rezension habe ich folgendes Urteil gefällt: „Arno Strobel ist einer der Thriller-Autoren, die es bei mir schaffen, mich in einen Zustand innerer Anspannung zu versetzen und mich von der ersten bis zur letzten Seite in den Thriller hineinzuziehen.“ Die Frage ist natürlich, schafft er dies auch mit seinem neuesten Thriller „Der Trip“?


Der Einstieg ist jedenfalls schon einmal packend: Fabian und seine Partnerin erleben einen Wildunfall in Frankreich und es ist weit und breit keine Hilfe in Sicht. Verständnisschwierigkeiten erschweren die Lösung der Situation, bis plötzlich ein Abschleppwagen hält und die beiden Gestrandeten mitnimmt. Sie verschwinden daraufhin spurlos… In einer anderen Perspektive lernen wir die Psychologin Evelyn kennen, die Schwester von Fabian. Seit seinem Verschwinden führt sie ein unbeständiges Leben, ein Leben mit Alpträumen und flüchtigen Männerbekanntschaften. Sie stürzt sich zur Ablenkung in die Arbeit, doch das Schicksal ihres Bruders lässt sie nicht los. Sie wird so sehr von den Gedanken an ihren Bruder vereinnahmt, dass ihr Leben davon negativ beeinflusst wird. Evelyn hat ein Trauma erlitten und bräuchte selbst eigentlich dringend therapeutische Hilfe. Die Unwissenheit über den Verbleib des Bruders zermürbt sie.

 

Doch die Arbeit ruft. Auf Campingplätzen treibt zeitgleich ein Mörder sein Unwesen. Und Evelyn ist an den Ermittlungen beteiligt. Sie meint auf dem Phantombild ihren verschwundenen Bruder als Täter zu erkennen. Doch kann das sein? Oder entwickelt Evelyn allmählich Wahnvorstellungen? Außerdem therapiert sie einen Patienten (Kleinbauer), der eine Prostituierte ermordet hat und an paranoider Schizophrenie leidet. Und in den Therapiesitzungen mit Kleinbauer kommt es zu merkwürdigen Vorkommnissen, die Evelyn völlig aus dem Konzept bringen: Der Patient scheint etwas über Fabian, Fabians Partnerin und über das Verschwinden des Bruders zu wissen. Doch wie ist das möglich? Woher weiß er davon? Oder spielt er nur mit Evelyn und nutzt ihre Schwachstelle aus?

 

In kurzen eingeschobenen Kapiteln erfahren wir auch etwas über den Täter und seine Perspektive, ohne dass wir als Leser:in wissen, um wen es sich dabei handelt (das kennt man aus anderen Thrillern von Strobeln). Kurzum: Genügend Stoff, der Neugier beim Leser erzeugt und zum Weiterlesen animiert. Ich hatte während der Lektüre genügend offene Fragen im Kopf, die ich beantwortet wissen wollte. So muss das sein. Das macht einen guten Thriller aus. Doch entsteht eine Sogwirkung, so dass ich den Thriller nicht mehr aus der Hand legen konnte? Leider nicht…

 

Ich muss zugeben, ich habe „Fake“ und „Mörderfinder 1“ besser gefunden. Die Spannung war größer, das Tempo schneller. Mein Empfinden war, dass die schnell getaktete Ereignishaftigkeit dieses Mal zu wünschen übrig ließ. Sehr Schade! Ich hätte mir z.B. noch mehr Psychoduelle mit dem Patienten Kleinbauer gewünscht. Das Rätselraten um den Bruder drehte sich für mich zu sehr im Kreis. Die Passagen mit der Mörderperspektive waren zu gleichförmig und stagnierten mir zu sehr. Bei der Auflösung fehlte mir der große überraschende „Wow-Effekt“. So komme ich abschließend auf 4 Sterne!

Freitag, 11. August 2023

Rorvik, Bjorn F. - Fuchs und Ferkel. Torte auf Rezept






Der Wunderdoktor


Das Kinderbuch „Fuchs und Ferkel. Torte auf Rezept“ ist ein äußerst amüsantes Werk von Bjorn Rorvik, passend und humorvoll illustriert von Claudia Weikert. Es ist nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis, was ich nachvollziehen kann. Die Themen „Krankheit und Fürsorge“ werden kindgerecht auf die Schippe genommen.

