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Dienstag, 15. August 2023

Giolito, Malin Persson - Mit zitternden Händen






Bandenkriminalität in Schweden


„In Schwedens moderner Geschichte wurden noch nie so viele Kinder verdächtigt, verhaftet und/ oder wegen schwerer Gewaltverbrechen verurteilt wie derzeit. 2021 schätzte die Polizei, dass etwa 15 Prozent der Bandenkriminellen in Wohngebieten mit ‚schwachem sozioökonomischen Status‘ unter 18 Jahre alt waren. Mittlerweise geht man davon aus, dass der Anteil auf ein Drittel angewachsen sein könnte. Mindestens.“ (Quelle: „Straftaten von Kids in Schweden steigen“ von Reinhard Wolff in: taz.de, 14.2.23, 13.35 Uhr)

 

Der im Zitat beschriebenen Problematik widmet sich auch das Buch „Mit zitternden Händen“ von Malin Persson Giolito, die selbst in Stockholm aufwuchs und in Schweden mit ihrem Werk einen Nr.1-Bestseller landete. Vor der Lektüre des Romans war mir gar nicht bewusst, dass Schweden zum gefährlichsten Land in Europa avancierte. Nirgendwo sonst in Europa sterben so viele Menschen an Schusswaffentaten (Recherche im Internet dazu empfohlen). Am Beispiel eines fiktiven Falls widmet sich die Autorin diesem Thema. Auf S. 236 legt sie einem Polizisten folgende Worte in den Mund: „Die Bandenkriminalität ist vollkommen außer Kontrolle geraten. Wir haben mehr Schießereien als je zuvor. Kinder erschießen Kinder. Das System ist kaputt, die Gesellschaft zerrissen, wir müssen es reparieren, alles müssen wir reparieren.“ Eine erschreckende Analyse, wie ich finde.

 

Auf einem Spielplatz in ein einem Vorort von Stockholm ertönt ein Schuss. Danach folgt ein Anruf in der Polizeinotrufzentrale. Ein Kind berichtet, dass jemand in den Kopf geschossen worden sei. Und das Drama nimmt seinen Lauf… Das Geschehen wird den Leser:innen in zwei Perspektiven vermittelt. Einerseits wird die sich anbahnende Freundschaft zweier Jungen, Billy und Dogge, im Rückblick geschildert, andererseits werden die Ereignisse nach der Tat beschrieben. Kurz nach dem Mord wird nämlich der vermeintliche Täter bereits gefasst und vernommen: Dogge. Und gleichzeitig wird die Verzweiflung der Mutter von Billy eindringlich geschildert, die ihren tödlich verletzten Sohn im Krankenhaus besucht, um von ihm Abschied zu nehmen. Eine sehr emotionale, traurige Passage, die unter die Haut geht. Es stellen sich folgende zentrale Fragen: Wie konnte es soweit kommen? Was war der Anlass? Warum musste Billy sterben? Die Auflösung hebt sich die Autorin bis zum Schluss auf.

 

Billy und Dogge stammen aus unterschiedlichen Welten. Und durch den Rückblick wird deutlich, wie beide auf die schiefe Bahn geraten und kriminell werden. Eines ihrer Opfer ist z.B. ein Ladenbesitzer, der immer wieder bestohlen wird. Sie lernen Mehdi kennen, der für sie zum Anführer wird und ihnen alles beibringt. Sie geraten immer tiefer in ein System aus Angst, Repression und Abhängigkeit. Und die Mutter, die etwas ahnt, will Billy aus dem kriminellen System heraushelfen…

 

Auf der Gegenwartsebene hingegen werden realistisch und detailgetreu die Vernehmungen des Täters durch die Polizei geschildert. Die Darstellung der Polizeiarbeit wirkte auf mich authentisch. Das lässt eine gute Recherche der Autorin erahnen, die auch selbst Jura studiert hat. Darüber hinaus ist erschreckend, in was für einem frühen Alter die beiden Jungen bereits mit Kriminalität und Gewalt in Berührung kommen.

 

Später kommt Dogge in eine geschlossene Jugendeinrichtung. Wir begleiten ihn dabei, wie er sich einfindet und lernen die Strukturen kennen, mit denen er sich arrangieren muss. Wie es der Zufall will, trifft er dort einen Jungen wieder, den er von früher kennt und der ihn massiv einschüchtert und ihm droht: „Mehdi möchte, dass ich dich im Auge behalte. Denn wir wollen ja nicht, dass dem kleinen Lasse etwas Unangenehmes zustößt. Niemand möchte, dass Lasse sich wehtut. Oder?“ (S. 186). Und als Leser:in fragt man sich: Wie wird Dogge sich verhalten? Was wird aus ihm? Ich will hier nicht zu viel verraten.

 

Was mir auch gut gefallen hat, war die Darstellung der Polizeiarbeit. Der ermittelnde Polizist wirkte desillusioniert und überfordert. Er hat Schwierigkeiten, eine sichere Beweiskette herzustellen. In diesem Zusammenhang wird auch eine interessante Diskussion zur Frage eröffnet, wie mit solchen Kindern zu verfahren ist. Hat der Polizist etwa Recht mit seiner Einschätzung? („Ich versuche seit mehr als zehn Jahren, diese Kinder zu verstehen, und ich schaffe es nicht. Sie lügen über Dinge, bei denen sie gar nicht lügen müssten, und sie sagen die Wahrheit, wenn man es am wenigsten erwartet. Sie können morden, weil jemand über den falschen Scherz lacht oder das falsche Foto auf Instagram liked, sie können ein Mädchen besoffen machen, mit ihr schlafen, wenn sie bewusstlos ist, und sich gleichzeitig dabei filmen. Hör auf, sie verstehen zu wollen. Da gibt es nichts zu verstehen. Sie sind Scheusale“, S. 321-322). Auch die Überforderung von Justiz- und Schulsystem wird punktuell in der Handlung verdeutlicht. Sie führt zu der folgenden Frage, die ebenfalls im Buch thematisiert wird: Darf man das Gesetz in die eigene Hand nehmen, wenn man sich auf Polizei und Gerichtsbarkeit nicht verlassen kann?

 

Abschließend mein Fazit: Für mich nahm die Schilderung der Vergangenheitsebene zu viel Raum ein. Aber das ist natürlich Geschmackssache. Auch gab es zwischendurch schon einige Längen, das Tempo war nicht sehr hoch. Die Wechsel der Perspektiven waren nicht immer geschickt platziert. Dafür punktet das Buch mit einer guten Charakterzeichnung sowie mit einer realistischen Darstellung von Polizei- und Justizarbeit. Was ebenfalls gut zum Ausdruck kommt, ist ein permanent vorherrschendes Bedrohungsszenario durch die Unberechenbarkeit und Kaltblütigkeit der kriminellen Charaktere. Das Thema ist aktuell und man lernt etwas über Bandenkriminalität in Schweden dazu.

1 Kommentar:

Volker Kaiser hat gesagt…

Mir hat die Einleitung im ersten Absatz sehr gut gefallen. Man erfährt in dieser Rezension sehr viel über Jugendkriminalität - und überhaupt war mir nicht bewusst, dass Schweden eine so hohe Kriminalitätsrate hat.
Eine sehr schöne und informative Rezension.
VG Volker

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