Vertikale der Macht
In
dem Roman „Der Magier im Kreml“ von Guiliano da Empoli werden reale Figuren und
Ereignisse aus der russischen Geschichte und Gegenwart in einen fiktiven
Zusammenhang gebracht. Grobe Linien der Historie werden nachgezeichnet. Das hat
mich neugierig gemacht. Schon der Titel erregte direkt Aufmerksamkeit. In den
vergangenen Monaten habe ich immer wieder Bücher zu Russland, zur russischen
Gesellschaft und zum Angriffskrieg gelesen (vgl. dazu frühere Rezensionen).
Warum also nicht etwas Fiktives?
Anhand
des Gesprächs des Ich-Erzählers mit Wadim Baranow, einem ehemaligen engen
Berater von Putin, über seine Lebensgeschichte werden zentrale Stationen der
russischen Historie verdeutlicht. Zu Beginn des Dialogs erwähnt Baranow auch
seinen Großvater und Vater, so dass der Rückblick bis hinein in die Anfänge des
20. Jh. reicht. Erwähnt wird z.B. die Vorliebe für den Schriftsteller Samjatin
und dessen literarisches Schaffen. In Bezug auf den Autor hält er fest: „Das
einzige Problem war, dass er alles viel zu schnell durchschaute und so
unvorsichtig war, darüber zu schreiben. (…) Und so kämpft Samjatin, obwohl er
Ingenieur ist, mit den Waffen der Literatur, des Theaters und der Musik;“ (S.
25-26).
Baranow
erzählt von seinem Großvater, der ein Exzentriker war und der politische
Ereignisse der damaligen Zeit mit scharfzüngigem Humor kommentierte: „Genosse
Chruschtschow besucht eine Schweinefarm und wird fotografiert. In der Prawda diskutieren die Grafiker, wie sie
die Bildlegende formulieren sollen: <Genosse Chruschtschow unter
Schweinen>, <Genosse Chruschtschow und die Schweine>, <Genosse
Chruschtschow bei den Schweinen?> Die Vorschläge werden einer nach dem anderen abgelehnt. Am
Ende trifft der Direktor seine Entscheidung. Die gewählte Bildlegende lautet:
<Dritter von rechts, Genosse Chruschtschow>. (S. 34).
In
Abgrenzung zum Großvater habe sich der Vater allerdings systemkonform
verhalten: „Ich denke, seit seiner Kindheit war es sein Hauptanliegen gewesen,
sich aus Schwierigkeiten herauszuhalten. Sobald er konnte, trat er den
Pionieren bei und später dem Komsomol. Ich nehme an, er wollte den
exzentrischen Vater und die aristokratische Herkunft wieder wettmachen.“ (S.
31).
Baranows
Urteil zum russischen System fällt hart aus: „In Russland zählt nur das
Privileg, die Nähe zur Macht. Alles andere ist nebensächlich. So war es zu
Zeiten des Zaren, und in den Jahren des Kommunismus erst recht.“ Er beschreibt
auch das Moskau der 90er Jahre nach Zusammenbruch der Sowjetunion. Baranow
entscheidet sich gegen den Rat seines Vaters dafür, sich in der Moskauer
Schauspielakademie einzuschreiben. Die neue Freiheit berauscht ihn: „Wir kamen
aus einer Welt der unausgesprochenen oder geflüsterten Worte, in der die
wenigen Menschen, die den Mut hatten, sie offen auszusprechen, Verrückte oder
Helden waren.“ Er beschreibt das Chaos in Moskau, das auch zu Gewaltexzessen
geführt hat (vgl. S. 69).
Später
gelangt Baranow mit seiner Theatererfahrung zum Fernsehen und wird dort
Produzent: „Wir machten die Trümmer des alten Systems, die Sozialwohnungen in
den Vorstädten und die Spitzen von Stalins Wolkenkratzern zu Kulissen unserer
Realityshows.“ (S. 71) Es sei barbarisches und vulgäres Fernsehen produziert
worden, die Grenzen des Trash seien häufig überschritten worden (vgl. S. 71).
Baranow lernt Boris Beresowski kennen (Recherche im Internet empfohlen!), der
ihm erklärt, was die Russen benötigen: „Die Russen sind nicht wie die
Amerikaner und werden es auch niemals sein. Es reicht ihnen nicht, Geld auf die
hohe Kante zu legen, um sich einen Geschirrspüler zu kaufen. Sie wollen Teil
von etwas Einzigartigem sein. Dafür sind sie bereit, ihr Leben zu opfern.“ (S.
80). Sehr treffend wird von Beresowski konstatiert, wie sich die Menschen zu
Beginn der 90er Jahre in Russland gefühlt haben mögen: „Sie waren in einer
Heimat aufgewachsen und fanden sich in einem Supermarkt wieder. Die Entdeckung
des Geldes war das erschütterndste Ereignis dieser Zeit. Und dann die
Entdeckung, dass Geld seinen Wert verlieren konnte, mit dem Zusammenbruch der
Börse und einer Inflation von dreitausend Prozent.“ (S. 81).