 

Eines Tages spaziert ein Ferkel zum Fuchsbau, bleibt vor dem Eingang stehen, fängt an zu husten und ruft nach einem Arzt. Der Fuchs kommt heraus und untersucht das Ferkel. Er stellt eine erschreckende Diagnose: „Mir scheint, mit deinem Urk stimmt was nicht.“ (S. 6). Daraufhin nimmt das Ferkel Reißaus und flüchtet mitten in der Untersuchung. Der Fuchs relativiert seine Diagnose: „Es steht doch noch gar nicht fest, dass wir deinen Urk rausnehmen müssen. Vielleicht reicht es auch, wenn wir bloß ein bisschen mit der Grillzange daran ziehen!“ (S. 7). Der Fuchs verschreibt dem Ferkel Medizin, die es ablehnt. Stattdessen möchte sich das Ferkel seine Medizin selbst aussuchen, und zwar Limonade und Schokoküsse. Limonade und Schokoküsse gibt es allerdings nur bei der Kuh. Fuchs und Ferkel lassen sich also daraufhin eine rätselhafte Krankheit einfallen, um die Kuh davon zu überzeugen, dem Ferkel die entsprechende Medizin zu geben: die Pünktchenkrankheit („Mit dem Filzstift tupfte er rote Punkte auf den Ferkelbauch“, S. 13).

 

Mit der Pünktchenkrankheit besucht das Ferkel die Kuh und präsentiert ihr das Rezept des Arztes. Doch die Kuh wundert sich: „Das ist ja das Dümmste, was ich je gehört hab!“ (S. 20). Sie ist zunächst skeptisch und hat eine bessere Behandlungsidee. Doch dann lenkt sie ein und das Ferkel erhält Marzipantorte und Limonade. Nach Verzehr eines Tortenstücks geht es dem Ferkel auch schon gleich viel besser. Und der Erfolg des Arztes spricht sich herum. Eine Freundin der Kuh sucht ihn auf. Und wieder stellt der Arzt eine erstaunliche Diagnose: „Torte tut Ihnen jetzt gar nicht gut. Tiere mit mehreren Mägen brauchen eine andere Medizin, nämlich Sardellen (…) Essen Sie außerdem jeden Morgen drei Popel, aufgelöst in einem Glas lauwarmem Wasser“ (S. 29). Um weitere Patienten von einer Untersuchung abzuschrecken, lässt sich der Fuchs etwas einfallen. Doch was das ist, möchte ich hier nicht verraten. Nur so viel: Es ist lustig! Mir und meinem Nachwuchs hat die Lektüre dieses Bilderbuchs für Kinder ab 5 Jahren viel Spaß gemacht und wir haben viel gelacht. Was will man mehr?

Donnerstag, 10. August 2023

Städing, Sabine - Die Stoffis. Pitschnass und flauschig (Band 3)






Jahrmarkt und Bootstour


Bei dem Kinderbuch „Die Stoffis. Pitschnass und flauschig“ handelt es sich bereits um den dritten Teil einer Reihe. Ich habe meinen Kindern auch die vorherigen beiden Bände vorgelesen und sie kamen sehr gut an (vgl. dazu frühere Rezensionen). Besonders lobenswert ist in meinen Augen, dass der Umgang der Freunde miteinander stets respektvoll, freundschaftlich und hilfsbereit abläuft.

 

Der Einstieg ins Buch ist gelungen. Auf den ersten Seiten finden wir Steckbriefe der zentralen Figuren, so dass eine schnelle Orientierungsmöglichkeit gegeben ist. Überlegenswert wäre lediglich noch gewesen, Tuba als Charakter mitaufzunehmen. Da sie aber nur auf der Durchreise ist und nicht zu einem festen Bestandteil der Freundesgruppe wird, kann ich aber auch nachvollziehen, warum sich die Macher des Werks dagegen entschieden haben.

 

Zum Inhalt: Auf dem Weg in die Stadt beim Verteilen von Flugblättern stoßen die Stoffis auf einen Jahrmarkt mit Kettenkarussell, Geisterbahn und Achterbahn sowie weiteren Attraktionen. Sie beschließen den Jahrmarkt am Abend gemeinsam zu besuchen. Die Vorfreude ist groß: „Ein Jahrmarkt ist Abenteuer, Lichterglanz, Musik und Tanz. Du kannst dort Karussell fahren, du kannst Zuckerwatte essen…“ (S. 16).

