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Donnerstag, 29. Februar 2024

Thiele, Markus - Zeit der Schuldigen


Wunsch und Wirklichkeit



Was ich an Markus Thiele und an seinen Büchern, die ich kenne, sehr schätze: Er leuchtet Grauzonen des Rechts in Deutschland aus und lässt sich dabei von wahren Fällen inspirieren. So war es bei „Die sieben Schalen des Zorns“ (vgl. dazu eine frühere Rezension), und so ist es auch bei seinem neuesten Werk „Zeit der Schuldigen“. Hinzu kommt seine Expertise als Jurist. Man merkt seinen Büchern an, dass er sich fachlich gut auskennt und auf diese Weise lernt man beiläufig auch noch etwas über das Rechtssystem in Deutschland dazu.

 

Seine Bücher dürften insbesondere für Fans von „True Crime“ interessant sein, die an der Nachzeichnung einer realen Prozesshistorie interessiert sind. Thiele orientiert sich an dem Fall von Frederike von Möhlmann. Wer z.B. Ferdinand von Schirach oder die Justiz-Krimis von Florian Schwiecker und Michael Tsokos mag, der wird bestimmt auch an den Büchern von Markus Thiele Gefallen finden. Und eines gleich vorweg: Thiele muss den Vergleich mit den genannten Autoren nicht scheuen. Das beweist sein neuestes Werk einmal mehr. Er schreibt fesselnd, lebendig, man bleibt an den Seiten haften und er fordert die Leser:innen zum Nachdenken heraus. Der Fall, den er in „Zeit der Schuldigen“ schildert, wird nicht nur packend erzählt, der Stoff zeigt Grenzen des Rechts auf und emotionalisiert sehr stark. Und auch sein Nachwort ist erhellend und kenntnisreich (Mein Rat: dieses sollte man allerdings erst im Nachgang lesen, sonst büßt der Handlungsverlauf vermutlich an Spannung und an Überraschungseffekten ein).

 

Der Roman ist auf zwei Zeitebenen angesiedelt. Auf der gegenwärtigen Handlungsebene verfolgen wir das Geschehen um die Kommissarin Anne Paulsen, die den tatverdächtigen Volker März für sein Verbrechen Jahrzehnte nach der Tat auf ihre eigene Weise zur Rechenschaft ziehen will. Und auf der Vergangenheitsebene erhalten wir Einblick in die Beziehungsverhältnisse des Opfers und vollziehen den Kampf des Vaters um Gerechtigkeit nach. Und eines kann ich versprechen: Mit zunehmendem Handlungsverlauf wird man als Leser:in immer stärker emotional gepackt. Man taucht immer tiefer in den Fall ein und ist fassungslos, dass Recht und Gerechtigkeit so weit auseinander liegen können. Doch ich will nicht zu viel verraten. Lasst euch selbst mitreißen! Nur so viel: Ich hätte nicht damit gerechnet, dass die Gesetzeslage in Deutschland so ausschaut. Und ich habe mir häufiger die Frage nach dem „Warum“ gestellt.

 

Thieles Schreibweise hat mir gut gefallen. Seine Schilderungen von Handlungsorten und Figuren sind klar und greifbar. Die Charaktere wirken lebensecht und sind facettenreich gestaltet worden. V.a. die psychische Belastung des Vaters vom Opfer wird in meinen Augen spürbar! Wie konnte dieser Mann das alles nur verkraften und die verschiedenen Verfahren durch die Instanzen aushalten? Man fühlt mit ihm mit. Beim Lesen entstehen stets Bilder vor dem inneren Auge. Ein gutes Zeichen! Und man erkennt an vielen Stellen, dass Thiele sich auskennt und weiß, wovon er schreibt. Das merkt man z.B. schon daran, wie er die arbeitsorganisatorischen Abläufe bei der Polizei oder die Vernehmungen von März darstellt.

 

Den Grad an Spannung empfand ich durchweg als hoch, ich wollte stets wissen, wie es weitergeht und hatte während der Lektüre stets genügend offene Fragen im Kopf, die mich zum Weiterlesen und später zum Verschlingen des Buchs animiert haben. Zum Ende zieht die Spannung spürbar an. Der Autor eröffnet zahlreiche Spannungsbögen, die immer wieder gut unterbrochen werden. Sehr geschickt! Auch gab es immer einmal wieder gut platzierte Überraschungen, mit denen ich im Vorfeld nicht gerechnet habe. Die Darstellung der Verhandlungen empfand ich ebenfalls als eine große Stärke des Buchs. Gebannt verfolgt man die Prozesse und die damit verbundene Rechtsprechung. Sie wirken allesamt sehr authentisch, was natürlich daran liegt, dass der Autor sich in diesem Bereich als Jurist bestens auskennt.

 

Und noch etwas Lobenswertes: Der Autor entlässt mich nach der Lektüre nachdenklich. Er wirft viele (v.a. auch moralische) Fragen auf, die man für sich selbst klären muss. Auch habe ich mich an einigen Stellen gefragt, wie Beteiligte bestimmte Dinge mit sich selbst vereinbaren können. Das finde ich großartig und es wertet das Buch noch einmal zusätzlich auf, weil der Inhalt dadurch nachhallt. Nach meiner Erfahrung gibt es nicht viele Werke, die eine solche Wirkung haben. Kurzum: Ich bin von „Zeit der Schuldigen“ begeistert. Von mir gibt es 5 Sterne (= herausragend)!

Montag, 26. Februar 2024

Hossenfelder, Sabine - Mehr als nur Atome






Forschung in der Sackgasse?


In ihrem Sachbuch „Mehr als nur Atome“ stellt Sabine Hossenfelder der Kosmologie ein schlechtes Zeugnis aus: zu viel Spekulation, zu wenig gesichertes Wissen, zu wenig Erklärungskraft. Das wird an der Diskussion verschiedener Forschungsfragen in vielen Kapiteln deutlich. Es ist eine bittere Bilanz, die sie zieht. Zwar lässt sie auch an vielen Stellen erkennen, dass sie die Hoffnung hegt, dass durch bessere Messungen und mehr Daten in Zukunft genauere Modelle entwickelt werden können, aber das, was man zum jetzigen Zeitpunkt über das Universum zu wissen glaubt, ist höchst umstritten. Nach ihrer Meinung scheint sich die Forschung aktuell eher in einer Sackgasse zu befinden. Und ich empfand es beim Lesen als wohltuend und erfrischend, dass das auch einmal jemand ausspricht. Oft wird in Sachbüchern ja ein ganz anderer Eindruck erweckt.


Aufmerksam geworden auf das Buch bin ich übrigens durch einen Beitrag von Dr. Bernhard Weßling, der auf diesem Blog aus seiner Expertensicht eine Rezension dazu veröffentlicht hat (s. unter Gastbeitrag), die auch in leicht veränderter Form in der Naturwissenschaftlichen Rundschau (Heft 8/2023) erschienen ist. Anders als ich kennt sich Weßling bestens aus mit der Materie. Er hat selbst ein Buch geschrieben, in dem es viele Schnittmengen mit Themen aus Hossenfelders Werk gibt. Eine vergleichende Lektüre lohnt sich also. Und er bemängelt in seiner Rezension einige inhaltliche Aspekte, die fraglich oder gar falsch erscheinen. Kurzum: Ich empfehle zusätzlich die Lektüre von Weßlings Rezension hier auf diesem Blog. Ich spreche im Folgenden lediglich aus Laiensicht einige Dinge an, die ich kritisch gesehen habe. 


