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Sonntag, 6. August 2023

Da Empoli, Guiliano - Der Magier im Kreml






Vertikale der Macht


In dem Roman „Der Magier im Kreml“ von Guiliano da Empoli werden reale Figuren und Ereignisse aus der russischen Geschichte und Gegenwart in einen fiktiven Zusammenhang gebracht. Grobe Linien der Historie werden nachgezeichnet. Das hat mich neugierig gemacht. Schon der Titel erregte direkt Aufmerksamkeit. In den vergangenen Monaten habe ich immer wieder Bücher zu Russland, zur russischen Gesellschaft und zum Angriffskrieg gelesen (vgl. dazu frühere Rezensionen). Warum also nicht etwas Fiktives?

 

Anhand des Gesprächs des Ich-Erzählers mit Wadim Baranow, einem ehemaligen engen Berater von Putin, über seine Lebensgeschichte werden zentrale Stationen der russischen Historie verdeutlicht. Zu Beginn des Dialogs erwähnt Baranow auch seinen Großvater und Vater, so dass der Rückblick bis hinein in die Anfänge des 20. Jh. reicht. Erwähnt wird z.B. die Vorliebe für den Schriftsteller Samjatin und dessen literarisches Schaffen. In Bezug auf den Autor hält er fest: „Das einzige Problem war, dass er alles viel zu schnell durchschaute und so unvorsichtig war, darüber zu schreiben. (…) Und so kämpft Samjatin, obwohl er Ingenieur ist, mit den Waffen der Literatur, des Theaters und der Musik;“ (S. 25-26).

 

Baranow erzählt von seinem Großvater, der ein Exzentriker war und der politische Ereignisse der damaligen Zeit mit scharfzüngigem Humor kommentierte: „Genosse Chruschtschow besucht eine Schweinefarm und wird fotografiert. In der Prawda diskutieren die Grafiker, wie sie die Bildlegende formulieren sollen: <Genosse Chruschtschow unter Schweinen>, <Genosse Chruschtschow und die Schweine>, <Genosse Chruschtschow bei den Schweinen?> Die Vorschläge  werden einer nach dem anderen abgelehnt. Am Ende trifft der Direktor seine Entscheidung. Die gewählte Bildlegende lautet: <Dritter von rechts, Genosse Chruschtschow>. (S. 34).

 

In Abgrenzung zum Großvater habe sich der Vater allerdings systemkonform verhalten: „Ich denke, seit seiner Kindheit war es sein Hauptanliegen gewesen, sich aus Schwierigkeiten herauszuhalten. Sobald er konnte, trat er den Pionieren bei und später dem Komsomol. Ich nehme an, er wollte den exzentrischen Vater und die aristokratische Herkunft wieder wettmachen.“ (S. 31).

 

Baranows Urteil zum russischen System fällt hart aus: „In Russland zählt nur das Privileg, die Nähe zur Macht. Alles andere ist nebensächlich. So war es zu Zeiten des Zaren, und in den Jahren des Kommunismus erst recht.“ Er beschreibt auch das Moskau der 90er Jahre nach Zusammenbruch der Sowjetunion. Baranow entscheidet sich gegen den Rat seines Vaters dafür, sich in der Moskauer Schauspielakademie einzuschreiben. Die neue Freiheit berauscht ihn: „Wir kamen aus einer Welt der unausgesprochenen oder geflüsterten Worte, in der die wenigen Menschen, die den Mut hatten, sie offen auszusprechen, Verrückte oder Helden waren.“ Er beschreibt das Chaos in Moskau, das auch zu Gewaltexzessen geführt hat (vgl. S. 69).

 

Später gelangt Baranow mit seiner Theatererfahrung zum Fernsehen und wird dort Produzent: „Wir machten die Trümmer des alten Systems, die Sozialwohnungen in den Vorstädten und die Spitzen von Stalins Wolkenkratzern zu Kulissen unserer Realityshows.“ (S. 71) Es sei barbarisches und vulgäres Fernsehen produziert worden, die Grenzen des Trash seien häufig überschritten worden (vgl. S. 71). Baranow lernt Boris Beresowski kennen (Recherche im Internet empfohlen!), der ihm erklärt, was die Russen benötigen: „Die Russen sind nicht wie die Amerikaner und werden es auch niemals sein. Es reicht ihnen nicht, Geld auf die hohe Kante zu legen, um sich einen Geschirrspüler zu kaufen. Sie wollen Teil von etwas Einzigartigem sein. Dafür sind sie bereit, ihr Leben zu opfern.“ (S. 80). Sehr treffend wird von Beresowski konstatiert, wie sich die Menschen zu Beginn der 90er Jahre in Russland gefühlt haben mögen: „Sie waren in einer Heimat aufgewachsen und fanden sich in einem Supermarkt wieder. Die Entdeckung des Geldes war das erschütterndste Ereignis dieser Zeit. Und dann die Entdeckung, dass Geld seinen Wert verlieren konnte, mit dem Zusammenbruch der Börse und einer Inflation von dreitausend Prozent.“ (S. 81).

