Was hält die Welt im Innersten zusammen?
In seinem sehr lesenswerten Buch „Was für ein Zufall!“ widmet sich der
Autor Bernhard Weßling den großen allgemein-menschlichen Fragen von Unvorhersehbarkeit,
Komplexität und dem Wesen der Zeit. Er gibt sich dabei als „Sinn-Suchender“ zu
erkennen und unterbreitet auf der Grundlage eigener Erfahrungen Vorschläge, wie
man die Beschaffenheit der Welt mit Hilfe der folgenden Begriffe besser
beschreiben könnte: Zufall, Nicht-Gleichgewichtssystem, Entropie und Zeit. Und
was ich direkt zu Beginn dieser Rezension bereits lobend herausstellen kann:
Der Autor schreibt weitestgehend anschaulich und ist sehr darum bemüht, den
Leser bzw. die Leserin auf seiner gedanklichen Reise „mitzunehmen“. Sein Text
zeichnet sich in großen Teilen durch Verständlichkeit aus, was einerseits an
den nachvollziehbaren Erklärungen liegt, andererseits an den zahlreichen
Beispielen, die er anführt. Da der Autor jedoch mit vielen Internetquellen
arbeitet, empfehle ich, die digitale Version des Buchs zu lesen, um den
Hyperlinks folgen zu können, und sie nicht mühsam in die Adresszeile
einzutippen.
Schon das Vorwort ist ein gelungener Einstieg ins Buch und macht Lust
auf mehr, flüssig und leserlich geschrieben. Vereinfachend, aber nicht zu
simplifizierend! Es wird ein eingängiger, leserfreundlicher und leserzugewandter
Sprachstil verwendet. Auch die vielen direkten Leseransprachen lockern den Text
gut auf und lassen ihn äußerst lebendig wirken. Ebenso sorgen die stellenweise
eingestreuten chinesischen Sprichwörter dafür, dass der Fließtext nicht zu
trocken wird. Und der Autor macht gut deutlich, um welche zentralen Fragen es
ihm geht: Woher kommt der Zufall? Wie kommt er in unsere Welt? Warum ist er
normal? Wie entsteht Komplexität? Auch der interessante Begriff des
„Nicht-Gleichgewichtssystems“ wird von ihm eingeführt. Das führt zu den
nächsten zentralen Fragen: Warum befinden sich kompliziert strukturierte
Systeme nicht im Gleichgewicht? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Zufall und
„Nicht-Gleichgewicht“? Und was ist das Wesen der Zeit? Der Autor gibt in diesem
Zusammenhang auch unumwunden zu, dass er sich an vielen Stellen nicht an der
klassischen Lehrmeinung orientiert, sondern eigene Wege beschreitet, um die
genannten Fragen zu beantworten. Deshalb möchte ich zu Beginn meiner Rezension
auch direkt festhalten: Ich kann als Nicht-Chemiker und Laie nicht alle Inhalte
auf Plausibilität hin überprüfen. Fachliche Inhalte kann ich aufgrund fehlender
Expertise nicht einschätzen, die vielen Thesen kann ich nicht alle auf
Stichhaltigkeit hin prüfen. Ich kann mich nur meines eigenen Verstandes
bedienen und im Wesentlichen solche „Stolperstellen“ benennen, die mir unklar
oder nicht nachvollziehbar in Erinnerung geblieben sind.
Kapitel 1 – Der Zufall nimmt seinen Lauf (S. 1-14)
Ungewöhnlich für ein Sachbuch ist der recht autobiographisch geprägte
Einstieg in die einzelnen Kapitel. Man lernt viel Privates über den Autor
kennen. Vorteil dieser Herangehensweise: Der Autor ist für mich als Leser kein
anonymer Fremder, über den ich nichts weiß, sondern ich kann eine persönliche
Beziehung zu ihm herstellen. Ein ungewöhnlicher Stil, der die Leser aber in
meinen Augen auch anspricht. Ich konnte mich jedenfalls darauf einlassen,
wusste aber nach der Lektüre des ersten Kapitels noch nicht so recht, auf
welche gedankliche Reise Weßling mich mitnehmen wird. Am interessantesten für
mich war der Exkurs zum Internet und zu seiner Erfindung, den der Autor hier
auf Basis seines persönlichen Erfahrungsschatzes skizziert.