 

Auf dem Jahrmarkt angekommen, wird Zuckerwatte gegessen und Geisterbahn gefahren. Die Atmosphäre der Geisterbahn findet sich auch in den Illustrationen wieder. Der Seitenhintergrund wird dunkel. Nach der Fahrt in der Geisterbahn treffen die Stoffis auf andere Plüschtiere, die Reißaus genommen haben: die beiden Äffchen Mack und Muck sowie das Elefantenmädchen Molly. Mit ihren neuen Freunden fahren die Stoffis zurück nach Hause. Holda Regenstein unterstützt Mack und Muck bei ihrem Wunsch, zum Amazonas zu reisen, und organisiert eine Reisemöglichkeit für sie.

 

Bei einem Ausflug unternehmen die Stoffis eine Bootstour. Die mächtige Bugwelle eines Dampfers lässt sie abtreiben. Die Strömung treibt sie durch einen Wasserfall: „Es war ein Gefühl, als würden sie in eine Schüssel mit Wackelpudding tauchen. Nass, kalt und schwabbelig, dann waren sie durch und das tosende Brausen hatte augenblicklich ein Ende.“ (S. 70). Sie gelangen nach Leolund und treffen dort auf den Bürgermeister dieser ungewöhnlichen Stadt. Doch wer mag das sein? Ich will hier nicht zu viel verraten. Nur so viel: Es ist ein gelungener Rückbezug auf Band 1.

 

Es handelt sich um ein durchdacht und sehr gut konzipiertes Kinderbuch mit einem klaren roten Faden, der sich stringent durchs Werk zieht. Schön sind auch die Belohnungssticker, die man nach jedem gelesenen Kapitel einkleben kann (13 Sticker für 13 Kapitel). Der Schreibstil der Autorin ist unheimlich flüssig und eingängig. Die Bilder sind putzig und liebevoll von Nadine Reitz gestaltet. Ich habe nichts an diesem Buch zu beanstanden. Ein klasse Kinderbuch!

Montag, 7. August 2023

Rühle, Alex - Zippel macht Zirkus

 


4 von 5 Sternen


„Awachsananquatsch“


Das Kinderbuch „Zippel macht Zirkus“ von Alex Rühle, illustriert von Axel Scheffler, ist bereits Band 3 einer Reihe. Nach meinem Dafürhalten ist es als Vorlesebuch für Kinder von 5 bis 8 Jahren geeignet, zum Selbstlesen für Erstleser ist der Text zu umfangreich. Das Buch umfasst 137 Seiten. Zu Band 1 habe ich ebenfalls eine Rezension verfasst (vgl. meinen Blog) und war sehr angetan. Auch Band 2 hat mir und meinen Kindern gefallen. Kann der dritte Teil nun mithalten? In meinen Augen leider nur teilweise. Es gibt viel Positives, aber auch Verbesserungswürdiges, wie ich im Folgenden ausführen möchte.

 

Zunächst zum Positiven: Der Einstieg ins Buch ist gelungen. Schon auf den ersten Seiten wird uns der unruhige Geist Zippel, der gern Quatsch anstellt, in Erinnerung gerufen. Er hat sich in ein Regenrohr verirrt und ärgert den Hausmeister Herrn Ritzsche. Lustige Lautmalereien unterstützen das Treiben („Klonkerkabonker“, „Rongeldiwong“ etc., S. 5). Auch Frau Wilhelm, Paul und Quockel werden mit den wichtigsten Hintergrundinformationen auf den ersten Seiten eingeführt. Das verschafft gut Orientierung, auch wenn die Lektüre der vorherigen Bände bereits länger zurückliegt.

 

Was ebenfalls lobenswert ist. Der Autor hat wieder viele amüsante Ideen, die er in den Text einbaut und die beim Nachwuchs für Lachen sorgen (z.B. der kochende Quockel: „Am liebsten macht er Rostis: Dafür schmeißt er alten Rost in die Pfanne, würzt ihn mit Erde aus Frau Wilhelms Blumentöpfen oder mit lecker altem Dreck vom Küchenboden und isst das dann alles aus einem kleinen silbernen Fingerhut, den Frau Wilhelm immer zum Sockenstopfen benutzt“, S. 11). Hierzu zählen auch die Aussprachebesonderheiten sowie auflockernde Reime: „Awachsananquatsch“ (S. 11), „wuuaaaachwerden“ (S. 15), „abajetzmachendlich“ (S. 19), „Latürnich (S. 35), „Tschappukino“ (S. 47), „Winkewinkewiedersehen/jetzt wird alles wunderschön./Jetzt beginnt ein Abenteuer/weite Welt voll Ungeheuer!“, S. 32).