Ein Beispiel dafür, dass die Forschung (aktuell) in einer Sackgasse steckt, betrifft die mögliche zukünftige Entwicklung des Universums: Nach Einschätzung der Autorin sind dazu keine klaren Aussagen machbar, weil viele Faktoren veränderlich sein können, ohne dass wir es zum heutigen Zeitpunkt wissen (z.B. die dunkle Energie). Letztlich kann die Forschung nur Mutmaßungen anstellen! Viele Spekulationen lassen sich zudem nicht überprüfen, weil die Zeiträume im All zu gigantisch sind, um Hypothesen zu verifizieren. Klar scheint wohl nur eines: Die Entropie wird immer weiter zunehmen und irgendwann wird das Universum den Zustand der maximalen Entropie erreicht haben und sich im Gleichgewicht befinden. Dieser Prozess ist unumkehrbar und unausweichlich! Fraglich ist dann aber wieder, was danach passiert. Wird das späte Universum die Entropie zerstören? Gibt es einen Zyklus? Und die Autorin merkt auch an, dass man momentan nicht wisse, wie man Entropie mit Raumzeit und Gravitation in Verbindung bringen kann.

 

Was ich insgesamt schade finde, ist der Umstand, dass man sehr, sehr deutlich merkt, aus welcher Wissenschaftsdisziplin die Autorin kommt. Ihr Blick auf die Welt und die vielen ungelösten Fragen ist sehr verengt auf eine rein physikalisch-mathematisch-naturwissenschaftliche Sichtweise. An einer Stelle stellt sie sogar die Frage in den Raum, ob die Sprache der Mathematik diejenige Sprache der Natur ist, die es zu entschlüsseln gilt. Ich hätte mir gewünscht, dass Hossenfelder bei verschiedenen Fragestellungen, denen sie sich widmet, auch einmal über den Tellerrand ihrer eigenen Disziplin hinausschaut, z.B. wenn es um die Frage nach Bewusstsein und nach einem freien Willen geht. So glaubt die Autorin beispielsweise, dass man Gehirne irgendwann einmal Atom für Atom nachbauen kann und meint, dass das Gehirn nicht mehr sei, als die Summe seiner atomaren Teile. Eine solche Sichtweise ist mir zu einseitig. Was sagt denn die Neurowissenschaft dazu? Es ist doch unklar, wie die neuronalen Bestandteile miteinander interagieren und wechselwirken. Hier allein auf noch nicht erklärbare Quanteneffekte Bezug zu nehmen, um menschliche Entscheidungsfähigkeit zu erklären, überzeugt mich (als Laie!) nicht, aber ich bin natürlich kein Experte. Eine solche verengte Perspektive wird dem komplexen Untersuchungsgegenstand nach meinem Empfinden aber nicht gerecht.

 

Hossenfelder diskutiert auch, inwieweit das menschliche Verhalten deterministisch ist. Sie selbst gibt sich als Befürworterin des Determinismus zu erkennen. Den freien Willen hält die Autorin für eine Illusion. Ich vermute sehr stark, dass sie mit ihrer Position polarisieren und eine Diskussion anstoßen möchte. Für mich ist die Frage, ob es einen freien Willen gibt sehr komplex und vielschichtig. Die Autorin gibt vieles dazu nur sehr verkürzt wieder. Das finde ich dem Gegenstand gegenüber nicht angemessen, zumal vieles aus anderen Wissenschaftsdisziplinen hier gar nicht angeführt wird (damit ließen sich ja auch viele weitere Bücher füllen). Schade! Ich könnte nun einfach die Gegenthese aufstellen und sagen, dass ich ein Anhänger des Libertarismus bin. Meine These: Wenn ich z.B. ein Stück Pflaumenkuchen und ein Stück Apfelkuchen vor mir stehen habe, zwischen denen ich wählen müsste. Ist dann etwa vorhersehbar, welches Stück ich esse?

 

Dann geht es an einer Stelle auch wieder um die Frage des Zufalls und um das anthropische Prinzip (vgl. dazu meine Rezension zu Weßling 2022: Was für ein Zufall!). Hossenfelder lehnt das Prinzip ab. Sie hält es sogar für falsch. Ich finde diese kategorische Einschätzung schwierig, zumal das, was die Autorin als Argument dagegen anführt im Konjunktiv formuliert ist. Noch hat man aber kein anderes intelligentes Leben gefunden, oder? Was ist daran falsch, anzunehmen, dass wir als lebende Subjekte die Naturkonstanten als Konstruktionsleistung unseres Intellekts hervorgebracht haben? Ohne uns könnten die Konstanten nicht beobachtet und auch nicht formuliert werden. Oder existieren sie etwas außerhalb der menschlichen Wahrnehmung? Und falls ja, wie ließe sich das überprüfen?

 

Am Ende ihres Buchs stellt die Autorin selbst eine irrwitzige These auf, die sie dann selbst entkräftet und verwirft: z.B. ist das Universum ein riesiges Gehirn, bei dem unsere Galaxie nur ein Neuron ist? In meinen Augen war das ein nettes Gedankenspiel, aber ich konnte die Ausführungen nicht richtig ernst nehmen. Dieses Kapitel hätte ich nicht benötigt. Spannender hingegen fand ich wiederum eine andere Frage, der sich Hossenfelder widmet: Ist das Universum vielleicht auf eine Art miteinander verbunden, die wir nicht verstehen? Kann auf diese Weise die Begrenzung der Lichtgeschwindigkeit umgangen werden? Eine interessante Spekulation. Dieses Mal von der Autorin selbst. Aber auch hier stellt sich die Frage, wie man diese Spekulation überprüfen will.

 

Was ich an dem Buch gut finde, ist der selbstkritische Impetus, mit dem es geschrieben wurde. Das kommt im Nachwort auch gut zum Ausdruck, wie ich finde. Wissenschaftler sollten sich der Grenzen ihres Wissens bewusst sein und auch einräumen, dass sie bestimmte Dinge einfach nicht wissen. Wissenschaft kann nicht alles erklären. So ist es! Ich empfehle dieses Buch solchen Leser:innen, die sich für Kosmologie interessieren und die gerne von der Autorin vor Augen geführt bekommen möchten, wie viel man eigentlich noch nicht weiß.

Mittwoch, 21. Februar 2024

Hauff, Kristina - Unter Wasser Nacht






Familientragödien


Kristina Hauff, die in der Vergangenheit bereits unter ihrem wahren Namen Susanne Kliem Kriminalliteratur geschrieben hat, ist mir mit ihrem Spannungsroman „In blaukalter Tiefe“ in sehr guter Erinnerung geblieben. Darin werden zwischenmenschliche Spannungen und Beziehungsdramen auf einem Segelschiff sehr gut zum Ausdruck gebracht. Eine tolle Charakterstudie! Aus diesem Grund wollte ich mehr von dieser Autorin lesen und entschied mich für die Lektüre von „Unter Wasser Nacht“ (2021), das ich hier besprechen möchte.

 

Nach dem Tod ihres elfjährigen Sohns Aaron, der in der Elbe ertrunken ist, ist die Welt für Sophie und Thies eine andere. Ihr Leben wird fortan beherrscht von Trauer und Unausgesprochenem, was ihre Beziehung belastet. Sie geben sich eine Mitschuld an dem Tod von Aaron, der ein schwieriges Kind war. Tragisch auch: Die Ermittlungen in dem Fall werden nach 13 Monaten ergebnislos eingestellt. Der Verlust bleibt also unerklärlich. Sophie und Thies können niemandem die Schuld geben, sie wissen nicht, was vorgefallen ist. Diese Unwissenheit ist eine schwere Last für die Eltern. Sophie zieht sich zurück und pflegt kaum soziale Kontakte. Hinzu kommt der Neid auf das perfekte Familienleben der Nachbarn. Die Handlung wird vorangetrieben durch die folgende Frage: Was ist damals wirklich passiert? Wird neues Wissen zum Geschehen doch noch mehr Licht ins Dunkel der Vergangenheit bringen?