Kapitel 2 – Der Zufall ist überall (S. 15-60)
Hier geht es nun vor allem um Zufälle. Der Autor nimmt eine
inhaltliche Systematisierung vor und spielt an Beispielen durch, was für
verschiedene Arten von Zufällen es gibt. Die zugrundeliegende Botschaft des
Kapitels ist recht klar: Überall ist unser Leben von zufälligen Ereignissen
geprägt. Für mich wurde das zweite Kapitel vor allem dann spannend, als der
Autor sich der wissenschaftlichen Erforschung des Phänomens „Zufall“ widmet (S.
29 ff.). Es wird deutlich, dass es Weßling vor allem um sogenannte „essenzielle
Zufälle“ geht (vgl. S. 33 ff.), also um solche Zufälle, die unvorhergesehen
passieren. Sie seien dadurch charakterisiert, dass zwei oder mehr Kausalketten,
die voneinander unabhängig sind, zusammentreffen. Mehr als eine Ursache läge
ihnen zugrunde. Was dem Autor dabei gut gelingt, ist es, den essenziellen
Zufall mit vielen konkreten Beispielen nachvollziehbar zu veranschaulichen.
Weßling ist es wichtig zu betonen, dass Zufall nicht bedeute, „dass
das entsprechende Ereignis keine Ursache hat“ (S. 39). So werde es von
Anhängern anderer Fachrichtungen aber häufig verstanden, so der Autor. Jedes
Ereignis habe eine Ursache, meist mehrere, und bei essenziellen Zufällen hätten
die zu den Ursachenden führenden Ereignisketten ursprünglich nichts miteinander
zu tun, so Weßling. An vielen Stellen widerspricht Weßling der gängigen
Lehrmeinung, was für mich insofern in Ordnung ist, als er die Leser auf diese
Weise stärker dazu veranlasst, sich mit der Herangehensweise des Autors
intensiv auseinanderzusetzen. Er fordert die Leser sozusagen zum Mitdenken
förmlich heraus. Das ist gelungen. Aber man muss sich auf so etwas einlassen
wollen.
Letztlich kann ich die gesamte, spannende und zum Nachdenken anregende
Diskussion zum Zufall hier nicht im Detail wiedergeben, das würde den Rahmen
dieser Rezension sprengen. Ich möchte aber schon deutlich machen, dass ich
nicht allen Aussagen des Autors zustimmen kann. Häufig ist er mir auch zu
kategorisch in seinen Schlussfolgerungen.
Für mich persönlich ist der Zufall eine „Wahrnehmungskategorie“, d.h.
abhängig von der eigenen Wahrnehmung. Erst meine eigene Bewertung und der
Umstand, dass ich ein Ereignis mit Bedeutung auflade, macht es zu einem Zufall.
Das, was ich selbst als Zufall erkenne oder nicht, hängt also von mir selbst
ab, es ist subjektiv. Sonst müssten ja mehrere Menschen gleichzeitig denselben
Zufall identisch wahrnehmen. Doch ist es nicht unterschiedlich, ob das, was der
eine als Zufall wahrnimmt, von einem anderen Menschen auch als Zufall
wahrgenommen wird? Ist der Zufall nicht eine „Wirklichkeitskonstruktionsleistung“
des Gehirns? Das gebe ich hier zu
bedenken. Kurzum: Ich finde das anthropische Prinzip, das der Autor ablehnt
(vgl. S. 43-44), selbst am schlüssigsten. Und die Frage danach, warum es
Zufälle gibt, lässt sich in meinen Augen also gar nicht beantworten. Erst der
Mensch selbst verleiht dem Zufall mit seiner Wahrnehmung Bedeutung. Und auch
die Einschätzung der Häufigkeit von Zufällen ist ja subjektiv. Dem Autor geht
es in seinem Buch um solche Zufälle, die sich unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung
ereignen. Trotzdem meine Frage: Kann es solche Zufälle überhaupt geben?
Kapitel 3 – Kreativität ist Zufall im Gehirn (S. 61-96)
Nach einem kurzen autobiographischen Exkurs, der das Gelesene
auflockert, gewährt der Autor einen Einblick in die Dispersionsforschung. Er
berichtet von den Erfolgen und Vorteilen angewandter Forschung. An einem
Beispiel eigener Grundlagenforschung verdeutlicht er, dass er sich auch schon
zu diesem Zeitpunkt der anerkannten wissenschaftlichen Meinung widersetzt habe
und dennoch erfolgreich gewesen sei. Der Autor beschreibt, wie es ihm gelungen
ist, erstmals leitfähige Polymere zu dispergieren und präsentiert eigene
Forschungsergebnisse. Als Laie konnte ich hier viele Passagen nicht
nachvollziehen.