 

Auch ein klarer roter Faden ist erkennbar. Quockel erhält eines Tages Post aus seinem alten Zirkus, in dem er einst gelebt hat, und Frau Wilhelm, Paul, Zippel und Quockel beschließen, den Zirkus in Italien zu besuchen. Auf der Zugfahrt dorthin werden Frau Wilhelm ihre Koffer geklaut, die die Gespenster dann wiederbeschaffen. Das wird sehr amüsant geschildert (v.a. der Taxifahrer mit österreichischem Dialekt: „Wenn S‘ ma jetzt bittee noch song, wo S‘ hinwoin. Oh – was haben S‘ denn da auf Ihrer Schulter.“, S. 41). Für mich ein Highlight des Buchs, weil es beim Vorlesen einen besonders lustigen Effekt erzeugt.

 

Bei ihrer Ankunft in Italien und dem Wiedertreffen mit Grissini ist auch Wortwitz erkennbar: „Buntolo Briefo Konfetti con Luftschlangolina! Langschaftamente und Berge und dalli avanti mit Taxi von Chioggia! Zirkissimo molto bin Zippelzefixonosario!“, S. 51. Der Zoodirektor eröffnet dann seinen Besuchern, dass der Zirkus seit dem Rauswurf des Zauberers Berlusconi große Probleme hat. Die Situation ist ernst: „Wir haben Schulden bei der Bank. Wenn wir die nicht bald bezahlen, müssen wir zumachen. Die Premiere am Samstag ist unsere letzte Chance.“, S. 64. Und als ob das Unglück noch nicht groß genug ist, kommt es zu einem Brand des Zirkuszelts. Steckt Berlusconi dahinter? Können Quockel und Zippel den Zauberer aufspüren und überführen? Wird er seinen gehässigen Plan in die Tat umsetzen können oder wird sein Treiben durch die Gespenster beendet?


Nun zu meinen Verbesserungswünschen: Ich hätte mir insgesamt mehr Bilder gewünscht. Auch wäre es bei der Erwähnung der Charaktere des Zirkus hilfreich gewesen, als Leser:in noch einmal ein paar Informationen zu erhalten, falls die Lektüre von Band 2 länger zurückliegen sollte. Wer war denn nochmal gleich Andromeda? Wer Orion? Und wie war das doch gleich mit Burlesconi? Das Buch hat einen klar erkennbaren roten Faden (wie oben beschrieben), aber im weiteren Handlungsverlauf ist auch erkennbar, dass von diesem Faden zu oft abgewichen wird. Ich hatte das Gefühl, dass es dem Buch gut getan hätte, wenn die Handlung stringenter vorangetrieben worden wäre. Nach dem Feuer hätte ich z.B. erwartet, dass Zippel und Quockel Ursachenforschung betreiben und sich auf die Suche nach Berlusconi machen. Stattdessen begegnen die beiden Geister erst noch Delfinen und Quallen, führen ein Gespräch mit Orion, der in Selbstzweifeln versinkt, und Zippel verfasst Liebesgedichte. Kurz gesagt: Es dauert sehr lange, bis die ursprüngliche Handlung wiederaufgenommen wird und Zippel sowie Quockel dem fiesen Zauberer begegnen und ihm auf die Schliche kommen. Und noch etwas: Das Buch ist stellenweise auch einmal recht ereignisarm, was die Geduld der jungen Zuhörer:innen auf die Probe stellen kann. Die vielen kreativen Ideen, die Rühle erkennen lässt (siehe oben) hätten nach meinem Geschmack noch häufiger vorkommen können und ich hätte mir weniger Popo-Witze gewünscht (vgl. z.B. S. 54: „Das ist kein Po, so sieht das aus, wenn man eine Glatze hat“; oder S. 88: „Nix im Po. Imponieren. Das heißt so was wie beeindrucken“).