 

Hauff beweist einmal mehr großes Einfühlungsvermögen und kann sich unglaublich gut in die Figuren hineinversetzen. So kommt z.B. auch das elterliche Vergleichen gut zum Ausdruck: Was machen die anderen Eltern besser als man selbst? Warum scheitert man selbst an der Erziehung der eigenen Kinder? Wie kriegen es die anderen besser hin? Auch das typische Verhalten der Kinder in der Pubertät wird gut beschrieben: Das Schweigen gegenüber den eigenen Eltern, die Heimlichkeiten, Vertrauensbrüche. Das alles wird gut deutlich. In einem weiteren Handlungsstrang, der geschickt mit dem ersten verwoben wird, geht es um das Auftauchen einer mysteriösen Fremden, die sich aus unerklärlichen Gründen in das Familienleben der beiden benachbarten Familien einmischt. Dies erzeugt noch einmal zusätzlich Neugier. Wer ist sie? Was will sie? Warum taucht sie gerade jetzt auf?

 

Das Tempo des Romans ist gemächlich, was aber auch zum bedrückenden Inhalt passt. Wir haben es hier nicht mit einem dynamischen Thriller zu tun, sondern mit Spannungsliteratur, in der die Figuren eine besondere psychologische Tiefe aufweisen und Beziehungsdramen mit viel schriftstellerischem Fingerspitzengefühl zum Ausdruck gebracht werden. Die psychologische Seite ist wie schon bei „In blaukalter Tiefe“ sehr gut konzipiert worden. Das hat mir richtig gut gefallen.

Dienstag, 20. Februar 2024

Spektrum der Wissenschaft KOMPAKT 37/2023 (Hrsg.) - Astrobiologie. Die Suche nach extraterrestrischem Leben






Extraterrestrisches Leben


Meine Beschäftigung mit dem Themenfeld „Exoplaneten“ führte mich zu vielen weiteren Fragen. Eine davon ist: Wie könnte außerirdisches Leben beschaffen sein? Ich besorgte mir also wieder ein Kompakt-Themenheft von Spektrum der Wissenschaft, die ich bereits in der Vergangenheit zu Rate gezogen habe (vgl. dazu frühere Rezensionen). Dieses Mal lautet der Titel „Astrobiologie“ (Spektrum der Wissenschaft 37/23). Und ich stelle fest, dass das Themenheft eine andere Konzeption aufweist als die früheren Ausgaben aus den vorherigen Jahren. Es gibt mehr Artikel, die dafür nicht mehr so umfangreich sind. Neu hinzugekommen sind zudem Podcast-Folgen zum Anhören (insgesamt drei Folgen), die ich aber nicht weiter vorstellen möchte. Mein Gefühl war, dass die Beiträge nun weniger in die Tiefe gehen, weniger Vorwissen voraussetzen und der Verständlichkeitsgrad stark vereinfacht worden sind. Die früheren Themenhefte kamen mir komplexer vor. Sie haben mir tatsächlich ein Stück besser gefallen, auch weil kontroverse Fragestellungen stärker in den Blick genommen wurden. Allerdings muss ich noch weitere Hefte lesen, um meinen Eindruck zu bestätigen. Vielleicht bildet das vorliegende Themenheft eine Ausnahme. Inhaltlich werden in diesem Themenheft v.a. Monde des äußeren Sonnensystems als Kandidaten für die Entstehung außerirdischen Lebens in den Blick genommen. Mit dem Hinweis auf das PLATO-Projekt wird auf ein aussichtsreiches, zukünftiges Forschungsfeld Bezug genommen, das v.a. Exoplaneten und auch Exomonde genauer untersuchen soll, und in den letzten drei Beiträgen geht es um eine mögliche Kontaktaufnahme mit Aliens.

 

Beitrag 1: Lyfe. Leben auf anderen Welten. Von Sarah Scoles

Dieser Beitrag hat mir insgesamt am besten gefallen. Die Autorin geht in die Tiefe und widmet sich verschiedenen Fragen. Eine dieser Fragestellungen lautet: Wie könnte extraterrestrisches Leben aussehen, das jenseits der Erdatmosphäre existiert? Vielleicht unterscheidet sich irdisches von außerirdischem Leben so sehr, dass man es gar nicht als Lebensform erkennt. In diesem Zusammenhang werden Kriterien vorgestellt, die dabei helfen können, Leben von Nichtleben zu unterscheiden. Eine brauchbare Definition von Leben wurde beispielsweise 2011 von Edward Trifonov vorgeschlagen, der Leben als „Selbstproduktion mit Variationen“ beschreibt (vgl. S. 7). Im Beitrag werden noch weitere Kriterien beschrieben, welche Bedingungen Leben zu erfüllen hat, um als lebendig eingestuft werden zu können (vgl. S. 9). Sehr interessant! Eine weitere brauchbare Unterscheidung von Leben und Nichtleben kann zudem mit Hilfe der Begriffe „Gleichgewicht“ und „Ungleichgewicht“ vorgenommen werden. Lebende Strukturen würden sich mit ihrer Umgebung im Nicht-Gleichgewicht befinden, nicht-lebende Strukturen hingegen befänden sich mit ihrer Umwelt im Gleichgewicht.

 

Beitrag 2: Exoplaneten. Andere Atmosphäre, trotzdem bewohnbar? Von Wiebke Pfohl

Die Autorin erläutert, dass die Atmosphäre auf vielen Planeten nicht aus Sauerstoff und Stickstoff besteht, sondern aus Wasserstoff und Helium. Doch auch auf solchen Planeten mit einer anderen Atmosphäre könnte Leben existieren. Das hat ein Forschungsteam der Universität Bern und der Universität Zürich herausgefunden, so Pfohl. Unter bestimmten Bedingungen wie z.B. einer massiven Atmosphäre mit hohem Druck und mit Hilfe eines Treibhauseffekts sei es möglich, dass auch auf solchen Planeten gemäßigte Temperaturen herrschen und flüssiges Wasser existiert.

 

Beitrag 3: Raumfahrt. Sind Jupiters Monde lebensfreundlich? Von Jonathan O’Callaghan

In diesem Beitrag wird von O’Callaghan erläutert, dass frühere Missionen zu Jupiters Monden ergeben haben, dass es dort verborgene Ozeane mit flüssigem Wasser gibt. Neue Raumsonden sollen nun Aufschluss darüber liefern, ob es dort auch Leben gibt. Die Mission der ESA mit dem Titel „Jupiter Icy Moons Explorer“ (JUICE) wird den Jupiter im Jahr 2031 erreichen. Im Zentrum des Interesses stehen dabei die folgenden drei Monde: Europa, Ganymed und Kallisto. Die größte Aufmerksamkeit erhält dabei Ganymed. Eine weitere Mission der NASA mit dem Namen „Europa Clipper“ nimmt hingegen den Mond Europa ins Visier. Der Autor des Beitrags stellt die einzelnen Missionen genauer vor und beschreibt auch, was die Forscher sich von den Vorhaben versprechen. Im Idealfall könnte Clipper vielleicht sogar durch eine von Europa ausgestoßene Wasserfontäne fliegen und Messungen vornehmen, bei denen nach Spuren von Leben gesucht wird. Nicht zuletzt wirft der Autor einen Blick in die Zukunft. Vorstellbar seien z.B. „Lander-Missionen“, bei denen Rover ausgewählte Monde genauer untersuchen. Für die Durchführung solcher Missionen müssten aber noch viele Unwägbarkeiten gelöst werden.