 

Beresowski ist es dann, der Putin (in einem fiktiv gestalteten Gespräch) darum bittet, die Führung des Landes zu übernehmen und Russland ins neue Jahrtausend zu führen (vgl. S. 83). Schon bald darauf lernt Baranow den zukünftigen Präsidenten Putin kennen. Er erkennt in seinem Gegenüber einen machtbewussten Politiker, der genau weiß, was er will: „Der Mann, mit dem ich gerade gegessen hatte, würde sich niemals von irgendjemandem lenken lassen. Man konnte ihn vielleicht begleiten, und das wollte ich auch versuchen, aber führen konnte man ihn sicher nicht.“ (S. 94).

 

Nach der Wahl Wladimir Putins zum Staatsoberhaupt werden im weiteren Handlungsverlauf zentrale Ereignisse seiner Amtszeit dargestellt und regelrecht analysiert (z.B. die Anschläge auf Moskauer Wohnhäuser 1999, Putins „Latrinen-Äußerung“, Zweiter Tschetschenienkrieg). Dabei wird Putins Charakter und sein Wirken in die Bevölkerung hinein sehr genau in den Blick genommen. Der Autor ist darum bemüht, sich in die mögliche Gedankenwelt des russischen Präsidenten hineinzuversetzen und sein Handeln sowie die Mechanismen von Macht, Machterhalt und Gewalt sozialpsychologisch-soziologisch auszudeuten.

 

Viel Raum nimmt auch die Schilderung der Beziehung zwischen Putin und Beresowski ein, der später in Ungnade fällt, weil er sich überschätzt und zu sehr politisch einmischt (Stichwort: Untergang der Kursk und das daran anschließende Krisenmanagement). Am Beispiel der Beseitigung des Oligarchen Michail Chodorkowski wird veranschaulicht, wie die Wut innerhalb der Bevölkerung kanalisiert wird: „für die Massen war es schon immer eines der beliebtesten Spektakel, den Kopf eines Mächtigen rollen zu sehen. Die Tötung eines wichtigen Mannes tröstet die Massen über ihre Mittelmäßigkeit hinweg.“ (S. 140) Schon Stalin hätte das bei seinen Schauprozessen erkannt (vgl. S. 141).  Die Absicht Putins sei es, die Vertikale der Macht neu zu errichten.

 

Ein weiteres Ereignis, das in den Blick genommen wird, ist das Folgende: die Geschehnisse auf dem Maidan und die von Baranow gesteuerte russische Reaktion darauf. Weitere lesenswerte Passagen: fiktive Gespräch zwischen dem Schachweltmeister Kasparow und Baranow sowie zwischen Baranow und Prigoschin, die Begegnung Merkels mit Putins Labradorhündin und eine letzte Aussprache mit Beresowski kurz vor dessen Tod. Auch die Krim-Annexion wird thematisiert: „Wir haben die Krim zurückerobert, weil sie uns gehört, aber hier ist das Ziel ein anderes. Hier ist unser Ziel nicht die Eroberung, sondern das Chaos. Jeder soll sehen, dass die Orangene Revolution die Ukraine in die Anarchie gestützt hat. Wenn man den Fehler begeht, sich in die Hände der Westler zu begeben, dann endet es so: Sie lassen dich bei den ersten Schwierigkeiten im Stich und du stehst mutterseelenallein vor einem zerstörten Land.“ (S. 229) Eine mögliche russische machtpolitische Analyse, wie ich finde.

 

Eines Tages entschließt sich der Protagonist Baranow, seine Machtposition als Berater aufzugeben. Seine Tätigkeit beschreibt er wie folgt: „Die Wahrheit ist, dass ich mich immer im Sinne der Macht verschworen habe, niemals gegen sie. Das ist so meine Art, etwas, das viele Menschen nicht verstehen. Es stimmt, dass es im Umfeld von Machtmenschen immer welche gibt, die darüber nachdenken, wie sie deren Platz einnehmen können. Aber ein echter Berater gehört einer völlig anderen Spezies an als der Machthaber. (…) Die Worte, die er dem Fürsten ins Ohr flüstert, entfalten ihre maximale Wirkung, ohne dass er die Strapazen des Aufstiegs auf sich nehmen muss. Dann kehrt er in aller Seelenruhe in die Bibliothek zurück, während sich die wilden Tiere unter der Wasseroberfläche weiter zerfleischen.“ (S. 247) Von diesem Zeitpunkt an ist Putin allein: „Der Zar lebt in einer Welt, in der selbst die besten Freunde zu Höflingen oder unerbittlichen Feinden werden, meistens sogar zu beidem zugleich. (S. 248)

 

Was ich mir noch gewünscht hätte, wäre ein erläuterndes Nachwort mit Quellenangaben gewesen. Der Zusammenschau des Feuilletons auf perlentaucher.de habe ich beispielsweise die interessante Information entnehmen können, dass die Figur Wadim Baranow der realen Person Wladislaw Surkow nachempfunden worden sei (Recherche im Internet empfohlen!). Die Lektüre von „Der Magier im Kreml“ war für mich interessant und ich habe wieder einiges dazulernen können. Dennoch musste ich mir während des Lesens immer wieder in Erinnerung rufen, dass vieles von dem Erzählten reine Fiktion ist. Es wird hier die Möglichkeit einer machtpolitischen Deutung eröffnet, aber wie sehr sie der Realität nahekommt, bleibt natürlich offen.   

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