Sonntag, 6. August 2023

Da Empoli, Guiliano - Der Magier im Kreml






Vertikale der Macht


In dem Roman „Der Magier im Kreml“ von Guiliano da Empoli werden reale Figuren und Ereignisse aus der russischen Geschichte und Gegenwart in einen fiktiven Zusammenhang gebracht. Grobe Linien der Historie werden nachgezeichnet. Das hat mich neugierig gemacht. Schon der Titel erregte direkt Aufmerksamkeit. In den vergangenen Monaten habe ich immer wieder Bücher zu Russland, zur russischen Gesellschaft und zum Angriffskrieg gelesen (vgl. dazu frühere Rezensionen). Warum also nicht etwas Fiktives?

 

Anhand des Gesprächs des Ich-Erzählers mit Wadim Baranow, einem ehemaligen engen Berater von Putin, über seine Lebensgeschichte werden zentrale Stationen der russischen Historie verdeutlicht. Zu Beginn des Dialogs erwähnt Baranow auch seinen Großvater und Vater, so dass der Rückblick bis hinein in die Anfänge des 20. Jh. reicht. Erwähnt wird z.B. die Vorliebe für den Schriftsteller Samjatin und dessen literarisches Schaffen. In Bezug auf den Autor hält er fest: „Das einzige Problem war, dass er alles viel zu schnell durchschaute und so unvorsichtig war, darüber zu schreiben. (…) Und so kämpft Samjatin, obwohl er Ingenieur ist, mit den Waffen der Literatur, des Theaters und der Musik;“ (S. 25-26).

 

Baranow erzählt von seinem Großvater, der ein Exzentriker war und der politische Ereignisse der damaligen Zeit mit scharfzüngigem Humor kommentierte: „Genosse Chruschtschow besucht eine Schweinefarm und wird fotografiert. In der Prawda diskutieren die Grafiker, wie sie die Bildlegende formulieren sollen: <Genosse Chruschtschow unter Schweinen>, <Genosse Chruschtschow und die Schweine>, <Genosse Chruschtschow bei den Schweinen?> Die Vorschläge  werden einer nach dem anderen abgelehnt. Am Ende trifft der Direktor seine Entscheidung. Die gewählte Bildlegende lautet: <Dritter von rechts, Genosse Chruschtschow>. (S. 34).

 

In Abgrenzung zum Großvater habe sich der Vater allerdings systemkonform verhalten: „Ich denke, seit seiner Kindheit war es sein Hauptanliegen gewesen, sich aus Schwierigkeiten herauszuhalten. Sobald er konnte, trat er den Pionieren bei und später dem Komsomol. Ich nehme an, er wollte den exzentrischen Vater und die aristokratische Herkunft wieder wettmachen.“ (S. 31).

 

Baranows Urteil zum russischen System fällt hart aus: „In Russland zählt nur das Privileg, die Nähe zur Macht. Alles andere ist nebensächlich. So war es zu Zeiten des Zaren, und in den Jahren des Kommunismus erst recht.“ Er beschreibt auch das Moskau der 90er Jahre nach Zusammenbruch der Sowjetunion. Baranow entscheidet sich gegen den Rat seines Vaters dafür, sich in der Moskauer Schauspielakademie einzuschreiben. Die neue Freiheit berauscht ihn: „Wir kamen aus einer Welt der unausgesprochenen oder geflüsterten Worte, in der die wenigen Menschen, die den Mut hatten, sie offen auszusprechen, Verrückte oder Helden waren.“ Er beschreibt das Chaos in Moskau, das auch zu Gewaltexzessen geführt hat (vgl. S. 69).

 

Später gelangt Baranow mit seiner Theatererfahrung zum Fernsehen und wird dort Produzent: „Wir machten die Trümmer des alten Systems, die Sozialwohnungen in den Vorstädten und die Spitzen von Stalins Wolkenkratzern zu Kulissen unserer Realityshows.“ (S. 71) Es sei barbarisches und vulgäres Fernsehen produziert worden, die Grenzen des Trash seien häufig überschritten worden (vgl. S. 71). Baranow lernt Boris Beresowski kennen (Recherche im Internet empfohlen!), der ihm erklärt, was die Russen benötigen: „Die Russen sind nicht wie die Amerikaner und werden es auch niemals sein. Es reicht ihnen nicht, Geld auf die hohe Kante zu legen, um sich einen Geschirrspüler zu kaufen. Sie wollen Teil von etwas Einzigartigem sein. Dafür sind sie bereit, ihr Leben zu opfern.“ (S. 80). Sehr treffend wird von Beresowski konstatiert, wie sich die Menschen zu Beginn der 90er Jahre in Russland gefühlt haben mögen: „Sie waren in einer Heimat aufgewachsen und fanden sich in einem Supermarkt wieder. Die Entdeckung des Geldes war das erschütterndste Ereignis dieser Zeit. Und dann die Entdeckung, dass Geld seinen Wert verlieren konnte, mit dem Zusammenbruch der Börse und einer Inflation von dreitausend Prozent.“ (S. 81).