 

Beitrag 4: Sonnensystem. Fremdartige Ozeane. Von Rebecca Boyle

In diesem Beitrag werden von der Autorin sechs Monde von Planeten des äußeren Sonnensystems vorgestellt, die flüssiges Wasser aufweisen könnten. Hierzu zählen „Europa“, „Ganymed“, „Kallisto“ (= Jupitermonde), „Enceladus“, „Titan“ (= Saturnmonde) und der Neptunmond „Triton“. Teilweise konnte vom Hubble-Teleskop bereits der Ausstoß von Wasserfontänen beobachtet werden. Die einzelnen Monde werden in Infografiken präsentiert, bei denen Fakten zum Aufbau der Monde, zur Größe, zur Oberflächentemperatur und bereits bekannte Hintergrundinformationen von früheren Missionen anschaulich und kompakt präsentiert werden.

 

Beitrag 5: Enceladus. Saturnmond beherbergt alle Zutaten, die es für Leben braucht. Von Katharina Menne

Enceladus hat großes Potential, was die Entstehung außerirdischen Lebens angeht, so Menne. In seinem Ozean wurden von Forschern um Frank Postberg von der Freien Universität Berlin bereits Phosphate nachgewiesen: „Phosphor ist eines der essenziellen Elemente für die Entstehung von Leben, wie wir es kennen. Es ist am Aufbau und an der Funktion von Organismen beteiligt, etwa als Bestandteil der DNA und der zellulären Energieversorgung“ (S. 45).

 

Beitrag 6: Cassini-Mission. So wahrscheinlich ist Leben unter dem Eis von Enceladus. Von Franziska Konitzer

Auf dem Saturnmond Enceladus hat man Methan gemessen. Konitzer diskutiert unter Bezugnahme auf verschiedene Forschungsergebnisse die Frage, ob dies ein Hinweis auf biologische Aktivität sein könnte. Vieles deutet jedenfalls darauf hin, dass es auf dem Grund des Ozeans von Enceladus Hydrothermalquellen gibt. Solche Quellen gibt es auch auf der Erde und sie bieten geeignete Bedingungen für das Leben von Mikroorganismen. Allerdings kann das Vorkommen von Methan auf Enceladus auch anders erklärt werden. Ein gesicherter Hinweis auf Leben ist es nicht.  Nur weitere Missionen können darüber Aufschluss geben.

 

Beitrag 7: Weltraumteleskop Plato. Interview von Peter Michael Schneider mit Heike Rauer.

In diesem Interview wird die Aufgabe des Weltraumteleskops PLATO genauer skizziert. PLATO ist mit 26 Kameras ausgestattet und soll 2026 starten, um Exoplaneten aufzuspüren. Es wird dafür auf die so genannte Transit-Methode zurückgegriffen. Und dank der hohen Anzahl an Kameras können auch lichtschwächere Sterne ins Visier genommen werden. PLATO leistet zudem eine wichtige Vorarbeit für das James-Webb-Teleskop. Wird mit PLATO ein aussichtsreicher Exoplaneten-Kandidat aufgespürt, so kann sein Spektrum mit dem JWST genauer ausgewertet werden. So wird es möglich, die Zusammensetzung der Atmosphäre genauer zu bestimmen. Möglicherweise wird PLATO sogar Exomonde entdecken können.

 

Beitrag 8: Künstliche Intelligenz. Technischer Spürhund. Von Franziska Konitzer

Mit Hilfe von künstlicher Intelligenz wird es möglich, störende irdische Interferenzen bei der Radioteleskopie besser auszusieben, so die Autorin. Auf diese Weise wird es besser möglich, nach außerirdischen Signalen am Nachthimmel suchen zu können.

 

Beitrag 9: Erstkontakt. Botschaft mit der Bitte um Rückruf. Von Daniel Oberhaus

Was für eine Nachricht sollte man ins All schicken, um mit möglichen Aliens Kontakt aufzunehmen? Diese Frage thematisiert Oberhaus in seinem Beitrag. Es zeigt sich, dass es gar nicht so einfach ist, eine befriedigende Antwort auf diese Frage zu finden. Gleichzeitig diskutiert der Autor auch, ob es überhaupt sinnvoll ist, eine Botschaft ins Universum zu schicken und so auf sich aufmerksam zu machen. Einige Forscher halten dies für Zeitverschwendung oder gar für gefährlich.

 

Beitrag 10: Warkus‘ Welt. Botschaften für fremde Wesen. Von Matthias Warkus

In dieser Kolumne stellt sich der Autor die Frage, wie man am aussichtsreichsten mit anderen Wesen in Kontakt treten könnte. Dabei stellt er auch das Gedankenspiel an, ob es Aliens geben könnte, die überhaupt ohne Sprache auskommen könnten. Ist intelligentes Leben ohne Sprache möglich? Gibt es womöglich Wesen die keine Individualität aufweisen? Wie könnte außerirdisches Denken aussehen? Höchste philosophische Fragen, die Warkus hier aufwirft, und damit zum Nachdenken anregt. Eine mögliche Anregung für Science-Fiction-Autoren.

Sonntag, 18. Februar 2024

Poznanski, Ursula - Die Burg




3 von 5 Sternen



Zu wenig Abwechslung und durchschnittliches Spannungsniveau


Eine künstlich erschaffene Welt zum Spielen, Rätseln oder zur Erholung? Diese Idee kennt man vom Holodeck aus Star Trek oder auch aus dem Kultfilm „Westworld“ (1973). Ursula Poznanski entwickelt in ihrem Thriller „Die Burg“ unter Einbezug des Themas „Künstliche Intelligenz“ aus dieser Grundidee ein eigenes Setting: Eine mittelalterliche Burg dient als Escape-Welt. Und eine Besuchergruppe von Experten um den Milliardär Nevio soll dieses ausgefeilte System testen und evaluieren. Dabei kommt es zu einem Zwischenfall. Die KI entwickelt ein Bewusstsein und hält die Gruppe in der Spielewelt fest. Die Gruppe muss um ihr Überleben kämpfen und gleichzeitig versucht man von außen, die KI zu stoppen und die Simulation abzubrechen.

 

Das Spannungsniveau empfand ich als durchschnittlich. Es dauert schon eine ganze Weile, bis ich in die Handlung hineingefunden habe und vom Geschehen mitgerissen wurde. Und leider verlor die Spannung auf Dauer für mich an Reiz, weil der Inhalt im weiteren Handlungsverlauf zu gleichförmig verlief: immer wieder neue Räume, mit immer wieder neuen Horrorszenarien. Irgendwann reichte es dann einfach. Auch das Team, das von außen eingreift, agiert ziemlich ideenlos und teils naiv. Dieser Handlungsstrang stagnierte mir zu sehr. Was ich vermisst habe: Eine Bedrohung, die mit der Zeit immer mehr zunimmt, ein Team, das von außen mit immer neuen Methoden versucht, Zugriff aufs System zu erhalten und damit scheitert, weil sich die KI wehrt etc. Auch über die technischen Hintergründe hätte ich gern noch mehr erfahren. Ich konnte mir gar nicht so richtig vorstellen, wie das alles funktioniert, was die Gruppe in der Burg erlebt. Handelt es sich um Holographie? Für mich war auch der Schreibstil insgesamt als zu langatmig. Das Tempo ließ zu wünschen übrig.


