Intergenerationales Verstehen
Von
dem österreichischen Autor Wolf Haas habe ich bisher noch nichts gelesen. Ich
gehe also ohne Vorwissen zu seinen bisherigen Werken, für die er verschiedentlich
ausgezeichnet worden ist (u.a. mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis der Stadt
Braunschweig für „Das Wetter vor 15 Jahren“), an seinen neuesten Roman
„Eigentum“ heran.
Zum
Inhalt: Ein Sohn besucht seine altersdemente Mutter im Altersheim, zwei Tage
vor ihrem Tod. Anfangs wird diese Begegnung mit ironischer Distanz und
Bissigkeit geschildert. Die Art der Mutter, anderen Menschen vorwurfsvoll zu
begegnen und ihr eigenes Leid zu beklagen, wird auf die Schippe genommen. Sie
erinnert sich an die Armut in ihrer Kindheit, die in ihrer Gedankenwelt sehr
präsent ist. Die Mutter wurde 1923 geboren. Eine prägende Erfahrung, die sich
in das Gedächtnis der alten Frau eingebrannt hat, ist die Hyperinflation. Und
ihr Sohn wusste schon im Kleinkindalter, was es mit dem Begriff auf sich hat:
„Schon als Fünfjähriger wusste ich, was Inflation war. Das ist, wie wenn dein
Eis auf einmal zwei Schilling kostet statt einen Schilling. Und das
Zweischillingeis kostet sechs Schilling, oder zehn Schilling oder tausend
Schilling. Das Dreischillingeis kostet eine Million Schilling, weil das Geld
hin ist“ (S. 34).
Das
große Ziel der Mutter habe immer darin bestanden, Eigentum zu erwirtschaften. Ebenfalls
eine prägende Erfahrung für den Sohn: „Ich hörte immer brav zu, ich sah schon
mit drei Jahren alt aus. Die drei Phasen des Bausparvertrages (Sparphase, Zuteilungsphase, Darlehensphase)
hielt ich für einen Kinderreim. Die Berechnung der Bewertungszahl beherrschte ich im Schlaf. Als ich in die
Volksschule kam, war ich bereits Professor für Inflationstheorie“ (S. 37). Für
die Mutter bestand das Leben aus drei Tätigkeiten: 1) sparen, sparen, sparen;
2) arbeiten, arbeiten, arbeiten und 3) zahlen, zahlen, zahlen.
Erinnerungen
der Mutter werden episodenhaft in der Ich-Form in die Handlung eingeflochten.
Dabei sind die Schilderungen der Lebensstationen der Mutter der Alltagssprache
und ihrem Sprachduktus angenähert. Dies hinterlässt eine höchst authentische
und realistische Wirkung. Es wird deutlich, mit welchen Hürden und
Einschränkungen die alte Frau in ihrem Leben zu kämpfen hatte. Und durch die
erinnerte Erinnerung des Sohns werden die Erinnerungen der Mutter wieder
lebendig. Man taucht als Leser:in in eine vergangene Lebenswelt ein. Und ihr
Schicksal steht sicherlich exemplarisch für das Schicksal vieler Frauen jener
Generation.
Die
Mutter erscheint als willensstarke Frau mit Begabung für Fremdsprachen, die
aber irgendwann ihren Traum von Eigentum aufgeben musste und aus diesem Grund
von Niedergeschlagenheit erfasst worden ist. Charakterlich sei sie eine
schwierige Frau gewesen: „Sie konnte blind tippen mit dem Zehnfingersystem,
aber sie konnte nicht mit den Leuten, sie konnte einem Kind die Inflation erklären,
aber sie konnte nicht mit den Leuten, sie konnte Englisch, sie konnte
Französisch, sie konnte Generationen von Wirtskindern durch die Schule tragen,
aber sie konnte nicht mit den Leuten“ (S. 117). Der Wunsch, Eigentum zu
erwirtschaften, habe das Leben der Mutter bestimmt.
Letztlich
eine interessante Lebensgeschichte, wie sie vermutlich von vielen erzählt
werden könnte. Ein Buch, das ich mit Interesse gelesen habe. Das Werk ist für
mich wieder ein Beweis dafür, dass Bücher Fenster zu neuen Welten öffnen
können. Intergenerationales Verstehen wird durch dieses Werk gefördert. Allerdings
hat mich der Roman nicht so sehr in seinen Bann gezogen, dass ich 5 Sterne
geben kann. So komme ich auf 4 Sterne!
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