 

Beresowski ist es dann, der Putin (in einem fiktiv gestalteten Gespräch) darum bittet, die Führung des Landes zu übernehmen und Russland ins neue Jahrtausend zu führen (vgl. S. 83). Schon bald darauf lernt Baranow den zukünftigen Präsidenten Putin kennen. Er erkennt in seinem Gegenüber einen machtbewussten Politiker, der genau weiß, was er will: „Der Mann, mit dem ich gerade gegessen hatte, würde sich niemals von irgendjemandem lenken lassen. Man konnte ihn vielleicht begleiten, und das wollte ich auch versuchen, aber führen konnte man ihn sicher nicht.“ (S. 94).

 

Nach der Wahl Wladimir Putins zum Staatsoberhaupt werden im weiteren Handlungsverlauf zentrale Ereignisse seiner Amtszeit dargestellt und regelrecht analysiert (z.B. die Anschläge auf Moskauer Wohnhäuser 1999, Putins „Latrinen-Äußerung“, Zweiter Tschetschenienkrieg). Dabei wird Putins Charakter und sein Wirken in die Bevölkerung hinein sehr genau in den Blick genommen. Der Autor ist darum bemüht, sich in die mögliche Gedankenwelt des russischen Präsidenten hineinzuversetzen und sein Handeln sowie die Mechanismen von Macht, Machterhalt und Gewalt sozialpsychologisch-soziologisch auszudeuten.

 

Viel Raum nimmt auch die Schilderung der Beziehung zwischen Putin und Beresowski ein, der später in Ungnade fällt, weil er sich überschätzt und zu sehr politisch einmischt (Stichwort: Untergang der Kursk und das daran anschließende Krisenmanagement). Am Beispiel der Beseitigung des Oligarchen Michail Chodorkowski wird veranschaulicht, wie die Wut innerhalb der Bevölkerung kanalisiert wird: „für die Massen war es schon immer eines der beliebtesten Spektakel, den Kopf eines Mächtigen rollen zu sehen. Die Tötung eines wichtigen Mannes tröstet die Massen über ihre Mittelmäßigkeit hinweg.“ (S. 140) Schon Stalin hätte das bei seinen Schauprozessen erkannt (vgl. S. 141).  Die Absicht Putins sei es, die Vertikale der Macht neu zu errichten.

 

Ein weiteres Ereignis, das in den Blick genommen wird, ist das Folgende: die Geschehnisse auf dem Maidan und die von Baranow gesteuerte russische Reaktion darauf. Weitere lesenswerte Passagen: fiktive Gespräch zwischen dem Schachweltmeister Kasparow und Baranow sowie zwischen Baranow und Prigoschin, die Begegnung Merkels mit Putins Labradorhündin und eine letzte Aussprache mit Beresowski kurz vor dessen Tod. Auch die Krim-Annexion wird thematisiert: „Wir haben die Krim zurückerobert, weil sie uns gehört, aber hier ist das Ziel ein anderes. Hier ist unser Ziel nicht die Eroberung, sondern das Chaos. Jeder soll sehen, dass die Orangene Revolution die Ukraine in die Anarchie gestützt hat. Wenn man den Fehler begeht, sich in die Hände der Westler zu begeben, dann endet es so: Sie lassen dich bei den ersten Schwierigkeiten im Stich und du stehst mutterseelenallein vor einem zerstörten Land.“ (S. 229) Eine mögliche russische machtpolitische Analyse, wie ich finde.