Was mich ebenfalls enttäuschte, war die Charakterzeichnung. Die Figuren blieben allesamt recht blass und erhielten auch nicht alle die gleiche Aufmerksamkeit. Die Darstellung der Gruppendynamik und das Zusammenspiel der Protagonisten haben mich auch nicht überzeugt. Im Vorfeld der Lektüre hatte ich die Erwartung, dass die Escape-Räume so geschildert werden, dass man als Leser:in ggf. sogar mitraten kann. Das hat sich beim Lesen dann aber als Trugschluss erwiesen. Im Prinzip wird die Handlung durch folgende Fragen vorangetrieben: Was hat die KI vor? Was ist ihr Ziel? Warum agiert sie so, wie sie agiert (v.a. so sadistisch)? Und wird die Gruppe sich aus der Simulation befreien können? Die ersten drei Fragen blieben für mich allerdings zu sehr in der Schwebe. Schade! Und noch etwas hat mir gefehlt: Ein großes Finale. Der Grad an Spannung zog für mich am Ende nicht an, sondern der Spannungsbogen bewegte sich durchgängig auf einem durchschnittlichen Niveau. Für mich eine enttäuschende Lektüre. Ich komme auf 3 Sterne!

Freitag, 16. Februar 2024

Leo, Maxim - Wir werden jung sein




5 von 5 Sternen



Medizintechnische Revolution

 

„Youth’s like diamonds in the sun / and diamonds are forever“

 

Was wäre, wenn ein Medikamentenversuch fehlschlüge und die Probanden mit den ungeahnten Folgen einer Verjüngung konfrontiert wären? Darum geht es in dem Roman „Wir werden jung sein“ von Maxim Leo (bei mir stellten sich direkt Assoziationen zu „Benjamin Button“ ein). Die Folgen des Experiments werden uns am Beispiel von Einzelschicksalen von fünf Protagonisten vorgestellt, deren Lebensgeschichte wir näher kennen lernen. Und eines kann ich direkt vorwegnehmen: Ich fand das Gedankenspiel, das der Autor entwirft, interessant und habe mit großer Faszination die Lebenswege der Figuren verfolgt.

 

Zu Beginn wird uns der 17-jährige Jakob nähergebracht, der unter einer Herzmuskelschwäche leidet und ständig müde und erschöpft ist. Er verliebt sich in Marie, die mit ihrer unbefangenen und ehrlich-direkten Art sofort sein Herz erobert. Als nächstes begegnen wir Herrn Wenger, Immobilien-Patriarch und pedantischer Planer, der eine tödliche Diagnose erhält und nicht mehr viel Zeit hat. Er plant daraufhin seinen eigenen Tod in Form von Sterbehilfe und macht sich daran, sein Erbe zu regeln. Eine weitere Figur: Die ehemalige Profischwimmerin Verena. Sie knackt bei einem „Rentnerrennen“, das lediglich als Show gedacht war, den Weltrekord in 100m Freistil. Und plötzlich steht sie unter Doping-Verdacht. Sie kann sich ihre Leistung selbst nicht erklären. Weiterhin lernen wir Jenny kennen, die einen unerfüllbaren Kinderwunsch hegt. Trotz mehrmaliger, belastender In-vitro-Fertilisationen will sich keine Schwangerschaft einstellen, bis ein Seitensprung plötzlich ihr Leben grundlegend ändert. Und zuletzt: Die Perspektive des verschrobenen und menschenscheuen Forschers Martin. Er ist der Projektleiter der Studie, an der Jacob, Wenger, Verena und Jenny teilnehmen. Sein Ziel ist die Reprogrammierung von Herzmuskelzellen. Das Medikament testet er auch an sich selbst und seinem Hund. Nun ist er mit der Situation konfrontiert, dass sich die Probanden des Versuchs verjüngen, und das mit ungewissem Ausgang. Es entstehen folgende Fragen: Wie geht es mit den Figuren weiter? Wie wird sich ihr Leben verändern? Und wird sich die Verjüngung stoppen lassen? Ohne zu viel zu verraten: Die Verjüngung hat nicht nur Vorteile! Insbesondere die jüngeren Probanden haben mit Komplikationen zu kämpfen.

 

Nachdem sich die Nachricht über die Verjüngung als Nebenwirkung der medizinischen Behandlung von Jacob, Wenger, Verena und Jenny herumspricht, wollen auf einmal weitere Menschen mit dem Medikament behandelt werden. Begehrlichkeiten werden geweckt. Und anhand der Perspektive von Miriam, einer wissenschaftlichen Beraterin der Regierung, wird eine medizinethische Bewertung des Phänomens vorgenommen. Sie betrachtet das Für und Wider des möglichen Eingriffs in den Lebenszyklus des Menschen. Klar ist nur: Die Entdeckung wird das menschliche Zusammenleben grundlegend ändern. Und am Rande wird auch die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft gestreift.

 

Die Stärke des Autors ist in meinen Augen die Charakterzeichnung. Alle Figuren haben klare Konturen und werden in ihren Eigenheiten sehr gut deutlich. Maxim Leo schafft es auf wenigen Seiten, seinen Charakteren ein deutliches Profil zu verleihen. Und durch einen geschickt eingebauten Zeitsprung wird uns eine Vorher-Nachher-Perspektive eröffnet. Eine Entwicklung der Protagonisten kommt zum Ausdruck. Und dadurch, dass die Figuren sich in verschiedenen Lebensstadien befinden, wird die Frage nach den Auswirkungen des Medikaments auch unterschiedlich beleuchtet. Das hat mir richtig gut gefallen. Auf diese Weise entsteht ein differenziertes, facettenreiches Bild. Und durch die beschriebenen Komplikationen, die ebenfalls auftreten, werden auch Nachteile ins Blickfeld gerückt. Und noch einen Effekt hat die Erwähnung des Negativen: Man leidet mit den Patienten mit und spürt als Leser:in emotionale Betroffenheit. Nicht zuletzt stellt man sich bei der Lektüre selbst die Frage, wie man mit einer solchen Diagnose umgehen würde. Würde man gern selbst wieder jünger sein? Eine interessante Frage, wie ich finde. Insgesamt hat mir das Buch sehr gut gefallen. Eine rundum gelungene Sache. Ich habe keine Verbesserungsvorschläge und vergebe deshalb 5 Sterne!

Mittwoch, 14. Februar 2024

Kukafka, Danya - Notizen zu einer Hinrichtung




5 von 5 Sternen



Literatur mit „thrillerhaften Zügen“


Kurz vor seiner Hinrichtung begleiten wir Ansel Packer im Todestrakt bei seinen letzten Gedanken. Er spricht sich dabei selbst mit „du“ an, was einen ungewöhnlichen Effekt erzeugt. Man fühlt sich als Leser:in direkt angesprochen. Ansel wartet auf die Vollstreckung der Todesstrafe. Ihm bleiben noch 12 Stunden. Und er kann sich bis zum Schluss mit dem Urteil nicht abfinden, glaubt bis zu einem gewissen Punkt noch daran, dass er der Strafe entfliehen kann. Doch je näher die Frist rückt, desto klarer wird ihm, es gibt kein Entrinnen. Das ist wirklich eine schwer auszuhaltende Lektüre, bei der man als Leser:in gezwungen ist, sich mit dem Thema „Todesstrafe“ auseinanderzusetzen. Das Buch hat mir viel abverlangt und ich vermute, anderen Leser:innen wird es nicht anders ergehen.