Beresowski
ist es dann, der Putin (in einem fiktiv gestalteten Gespräch) darum bittet, die
Führung des Landes zu übernehmen und Russland ins neue Jahrtausend zu führen
(vgl. S. 83). Schon bald darauf lernt Baranow den zukünftigen Präsidenten Putin
kennen. Er erkennt in seinem Gegenüber einen machtbewussten Politiker, der
genau weiß, was er will: „Der Mann, mit dem ich gerade gegessen hatte, würde
sich niemals von irgendjemandem lenken lassen. Man konnte ihn vielleicht
begleiten, und das wollte ich auch versuchen, aber führen konnte man ihn sicher
nicht.“ (S. 94).
Nach
der Wahl Wladimir Putins zum Staatsoberhaupt werden im weiteren
Handlungsverlauf zentrale Ereignisse seiner Amtszeit dargestellt und regelrecht
analysiert (z.B. die Anschläge auf Moskauer Wohnhäuser 1999, Putins
„Latrinen-Äußerung“, Zweiter Tschetschenienkrieg). Dabei wird Putins Charakter
und sein Wirken in die Bevölkerung hinein sehr genau in den Blick genommen. Der
Autor ist darum bemüht, sich in die mögliche Gedankenwelt des russischen
Präsidenten hineinzuversetzen und sein Handeln sowie die Mechanismen von Macht,
Machterhalt und Gewalt sozialpsychologisch-soziologisch auszudeuten.
Viel
Raum nimmt auch die Schilderung der Beziehung zwischen Putin und Beresowski
ein, der später in Ungnade fällt, weil er sich überschätzt und zu sehr
politisch einmischt (Stichwort: Untergang der Kursk und das daran anschließende
Krisenmanagement). Am Beispiel der Beseitigung des Oligarchen Michail
Chodorkowski wird veranschaulicht, wie die Wut innerhalb der Bevölkerung
kanalisiert wird: „für die Massen war es schon immer eines der beliebtesten
Spektakel, den Kopf eines Mächtigen rollen zu sehen. Die Tötung eines wichtigen
Mannes tröstet die Massen über ihre Mittelmäßigkeit hinweg.“ (S. 140) Schon
Stalin hätte das bei seinen Schauprozessen erkannt (vgl. S. 141). Die Absicht Putins sei es, die Vertikale der
Macht neu zu errichten.
Ein
weiteres Ereignis, das in den Blick genommen wird, ist das Folgende: die
Geschehnisse auf dem Maidan und die von Baranow gesteuerte russische Reaktion
darauf. Weitere lesenswerte Passagen: fiktive Gespräch zwischen dem
Schachweltmeister Kasparow und Baranow sowie zwischen Baranow und Prigoschin,
die Begegnung Merkels mit Putins Labradorhündin und eine letzte Aussprache mit
Beresowski kurz vor dessen Tod. Auch die Krim-Annexion wird thematisiert: „Wir
haben die Krim zurückerobert, weil sie uns gehört, aber hier ist das Ziel ein
anderes. Hier ist unser Ziel nicht die Eroberung, sondern das Chaos. Jeder soll
sehen, dass die Orangene Revolution die Ukraine in die Anarchie gestützt hat.
Wenn man den Fehler begeht, sich in die Hände der Westler zu begeben, dann
endet es so: Sie lassen dich bei den ersten Schwierigkeiten im Stich und du
stehst mutterseelenallein vor einem zerstörten Land.“ (S. 229) Eine mögliche russische
machtpolitische Analyse, wie ich finde.
Eines
Tages entschließt sich der Protagonist Baranow, seine Machtposition als Berater
aufzugeben. Seine Tätigkeit beschreibt er wie folgt: „Die Wahrheit ist, dass
ich mich immer im Sinne der Macht verschworen habe, niemals gegen sie. Das ist
so meine Art, etwas, das viele Menschen nicht verstehen. Es stimmt, dass es im
Umfeld von Machtmenschen immer welche gibt, die darüber nachdenken, wie sie
deren Platz einnehmen können. Aber ein echter Berater gehört einer völlig
anderen Spezies an als der Machthaber. (…) Die Worte, die er dem Fürsten ins
Ohr flüstert, entfalten ihre maximale Wirkung, ohne dass er die Strapazen des
Aufstiegs auf sich nehmen muss. Dann kehrt er in aller Seelenruhe in die
Bibliothek zurück, während sich die wilden Tiere unter der Wasseroberfläche
weiter zerfleischen.“ (S. 247) Von diesem Zeitpunkt an ist Putin allein: „Der
Zar lebt in einer Welt, in der selbst die besten Freunde zu Höflingen oder
unerbittlichen Feinden werden, meistens sogar zu beidem zugleich. (S. 248)
Was
ich mir noch gewünscht hätte, wäre ein erläuterndes Nachwort mit Quellenangaben
gewesen. Der Zusammenschau des Feuilletons auf perlentaucher.de habe ich
beispielsweise die interessante Information entnehmen können, dass die Figur
Wadim Baranow der realen Person Wladislaw Surkow nachempfunden worden sei
(Recherche im Internet empfohlen!). Die Lektüre von „Der Magier im Kreml“ war
für mich interessant und ich habe wieder einiges dazulernen können. Dennoch
musste ich mir während des Lesens immer wieder in Erinnerung rufen, dass vieles
von dem Erzählten reine Fiktion ist. Es wird hier die Möglichkeit einer
machtpolitischen Deutung eröffnet, aber wie sehr sie der Realität nahekommt,
bleibt natürlich offen.
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