 

Eines Tages entschließt sich der Protagonist Baranow, seine Machtposition als Berater aufzugeben. Seine Tätigkeit beschreibt er wie folgt: „Die Wahrheit ist, dass ich mich immer im Sinne der Macht verschworen habe, niemals gegen sie. Das ist so meine Art, etwas, das viele Menschen nicht verstehen. Es stimmt, dass es im Umfeld von Machtmenschen immer welche gibt, die darüber nachdenken, wie sie deren Platz einnehmen können. Aber ein echter Berater gehört einer völlig anderen Spezies an als der Machthaber. (…) Die Worte, die er dem Fürsten ins Ohr flüstert, entfalten ihre maximale Wirkung, ohne dass er die Strapazen des Aufstiegs auf sich nehmen muss. Dann kehrt er in aller Seelenruhe in die Bibliothek zurück, während sich die wilden Tiere unter der Wasseroberfläche weiter zerfleischen.“ (S. 247) Von diesem Zeitpunkt an ist Putin allein: „Der Zar lebt in einer Welt, in der selbst die besten Freunde zu Höflingen oder unerbittlichen Feinden werden, meistens sogar zu beidem zugleich. (S. 248)

 

Was ich mir noch gewünscht hätte, wäre ein erläuterndes Nachwort mit Quellenangaben gewesen. Der Zusammenschau des Feuilletons auf perlentaucher.de habe ich beispielsweise die interessante Information entnehmen können, dass die Figur Wadim Baranow der realen Person Wladislaw Surkow nachempfunden worden sei (Recherche im Internet empfohlen!). Die Lektüre von „Der Magier im Kreml“ war für mich interessant und ich habe wieder einiges dazulernen können. Dennoch musste ich mir während des Lesens immer wieder in Erinnerung rufen, dass vieles von dem Erzählten reine Fiktion ist. Es wird hier die Möglichkeit einer machtpolitischen Deutung eröffnet, aber wie sehr sie der Realität nahekommt, bleibt natürlich offen.   

Samstag, 5. August 2023

Peterson, Phillip P. - Janus






Für mich ein Flop


Was wäre, wenn man auf dem Marsmond Phobos ein außerirdisches Artefakt fände? Und was wäre, wenn daraufhin ein Wettlauf zwischen den USA, Russland und China entbrennen würde, um als erster nach Phobos zu gelangen? Das sind die zentralen Fragen, um die es im Science-Fiction-Roman „Janus“ von Phillip P. Peterson geht. Und ich gebe zu, dass ich mit sehr großen Erwartungen an dieses Buch herangegangen bin. Peterson ist einer meiner Lieblingsautoren. Die Themen, die er wählt sind für mich reizvoll und er hat in seinen bisherigen Büchern immer wieder unter Beweis gestellt, dass er ein unglaubliches Talent dafür hat, Spannung zu erzeugen. Bis auf die komplette Transport-Reihe habe ich alles von ihm gelesen (vgl. frühere Rezensionen). Der Wissenschaftsthriller „Nano“ war in meinen Augen sein bisher bestes und stimmigstes Buch, das er geschrieben hat. Kann „Janus“ daran anknüpfen?

 

Der Einstieg in den Astronauten-Thriller ist gelungen. Es wird ein simuliertes Andockmanöver an die ISS geschildert. Jenny Nelson probt auf diese Weise den Ernstfall und lernt aus ihren Fehlern. Das ganze Setting wirkt sehr authentisch und realistisch. Hier merkt man, dass der Autor vom Fach ist und Hintergrundwissen aus seinem beruflichen Werdegang einfließen lässt. Die Beschreibungen der technischen Abläufe rund um die Luft- und Raumfahrttechnik wirken kenntnisreich und detailliert. In meinen Augen die große Stärke dieses Buchs!

 

Und was der Autor ebenfalls lobenswert in den Blick nimmt: die außenpolitischen Probleme, die aus einer möglichen internationalen Zusammenarbeit bzw. dem Konkurrenzkampf resultieren. Und auch die Charakterzeichnung überzeugt, vor allem die von Jenny und ihrem Lebensgefährten Daniel. Jenny erscheint als starke Frauenfigur, die sich in einer Männerdomäne durchgesetzt hat. Die Belastungen des Astronautenjobs für das Privatleben werden glaubwürdig dargestellt. Jenny muss sich zwischen Karriere und Familienplanung entscheiden. Und es zeigt sich, dass sie ehrgeizig und karrierebewusst agiert. Sie möchte unbedingt bei der anstehenden Marsmission dabei sein. Und ihr Verhalten wirkt sich wiederum negativ auf die Beziehung zu Daniel aus. Leider treten dafür andere Figuren zu sehr in den Hintergrund, spielen so gut wie keine Rolle und bleiben blass.