 

Eingestreut in die Kapitel zu Ansel Packer, die im stündlichen Countdown heruntergezählt werden, werden zudem Rückblicke von verschiedenen Frauenfiguren: Da ist die Mutter von Ansel , die ihren Sohn im Alter von vier Jahren mit ihrem kleinen Bruder allein zurückgelassen hat, weil sie die Gewalt ihres Ehemanns nicht mehr ertragen hat. Wir erfahren auf diese Weise mehr über die armselige und gewalthaltige Kindheit von Ansel, der dann schließlich in staatliche Obhut gelangt. Da ist Hazel, die Zwillingsschwester von Jenny, mit der Ansel lange Zeit nach außen eine „normale“ Beziehung geführt hat, ohne zu bemerken, was Ansel für ein Mensch ist. Und da ist die Polizistin Saffy, die Ansel verdächtigt, observiert und dann überführt. Wir haben es also mit einem „howcatchem“-Thriller zu tun, wenn man dieser Genrezuordnung folgen möchte. In den Rückblicken erfahren wir mehr zur kindlichen Prägung von Ansel, zu seinen Taten und seinem „Scheinleben“ von Normalität sowie zu den Ermittlungen. Es geht vor allem um die Frage: Wie wird er am Ende ergriffen? Und es geht auch um die Frage: Wie wird jemand zum Mörder?

 

Das Buch wird als Thriller vermarktet, doch ich finde das Etikett „Thriller“ wird diesem Buch nicht gerecht, weil es zu kurz greift. Aufgrund der Themenwahl und der ausführlichen Charakterisierung der Figuren würde ich das Buch eher dem Genre „Literatur“ zuordnen, Literatur mit „thrillerhaften Zügen“. Die Charakterzeichnung aller handlungstragenden Figuren ist sehr detailliert ausgefallen. Vor allem Ansel gerät furchteinflößend und mitleiderregend zugleich. Da ist seine wahnhafte Seite, die man sich aufgrund seines kindlichen Traumas erklären kann und die Mitgefühl erregt, aber da ist auch die emotionslose, kalte sowie berechnende Seite, die mich als Leser schaudern ließ. Ansel ist in der Lage, seine Mitmenschen mühelos zu durchschauen und zu manipulieren. Und was geschickt von der Autorin immer wieder eingestreut wird: Es gibt an vielen Stellen Vorzeichen, die auf die dunkle Seite von Ansel hindeuten. Und gleichzeitig wirkt er besonders auf Frauen charmant, anziehend und attraktiv.

 

Das Buch fordert die Leser:innen, wie schon beschrieben, dazu heraus, sich eingehender mit dem Thema „Todesstrafe“ zu beschäftigen. Ein Thema, das ja auch in den Medien immer einmal wieder auftaucht. Erst kürzlich hat die Hinrichtung mit einer neuen Methode in Alabama für Schlagzeilen gesorgt. Jeder muss für sich selbst klären, wie er dazu steht. In dem Buch wird jedenfalls gut deutlich, dass es nicht nur schwarz und weiß gibt, sondern sehr viele Grautöne. Dafür sorgt allein schon die Charakterzeichnung der Figuren. Auch das erzähltechnische Arrangement überzeugt, es kommen viele Blickwinkel vor, die sich dem Thema und dem Täter annähern. Hätte die Autorin wirklich einen Thriller schreiben wollen, so hätte die Handlung viel stärker gestrafft werden müssen, die Charaktere wären weniger differenziert und facettenreich beschrieben worden und sie hätte auch an einigen anderen „Stellschrauben“ drehen müssen, um mehr Tempo zu erzeugen. Deshalb glaube ich, dass es der Autorin um etwas anderes ging, als „nur“ einen Thriller zu schreiben. Es ging ihr um mehr. Und das ist ihr gelungen. Von mir gibt es 5 Sterne.

Dienstag, 13. Februar 2024

The Walking Dead - Dead City






Altbekanntes und viele Logiklöcher


Wird die Ableger-Serie „Dead City“ um Maggie Greene und Negan neue Wege beschreiten oder wird sie Altbekanntes aufwärmen? Werden dem „The-Walking-Dead“-Universum neue Impulse verliehen? In meinen Augen, nein! Für mich ist der Stoff auserzählt. Das, was „Dead City“ bietet, hat man alles schon einmal in den elf Staffeln der Hauptserie gesehen.

 

Schon der Einstieg in das Spin-Off wirkt auf mich konstruiert-gewollt und weist Logiklöcher auf. Es hat mich nicht auf Anhieb überzeugt. Man muss sich als Zuschauer:in erst einmal zurechtfinden, worum es überhaupt geht. Wo befindet sich Maggie eigentlich? Warum ist sie dort? Von wem und warum wurde ihr Sohn entführt? Was hat es mit New Babylon auf sich? Wer sind die Marshalls? Welcher Zufall sorgt dafür, dass Negan und Maggie plötzlich zusammenfinden? Woher weiß Maggie, dass ihr Sohn in Manhatten ist? Mir fehlten eingangs zu viele Hintergründe, man wird als Zuschauer direkt ins Geschehen hineingeworfen und ist auf Orientierungssuche.

 

Das Beste an der Serie sind noch die beiden Hauptfiguren, um die es geht. Allerdings ist die Fehde zwischen Maggie und Negan nichts Neues. Man kennt sie schon aus der Hauptserie. Für mich wird der Konflikt zwischen den beiden zu sehr „plattgetreten“. Und visuell konnte mich „Dead City“ auch nicht überzeugen, da sind die Stadtszenen in „The last of us“ besser gelungen (vgl. dazu eine frühere Rezension). Eine Steigerung gibt es in meinen Augen lediglich beim Grad an ekelerregenden Szenen. Das brauche ich nicht!

 

Für mich gibt es einfach zu viel Altbekanntes: Psychopathischen Anführer und Gemeinschaften, die sich inmitten der lebensfeindlichen Umwelt eine Heimat aufgebaut haben, hat das Franchise schon zu genüge präsentiert. Und das Prinzip der verräterischen Mitmenschen ist nach meinem Empfinden auserzählt. Gerade da finde ich die Konkurrenzserie „The last of us“ besser, weil sie einmal andere Wege beschreitet und nicht nur zwischenmenschlichen Verrat sowie Misstrauen thematisiert.

 

Negan entwickelt sich stellenweise zu der brutalen Figur von früher zurück. Gewalt wird von ihm als Mittel der Machtdemonstration gerechtfertigt. Grenzwertig, wie ich finde. Und es zeigen sich bei ihm zwei Seiten: Der Sadist einerseits und der Beschützer andererseits. Als Zuschauer ist man hin- und hergerissen, was man von ihm halten soll. Das ist das einzige, was ich positiv herausheben kann. Die Figur polarisiert. Ansonsten übt die Serie keine große erzählerische Kraft aus. Und was sich besonders störend auswirkt, sind die vielen logischen Ungereimtheiten, die immer wieder zutage treten.

Montag, 12. Februar 2024

Capus, Alex - Das kleine Haus am Sonnenhang






Müßiggang als Quelle von Kreativität

 

„Wir schreiben, was wir in uns haben und wie wir sind; wie denn sonst.“

 

Was macht ein Autor so, während er an seinem ersten Roman schreibt? Alex Capus gewährt in seinem schmalen autobiographischen Büchlein „Das kleine Haus am Sonnenhang“ einen äußerst persönlichen Einblick in sein privates Leben in den 90er Jahren, als er an seinem Debut arbeitete. Und eines ist sicher: Sollte ich „Munzinger Pascha“ irgendwann lesen, so werde ich stets nach Spuren eines Siebenschläfers darin suchen.