Am Ende gelangt Weßling zu der Schlussfolgerung, dass in
Nicht-Gleichgewichtssystemen andere Arten von Gesetzmäßigkeit herrschten als in
Gleichgewichtssystem. Ein wichtiges Kennzeichen von Nicht-Gleichgewichtssystemen
sei das Vorhandensein hochkomplexer Strukturen. Im Anschluss führt der Autor auf
nachvollziehbare Weise viele Beispiele für Nicht-Gleichgewichtssysteme an, z.B.
Mayonnaise oder Eiscreme.
Bei seinen Ausführungen zur Kreativität ist gut und wichtig, dass der
Autor auch betont, dass die Generierung von Ideen und das Phänomen von
Geistesblitzen ein vorbereitetes Gehirn benötigen (vgl. S. 32, Fußnote 32 sowie
die Bezugnahme auf Penrose). Doch was bedeutet das konkret? In meinen Augen
sind es wohl vor allem die Einflüsse von außen, die hiermit gemeint sind. So
handelt es sich bei unserem Gehirn nicht um ein in sich geschlossenes System.
Wir setzen uns mit der Umwelt auseinander, führen Gespräche, lesen
Publikationen, erhalten Rückmeldungen von Mitmenschen. All das befördert die
Generierung von Idee.
Kapitel 4 – „Gleichgewicht ist gut, Nicht-Gleichgewicht ist schlecht –
stimmt das?“ (S. 97-118)
Nachdem es im dritten Kapitel vor allem um die mühsame
Grundlagenforschung des Autors ging, widmet sich Weßling nun stärker den beiden
Begriffen „Gleichgewicht“ und „Nicht-Gleichgewicht“. In diesem Zusammenhang
werden auch die Begrifflichkeiten „Fließgleichgewicht“ und „Entropie“
besprochen. Und was mir gut gefallen hat: Die „Entropie“, ein Terminus, auf den
man ja auch in der Kosmologie häufig stößt, wird sehr anschaulich erläutert.
Insbesondere die Erklärung am Beispiel des Wirtschaftssystems finde ich
gelungen. Auch die Darlegung zur Schneeflockengestaltung fand ich spannend.
Schneeflocken seien Ergebnisse von Selbstorganisation von komplexen Strukturen
in Nicht-Gleichgewichtssystemen. Sehr einleuchtend! Auch anhand der
Funktionsweise eines Geysirs wird ein Nicht-Gleichgewichtssystem verständlich
und nachvollziehbar erläutert. Weßling führt viele interessante Beispiele an,
um sein Anliegen zu vermitteln. Das ist gut!
Abschließend wird konstatiert, dass Nicht-Gleichgewichtssysteme
essentiell und lebensnotwendig seien. Ihre Existenz sei nötig.
Kapitel 5 – „Fast an der Wissenschaft verzweifelt“ (S. 119-146)
Der Autor beklagt den Umstand, dass die Nicht-Gleichgewichtssysteme in
der Forschung immer noch ein Schattendasein führten, obwohl unsere Welt im
Wesentlichen aus Nicht-Gleichgewichtssystemen bestehe. Und auch an den
Universitäten fände die Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik zu wenig Beachtung,
so der Autor. Weßling erläutert das Prinzip der „Irreversibilität“ von solchen
Systemen im Rahmen dieses Kapitels dann sehr klar und verständlich.
Gleichzeitig macht er durch viele Beispiele aus der eigenen Erfahrung sehr
deutlich, dass innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft reflexhafte
Abwehrmechanismen zu beobachten seien, wenn es um neue wissenschaftliche
Entdeckungen gehe, gerade etablierte Wissenschaftler würden hier keine Ausnahme
darstellen. Entdecker neuen Wissens würden eher bekämpft als gefördert. Weßling
stellt sogar die provokative These auf, dass innerhalb einer
Wissenschaftsdisziplin neue Erkenntnisse einfach ignoriert würden und man diese
nicht einmal offen und fair diskutieren würde. Sehr interessant fand ich in
diesem Zusammenhang seine kritische Würdigung des Begriffs „Paradigma“.