 

Und es gibt noch weitere Stolperstellen, auf die ich hinweisen möchte: Wer z.B. überreicht Daniel den Umschlag mit Geheiminformationen? Das Geheimnis wird leider nicht aufgelöst und der Einsatz dieses schriftstellerischen Kunstgriffs wirkte auf mich nicht sonderlich elegant. Auch ist mir nicht klar geworden, wie die Entdeckung des Objekts auf den Mars so schnell als außerirdisch eingestuft werden konnte. Hier hätte ich begleitende Erforschungen durch verschiedene Messinstrumente sinnvoll gefunden, das Mysterium des Artefakts hätte Schritt für Schritt enträtselt werden können. Es wird nicht ein einziges Mal in Zweifel gezogen, ob es sich wirklich um etwas Außerirdisches handelt. Und es werden keinerlei Erkenntnisse zu dem Monolithen in die Handlung integriert. Schade!

 

Und noch etwas: Die Marsmission wird in eiligstem Tempo aus dem Boden gestampft. Alles wirkt gehetzt, überstürzt und riskant. Ist ein solches Szenario realistisch? Ich habe mich schon gefragt, wie die Menschheit reagieren würde, wenn es zu einem solchen Vorkommnis käme. Würde man nicht mit mehr Verstand und ausgiebiger Planung an die Sache herangehen? Man sollte sich mit dem von Peterson erdachten Szenario anfreunden können. Für mich wirkte die Dramatik etwas erzwungen.  Auch die Konzeption der Geo-Politik hat mich stellenweise nicht überzeugt. Sie wirkte manchmal etwas zu sehr „schwarz-weiß“, d.h. ohne Grautöne. Auch eine internationale Zusammenarbeit ohne Konkurrenzdenken hätte ihren Reiz gehabt, aber ohne den Wettlauf zum Mars hätte die Handlung natürlich weniger Dramatik entfaltet.

 

Und abschließend noch ein Bemerkung zur Gestaltung der Spannungskurve: Diese fand ich in „Nano“ besser arrangiert (vgl. eine frühere Rezension). Zum ersten Mal fehlte mir die Spannung, die sonst die Bücher des Autors auszeichnet. Ich habe mich gefragt, woran das lag und habe (leider!) immer noch keine befriedigende Antwort gefunden. Vielleicht wäre ein Konkurrenzkampf zwischen den Crew-Mitgliedern der Marsmission noch eine gute Idee gewesen? Für mich war z.B. zu schnell klar, dass Jenny einen Platz an Bord bekommen wird. Warum sonst sollte sie als Figur sonst so im Zentrum stehen? Auch fehlten dieses Mal (anders als in „Nano“) spannungserregende  Perspektivwechsel und Impulse. Die Handlung nimmt erst viel zu spät Fahrt auf, nämlich erst mit dem Start der Marsmission.

 

Gleichzeitig nimmt die Marsmission im Vergleich zum Rest des Buchs wenig Raum ein und wird stark gerafft erzählt. Schade! Nach meinem Geschmack hätte die Reise zum Mars länger dauern können. Mehr Spannung hätte z.B. durch ein permanentes Bedrohungsszenario erzeugt werden können, z.B. durch eine unvorhergesehene Katastrophe an Bord des Schiffes (ein Leck im Sauerstofftank o.ä.). Das beschriebene Annäherungsmanöver zwischen den Konkurrenten und die Übergabe von Transistoren und Medikamenten fand ich unrealistisch. Hat mich nicht überzeugt.

 

Die Beschreibung der Oberfläche des Monolithen und des Marsmondes fand ich einfallslos. Und auch vom Ende des Buchs war ich enttäuscht (viel zu knapp und banal), allerdings will ich hier nicht zu sehr spoilern. Ich könnte hier viel dazu sagen, aber die Gefahr ist mir zu groß, zu viel zu verraten. Kurzum: Für mich leider das bisher schwächste Buch aus der Feder von Peterson. Bisher habe ich alle Bücher des Autors als packend geschrieben erlebt. Dieses Werk bildet eine Ausnahme. Schade! Ich hoffe auf ein besseres nächstes Buch.