Bandenkriminalität in Schweden
„In
Schwedens moderner Geschichte wurden noch nie so viele Kinder verdächtigt,
verhaftet und/ oder wegen schwerer Gewaltverbrechen verurteilt wie derzeit.
2021 schätzte die Polizei, dass etwa 15 Prozent der Bandenkriminellen in
Wohngebieten mit ‚schwachem sozioökonomischen Status‘ unter 18 Jahre alt waren. Mittlerweise geht man davon aus, dass der Anteil auf ein Drittel
angewachsen sein könnte. Mindestens.“ (Quelle: „Straftaten von Kids in Schweden
steigen“ von Reinhard Wolff in: taz.de, 14.2.23, 13.35 Uhr)
Der
im Zitat beschriebenen Problematik widmet sich auch das Buch „Mit zitternden
Händen“ von Malin Persson Giolito, die selbst in Stockholm aufwuchs und in
Schweden mit ihrem Werk einen Nr.1-Bestseller landete. Vor der Lektüre des
Romans war mir gar nicht bewusst, dass Schweden zum gefährlichsten Land in
Europa avancierte. Nirgendwo sonst in Europa sterben so viele Menschen an
Schusswaffentaten (Recherche im Internet dazu empfohlen). Am Beispiel eines
fiktiven Falls widmet sich die Autorin diesem Thema. Auf S. 236 legt sie einem
Polizisten folgende Worte in den Mund: „Die Bandenkriminalität ist vollkommen
außer Kontrolle geraten. Wir haben mehr Schießereien als je zuvor. Kinder
erschießen Kinder. Das System ist kaputt, die Gesellschaft zerrissen, wir
müssen es reparieren, alles müssen wir reparieren.“ Eine erschreckende Analyse,
wie ich finde.
Auf
einem Spielplatz in ein einem Vorort von Stockholm ertönt ein Schuss. Danach
folgt ein Anruf in der Polizeinotrufzentrale. Ein Kind berichtet, dass jemand
in den Kopf geschossen worden sei. Und das Drama nimmt seinen Lauf… Das
Geschehen wird den Leser:innen in zwei Perspektiven vermittelt. Einerseits wird
die sich anbahnende Freundschaft zweier Jungen, Billy und Dogge, im Rückblick
geschildert, andererseits werden die Ereignisse nach der Tat beschrieben. Kurz
nach dem Mord wird nämlich der vermeintliche Täter bereits gefasst und
vernommen: Dogge. Und gleichzeitig wird die Verzweiflung der Mutter von Billy eindringlich
geschildert, die ihren tödlich verletzten Sohn im Krankenhaus besucht, um von
ihm Abschied zu nehmen. Eine sehr emotionale, traurige Passage, die unter die
Haut geht. Es stellen sich folgende zentrale Fragen: Wie konnte es soweit
kommen? Was war der Anlass? Warum musste Billy sterben? Die Auflösung hebt sich
die Autorin bis zum Schluss auf.
Billy
und Dogge stammen aus unterschiedlichen Welten. Und durch den Rückblick wird
deutlich, wie beide auf die schiefe Bahn geraten und kriminell werden. Eines
ihrer Opfer ist z.B. ein Ladenbesitzer, der immer wieder bestohlen wird. Sie
lernen Mehdi kennen, der für sie zum Anführer wird und ihnen alles beibringt. Sie
geraten immer tiefer in ein System aus Angst, Repression und Abhängigkeit. Und
die Mutter, die etwas ahnt, will Billy aus dem kriminellen System heraushelfen…
Auf
der Gegenwartsebene hingegen werden realistisch und detailgetreu die
Vernehmungen des Täters durch die Polizei geschildert. Die Darstellung der
Polizeiarbeit wirkte auf mich authentisch. Das lässt eine gute Recherche der
Autorin erahnen, die auch selbst Jura studiert hat. Darüber hinaus ist
erschreckend, in was für einem frühen Alter die beiden Jungen bereits mit
Kriminalität und Gewalt in Berührung kommen.
Später
kommt Dogge in eine geschlossene Jugendeinrichtung. Wir begleiten ihn dabei,
wie er sich einfindet und lernen die Strukturen kennen, mit denen er sich
arrangieren muss. Wie es der Zufall will, trifft er dort einen Jungen wieder,
den er von früher kennt und der ihn massiv einschüchtert und ihm droht: „Mehdi
möchte, dass ich dich im Auge behalte. Denn wir wollen ja nicht, dass dem
kleinen Lasse etwas Unangenehmes zustößt. Niemand möchte, dass Lasse sich
wehtut. Oder?“ (S. 186). Und als Leser:in fragt man sich: Wie wird Dogge sich
verhalten? Was wird aus ihm? Ich will hier nicht zu viel verraten.
Was
mir auch gut gefallen hat, war die Darstellung der Polizeiarbeit. Der
ermittelnde Polizist wirkte desillusioniert und überfordert. Er hat Schwierigkeiten,
eine sichere Beweiskette herzustellen. In diesem Zusammenhang wird auch eine
interessante Diskussion zur Frage eröffnet, wie mit solchen Kindern zu
verfahren ist. Hat der Polizist etwa Recht mit seiner Einschätzung? („Ich
versuche seit mehr als zehn Jahren, diese Kinder zu verstehen, und ich schaffe
es nicht. Sie lügen über Dinge, bei denen sie gar nicht lügen müssten, und sie
sagen die Wahrheit, wenn man es am wenigsten erwartet. Sie können morden, weil
jemand über den falschen Scherz lacht oder das falsche Foto auf Instagram
liked, sie können ein Mädchen besoffen machen, mit ihr schlafen, wenn sie
bewusstlos ist, und sich gleichzeitig dabei filmen. Hör auf, sie verstehen zu
wollen. Da gibt es nichts zu verstehen. Sie sind Scheusale“, S. 321-322). Auch
die Überforderung von Justiz- und Schulsystem wird punktuell in der Handlung verdeutlicht.
Sie führt zu der folgenden Frage, die ebenfalls im Buch thematisiert wird: Darf
man das Gesetz in die eigene Hand nehmen, wenn man sich auf Polizei und
Gerichtsbarkeit nicht verlassen kann?
Abschließend
mein Fazit: Für mich nahm die Schilderung der Vergangenheitsebene zu viel Raum
ein. Aber das ist natürlich Geschmackssache. Auch gab es zwischendurch schon
einige Längen, das Tempo war nicht sehr hoch. Die Wechsel der Perspektiven waren
nicht immer geschickt platziert. Dafür punktet das Buch mit einer guten
Charakterzeichnung sowie mit einer realistischen Darstellung von Polizei- und
Justizarbeit. Was ebenfalls gut zum Ausdruck kommt, ist ein permanent vorherrschendes
Bedrohungsszenario durch die Unberechenbarkeit und Kaltblütigkeit der kriminellen
Charaktere. Das Thema ist aktuell und man lernt etwas über Bandenkriminalität
in Schweden dazu.
1 Kommentar:
Mir hat die Einleitung im ersten Absatz sehr gut gefallen. Man erfährt in dieser Rezension sehr viel über Jugendkriminalität - und überhaupt war mir nicht bewusst, dass Schweden eine so hohe Kriminalitätsrate hat.
Eine sehr schöne und informative Rezension.
VG Volker
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