Forschungsparadigmen, so der Autor, würden häufig wie ein Dogma wirken.
Stellenweise finde ich die persönlichen Ansichten des Autors sehr
interessant und aufschlussreich. Er berichtet sehr offen und ehrlich von Verletzungen
und Misserfolgen, die er selbst im Rahmen seiner Grundlagenforschung und
Berufstätigkeit erlitten habe. Auch seine Selbstzweifel finden Erwähnung.
Natürlich kann ich als Leser von außen seine Einschätzungen nicht beurteilen,
aber ich kann mich gut in seine Situation hineinfühlen. Und seine Einschätzung
zu dogmatischen Forschungsparadigmen teile ich.
Des Weiteren hat die Lektüre des Texts bei mir auch dazu geführt, dass
ich eigene Überlegungen zum Thema „Sprache“ angestellt habe. So habe ich mir z.B.
die Frage gestellt, ob auch Sprachsysteme ein Nicht-Gleichgewichtssystem
darstellen. Allerdings kann ich den Begriff der Entropie nicht damit in
Zusammenhang bringen. Ich werde weiter darüber nachdenken. Auch könnte man sich
fragen, ob und inwieweit es sich bei sprachlichen Fehlern um Zufallsprodukte
handelt.
Kapitel 6 – „Die Geburt des Zufalls in komplexen Systemen“ (S.
147-190)
Das sechste Kapitel unterscheidet sich in meinen Augen von den anderen
Kapiteln. Es ist deutlich anspruchsvoller verfasst. Der Autor erweitert sein
Begriffsspektrum um folgende Begrifflichkeiten: „Nicht-Linearität“ sowie
„Emergenz“ und „Reduktionismus bzw. Holismus“. Auch das Ereignis von
Symmetriebrüchen wird erläutert. Insgesamt fand ich dieses Kapitel bei der
Lektüre sehr sperrig, der verständliche und anschauliche Charakter ging mir zu
sehr verloren. Es wirkte zu „expertenhaft“. Es wird mir zu viel Vorwissen
vorausgesetzt und mir ist nicht klar, wohin die Argumentation des Autors führt.
Mir fiel es schwer den Gedankengängen des Autors zu folgen. Resümierende
Passagen in Form eines Zwischenfazits wären hilfreich gewesen. Auch hätte
Weßling für mich noch deutlicher machen müssen, was das Ziel seiner
Ausführungen ist. Mir war nicht klar, wie die verschiedenen Zufälle, denen sich
der Autor widmet, nun genau zusammenhängen. Was ist das verbindende Element? Am
interessantesten fand ich solche Stellen, an denen ein inhaltlicher
Brückenschlag zur Kosmologie stattfand.
Kapitel 7 – „Was fließt da, wenn die Zeit fließt, und wohin fließt
sie?“
Hier geht es um das Problem der Zeit. Der Autor stellt eine Art kurzen
geschichtlichen Abriss über die Forschung zum Thema der Zeit dar. In diesem
Zusammenhang fand ich insbesondere wieder die kosmologischen Arbeiten
interessant, die Weßling erwähnt. Allerdings macht der Autor auch sehr
deutlich, dass er sich mit vielen Hypothesen der theoretischen Physiker nicht
anfreunden kann. V.a. die Annahme eines Multiversums sieht er skeptisch.
Auch dieses Kapitel konnte mich nicht so recht überzeugen, es ist
nicht so verständlich wie die ersten fünf Kapitel geraten. Was ich mich bei der
Lektüre gefragt habe: Mit welchem Ziel stellt der Autor seine Überlegungen zum
Wesen der Zeit an? Wozu benötigt er dieses Phänomen? Was ist der Vorteil seiner
eigenen Betrachtungsweise?
Am interessantesten fand ich die Passage, wo der Autor den Leser mit
Fragen zum Wesen der Zeit konfrontiert und ihn damit zum Nachdenken anregt:
Existiert Zeit nur in der Gegenwart? Wie lange dauert die Gegenwart? Das sind
schöne Denkanstöße. Und es ist auch einmal spannend, eine andere
Herangehensweise an das Thema kennenzulernen, nämlich die eines
Nicht-Gleichgewichtssystem-Thermodynamikers. Sonst sind es ja eher die
theoretischen Physiker, die sich mit der Frage nach dem Wesen der Zeit
beschäftigen. Trotzdem stellt sich mir die Frage: Welche Vorteile bringt eine
solche Herangehensweise? Was bringt es uns, wenn wir uns den Themen „Zufall“
und „Zeit“ mit den Augen eines Thermodynamikers annähern?