 

Der Erzählton des Berichts ist amüsant und locker-beschwingt. Capus erinnert sich wehmütig an seine Zeit in Italien, als er ein altes Steinhaus am Fuße eines Weinbergs gekauft hat, um dort in Ruhe zu schreiben. Eine Zeit, in der es weder Handy noch E-Mails gab. Er beschreibt den Müßiggang, den er erlebt und der für die Entfaltung seiner Kreativität einen wichtigen Beitrag geleistet hat. Mit der Zeit wird das Manuskript stets besser und länger. Capus findet reichlich Zeit zum „Brüten“, wie er es nennt. Das Leben, das er uns zeigt, zeichnet sich aus durch Entschleunigung. Und Capus genießt die Ruhe, den Frieden und die Abgeschiedenheit in dem Haus. Das wird nur allzu deutlich. Nur selten sucht er die Nähe zu anderen Menschen.

 

Capus neigt auch zur Selbstreflexion. Er ist in der Lage, seine eigenen Charakterzüge zu benennen, die ihn ausmachen. Sehr interessant und eine äußerst persönliche Auskunft noch dazu! Auf mich macht er den Eindruck, als ruhe er in sich selbst. Er kennt sich selbst genau und akzeptiert, wie er ist. Besonders aufschlussreich fand ich die Textstellen, als Capus offenlegt, woher seine Ideen stammen. Es seien Dinge, die er erlebt oder gesehen, gehört oder gelesen oder sonst wie erfahren habe. Er bediene sich aus dem Fundus seiner Seele, aus dem Steinbruch der Vergangenheit. Niemand, so Capus, schöpfe beim Erzählen aus der leeren Luft. Für ihn werden selbst Kneipenabende zu einer Quelle der Inspiration.

 

Was ich auch mit Interesse gelesen habe: Capus verfügt über ein besonderes Einfühlungsvermögen. Er ist in der Lage, sich in den Charakter einer historischen Figur so hineinzuversetzen, dass sie der Realität nahekommt und lebensecht wirkt. Ein großes Talent! Was mir ebenfalls gefiel: Die Reflexion über die Rolle der Lesenden und der Autoren sowie über das Wechselspiel von Rezipient, Verfasser und Werk. Eine für mich diskussionswürdige Stelle findet sich z.B. auf S. 78: „Der Autor ist sein Werk, das scheint mir selbstverständlich, und umgekehrt spiegelt das Werk das Wesen des Autors; was denn sonst. Ich habe in meinem Leben zahlreiche Schriftstellerinnen und Schriftsteller kennengelernt und bilde mir ein, sie in ihren Büchern zweifelsfrei wiedererkannt zu haben.“ Und in Bezug auf Leser:innen hält Capus fest, dass diese nur das erschließen könnten, was in ihrer Seele schon geschrieben stehe. Insbesondere für die Lektüreauswahl in den Schulen hat diese Ansicht in meinen Augen weitreichende Konsequenzen.


Es gibt zahlreiche Textstellen, die mir sehr gut gefallen haben, weil Capus wichtige Aspekte (und Wahrheiten), die mit dem Schreiben zusammenhängen, ausspricht, sie gut auf den Punkt bringt und so zum Nachdenken anregt. So auch die folgende Passage auf S. 91: „Ich fürchte, ich bin weniger klug als meine Bücher. Kein Autor und keine Autorin, glaube ich, ist als Mensch auf der Höhe seines Werks. Warum ist das so? Weil die Bücher, die wir schreiben, jeweils die Summe der lichten Momente sind, die wir in der Zeitspanne der Niederschrift über zwei, drei oder fünf Jahre gehabt haben mögen.“ Sehr interessant! 

Donnerstag, 8. Februar 2024

Timm, Uwe - Die Entdeckung der Currywurst






Die letzten Kriegstage in Hamburg


Der Ich-Erzähler denkt wehmütig an seinen letzten Besuch an der Currywurstbude von Frau Brücker zurück. Regelmäßig kehrte er dort ein, um eine Currywurst zu essen, bis der Imbiss eines Tages verschwunden ist. Für den Ich-Erzähler ist sie die Erfinderin der Currywurst. Er macht sich also auf die Suche nach der alten Frau und findet sie nach Recherchen im Einwohnermeldeamt tatsächlich im städtischen Altersheim in Harburg. Sie erinnert sich an ihn und berichtet ihm aus ihrem Leben. Sie beginnt die Geschichte im April 1945, als sie ihren späteren Ehemann Hermann Bremer während eines Luftangriffs kennenlernt. Bremer wird zum Fahnenflüchtigen, als er sich in Lena Brücker verliebt. Sie verbringen die letzten Kriegstage gemeinsam, gemeinsam in Brückers Wohnung. Und während Nazideutschland untergeht, entsteht zwischen den beiden Protagonisten Liebe. Eine Liebe, die von potentiellen Denunzianten bedroht wird. Darum geht es in der Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“ von Uwe Timm.

 

Die Atmosphäre der letzten Kriegswochen und die Stimmung der Bevölkerung wird gut, realistisch und authentisch eingefangen. Am Beispiel von Bremer erleben wir die Perspektive eines Deserteurs, der um sein Leben fürchten muss. Er hat die Wahl, beim „Volkssturm“ an die Front zu gehen oder zu desertieren. Wo bieten sich ihm die größeren Überlebenschancen? Das ist die entscheidende Frage, die ihn umtreibt. Letztlich entscheidet er sich gegen die Front in einem verlorenen Krieg. Und seine Angst, dass man ihn als Fahnenflüchtigen entlarvt, wird spürbar. Lena Brücker hingegen, Leiterin einer Kantine, muss Gestapo-Verhöre zu politischen Ansichten von Mitarbeitern über sich ergehen lassen und hört sich Motivationsreden zum nahenden Endsieg an. Bis zum Schluss gibt es Fanatiker, die unter Realitätsverweigerung leiden. Dazu zählt z.B. auch der Blockwart des Hauses (Lammers), in dem Lena Brücker wohnt. An seinem Beispiel wird deutlich, dass man auch in den letzten Tagen des Krieges fanatische Kriegsbefürworter und Denunzianten fürchten muss. Die Gefahr einer Anzeige bei der Gestapo ist allgegenwärtig.

 

Was ebenfalls geschildert wird: Die Phase des Übergangs im Angesicht der Kapitulation. Eine Zeit der Unsicherheit. Wie geht es nun weiter? Endet der Krieg? Der Autor ist unheimlich gut in der Lage, sich in die Gedankenwelt seiner Protagonisten hineinzuversetzen. Ihr Nicht-Wissen über die Zukunft und Bremers Ungewissheit, was aus ihm wird, kommen gut zum Ausdruck. Und gleichzeitig herrscht eine Form der Informationslosigkeit, es fehlt an Zeitungen und Pressemitteilungen. Mundpropaganda ist die einzige Quelle, um Informationen zu beziehen. Ein weiteres Thema des Buchs: Der Umgang mit der Niederlage. Aus einigen ehemaligen Nazis werden plötzlich britenfreundliche Deutsche, und das von heute auf morgen. Was auch an einer Stelle im Text gestreift wird: Die Frage nach der kollektiven Schuld. Das Wegsehen und das Nichtwissenwollen, was die Verbrechen an den Juden betrifft, werden thematisiert. Und auf den letzten Seiten wird dann auch der titelgebende Inhalt in den Blick genommen: Die Erfindung der Currywurst. Das ist dann die „unerhörte Begebenheit“, die ja für eine Novelle typisches Merkmal ist. Hier zeigt sich, wie kreativ und einfallsreich Lena Brücker agiert. Über verschiedene Tauschgeschäfte und Zufälle entsteht ihre unnachahmliche Currywurst, die dann den Siegeszug in verschiedene Himmelsrichtungen antritt.

 

Letztlich ist diese schmale Novelle von Uwe Timm eine tolle und bereichernde Lektüre, insbesondere für Leser:innen, die mehr über die letzten Kriegstage erfahren wollen. Das Buch vermittelt in meinen Augen ein authentisches Bild der Atmosphäre und der Stimmung zu jener Zeit. Und es werden viele wichtige Themen gestreift, die im Zusammenhang mit dem Krieg eine zentrale Rolle spielen.

Sonntag, 4. Februar 2024

Michaelides, Alex - Die Insel des Zorns




2 von 5 Sternen


Originell und enttäuschend


Nein, dieses Buch war leider überhaupt nicht mein Fall. Schade, schade. Und das, obwohl der Auftakt vielversprechend und ungewöhnlich war. Die Idee eines Erzählers, der zugleich auch handelnde Figur ist, sich direkt an die Leser:innen wendet und das Geschehen kommentiert, fand ich zunächst interessant. Es stellte sich im weiteren Handlungsverlauf dann aber leider heraus, dass die Verwendung einer solchen Erzählerinstanz verhindert, dass überhaupt Spannung entsteht. Zu geschwätzig und omnipräsent kommt der Erzähler daher, er mischt sich in meinen Augen viel zu viel ein. Ich hätte ihm am liebsten zugerufen: „Komm doch endlich auf den Punkt!“ Irgendwann war ich tatsächlich nur noch davon genervt. Das einzige, was mir noch gefallen hat, war die Metaebene zum Schreiben, die der Erzähler eröffnet hat. Als Dramatiker kennt er sich in diesem Bereich nämlich aus, meint er zumindest…

 

Die Erzählweise ist also sicherlich mal etwas anderes, sicherlich wird sie ihre Fans finden. Für mich war es, wie gesagt, (leider) nicht das Richtige. Die Distanz zu den Figuren wurde mir dadurch auch viel zu groß, weil über sie nur berichtet wird, vermittelt durch eine andere Instanz. Gleichzeitig überschattet der charmante und selbstgefällige Erzähler mit seiner Präsenz alle anderen Figuren, drängt sie förmlich an den Rand. Dadurch verlieren sie an Reiz und an Zugkraft. Und es kommt hinzu, dass die Spannung gänzlich verloren geht. An keiner einzigen Stelle bin ich vom Geschehen gepackt worden. So etwas darf in einem „Thriller“ in meinen Augen einfach nicht passieren, sonst ist es für mich kein Thriller.


Leider kann „Die Insel des Zorns“ nicht mit dem Erfolg von „Die stumme Patientin“ mithalten, das ich auch vor kurzem gelesen habe und das mir gut gefallen hat (vgl. eine frühere Rezension). Ich rate von der Lektüre ab und komme auf 2 Sterne, weil die Idee mit dem Erzähler zunächst originell auf mich wirkte. Vom Autor würde ich mir wünschen, dass er beim nächsten Thriller wieder zu seinen Wurzeln zurückkehrt und einen stärker psychologisch ausgerichteten Plot entwickelt. Er hat mit seinem Debut ja bewiesen, dass es ihm gelingt, ein solches Setting zu kreieren. Mein Wunsch: Zurück zum Psychologisch-Psychiatrisch-Therapeutischen!

Bjerg, Bov - Auerhaus






Birth, school, work, death

 

„Our house, it has a crowd / There’s always something happening and it’s / usually quite loud”

 

Frieder, der beste Freund des Ich-Erzählers Höppner, unternimmt einen Selbstmordversuch und landet danach in der Psychiatrie. Höppner, der jugendlich-unbeschwert und mit einer „Was-kostet-die-Welt-Einstellung“ lebt, besucht ihn dort und das Gespräch verläuft unbeholfen. Wie spricht man jemanden darauf an, dass er sich umbringen wollte? Nach der Entlassung aus der Psychiatrie ziehen Höppner, seine Freundin Vera und Frieder in das leerstehende Haus von Frieders Großvater, ein altes Bauernhaus. Eine willkommene Gelegenheit für den Ich-Erzähler, vor seinem ungeliebten Stiefvater zu flüchten. Und damit Vera nicht das einzige Mädchen in der WG ist, zieht ihre Freundin Cäcilia ebenfalls mit in das sogenannte Auerhaus ein. Im weiteren Handlungsverlauf wird das bunte Leben der WG geschildert. Darum geht es in dem Roman „Auerhaus“ von Bov Bjerg, der eigentlich Rudolf Schmidt heißt.

 

Der jugendliche Drang nach Freiheit und nach Selbstbestimmung kommt gut zum Ausdruck. Die WG-Bewohner agieren oft gedankenlos und leichtsinnig. Doch gleichzeitig schwebt über der Lebenswelt von Höppner, Vera, Frieder und Cäcilia stets eine gewisse Unsicherheit, weil Frieder nicht völlig stabil ist (ein schöner Kontrast zwischen Ernsthafthaftigkeit und Unbeschwertheit, die hier deutlich wird). Die Themen „Suizid“ und „Depression“ werden auf diese Weise vertieft. Und eine zentrale Frage spielt eine Rolle: Wie geht man mit jemandem um, der suizidgefährdet ist? Doch der Erzählton ist nicht melancholisch-schwergängig, sondern amüsant, locker-leicht. Der Humor ist oft trocken. Es hat mich sehr an „Herr Lehmann“ von Sven Regener erinnert. Oft musste ich beim Lesen schmunzeln. Herrlich ist z.B. die Schilderung der Musterung oder das Schreiben der Deutschklausur im Abitur. Und was auch gut zum Ausdruck kommt: Die Ratlosigkeit des Ich-Erzählers, was er mit seinem Leben nach der Schule anfangen will. Das alles sind Themen, die auch jugendliche Leser ansprechen sollten, auch wenn einige der geschilderten Situationen nicht mehr zur heutigen Lebenssituation passen (z.B. die Sorge vor der Einberufung zum Wehrdienst).


Das Zusammenleben der vier Bewohner nimmt oft groteske Formen an und verläuft unkonventionell, stellenweise ist es auch rauschend-überschwänglich sowie tabulos-exzessiv-provokativ. Der Inhalt ist an vielen Stellen politisch-inkorrekt, viele Verhaltensweisen werden nicht moralisierend beschrieben. Darauf sollte man sich einstellen. Gerade für Lehrkräfte, die dieses Buch im Unterricht besprechen möchten, kann das zu einer Herausforderung werden. Da ist viel Fingerspitzengefühl gefragt (ich stelle es mir ehrlich gesagt schwer vor, mit Lernenden über solch privaten Themen, wie sie im Buch angesprochen werden, im Unterricht ins Gespräch zu kommen). Und am Beispiel des Ich-Erzählers wird nur allzu deutlich, dass seine Lebenswirklichkeit und die schulischen Anforderungen, die an ihn gestellt werden, weit auseinanderklaffen. Er ist mit seinen Gedanken ganz woanders und wälzt völlig anderes Probleme, als das was schulisch von ihm erwartet wird. Auch die Sprachgestaltung ist an vielen Stellen kreativ. Das alles hat mir sehr gut gefallen.