Kapitel 8 – „Unsere Wahrnehmung der Zeit“
Im letzten Kapitel geht der Autor noch einmal darauf ein, dass der
Zufall und die Zeit die Entropie in Nichtgleichgewichts-Systemen als
Gemeinsamkeit hätten. Die Betrachtung des Konzepts der Zeit wird erweitert um
den psychologischen Aspekt der Zeitwahrnehmung und um chronobiologische
Betrachtungen. Er erläutert, dass noch unzureichend erforscht ist, wo und wie
genau der Ablauf der Zeit wahrgenommen und in Empfindung umgewandelt wird. Es
herrsche die einheitliche Vorstellung, dass es körperliche Prozesse seien, die
im Gehirn die Wahrnehmung der Zeit veranlassten. Auch widmet sich Weßling einem
Phänomen, das wohl jeder kennt: die sogenannt „Verdünnung der Zeit“. Damit ist
gemeint, dass im Alter die Zeit scheinbar schneller vorbeigeht. Aus seiner
eigenen Erfahrung heraus berichtet der Autor, dass er die Zeit immer dann umso
intensiver wahrnehme, je mehr er in seinem Leben erlebe und bekannte Routinen
verlasse.
Fazit:
Der Autor legt hier ein Sachbuch vor, in dem er sich den großen
menschlichen Fragen widmet. Er argumentiert aus der Sicht eines
Thermodynamikers und stützt sich dabei auf die Theorie von Ilya Prigogine, der 1977 den Nobelpreis für seine Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik erhielt.
Weßling liefert viele Denkanstöße. Der Schreibstil ist lebendig, zugewandt und
weitestgehend anschaulich und verständlich. Dennoch ist Mitdenken bei der
Lektüre gefragt und Wissen zum Fachgebiet der Chemie ist sicherlich
verständnisförderlich. Mich persönlich hat die Lektüre bereichert, ich konnte
einiges neu dazulernen. Für mich hätte der Autor nur noch etwas stärker
herausstellen können, welche Vorteile seine Betrachtungsweise der
Beschaffenheit der Welt hat. Nicht immer war mir der inhaltliche Zusammenhang
zwischen den einzelnen Kapiteln deutlich genug ausformuliert. Das Ziel der
gedanklichen Reise war mir nicht immer klar. Ich vergebe 4 Sterne.
1 Kommentar:
Vielen Dank für diese ausführliche und sehr sorgfältige Rezension. Mir ist klar, daß nicht alles, was ich in meinem Buch schreibe, überall auf Zustimmung stößt, das habe ich sowohl im Vorwort wie in den Schlußbemerkungen ausgedrückt. Ich freue mich erst einmal über Ihre Sorgfalt bei dieser Rezension und darüber, daß Sie das Buch als lesenswert, weitgehend gut verständlich (das war, auch für Nicht-Naturwissenschaftler wie Sie, mein Anliegen!) empfinden und daß es Sie bereichert hat, daß Sie dazugelernt haben.
Zu 2 Punkten möchte ich gern kommentieren:
a) zu Kapitel 2; Sie schreiben:
> "Doch ist es nicht unterschiedlich, ob das, was der eine als Zufall wahrnimmt, von einem anderen Menschen auch als Zufall wahrgenommen wird?"
Natürlich ist das so, und genau deshalb habe ich sehr viel Wert auf solche Zufälle gelegt, die unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung sind (Mutationen, Asteroiden-Einschläge, die Bildung des Mondes, Blitzeinschlag). Ich diskutiere ausführlich die These von Florian Aigner "Ohne Zufall gäbe es uns nicht, und ohne uns gäbe es keinen Zufall" (S. 43). Natürlich gibt es Zufälle, die dem einen so als Zufall erscheinen, der andere sieht das ganz anders, hat es vorhergesehen, es war gar nicht zufällig, sondern zwangsläufig (wenn er das tatsächlich VORHER gesagt hat und nicht hinterher! auch das habe ich diskutiert, mit Kahneman's Zitat).
- aber für mein Buch und meine Betrachtung entscheidend sind die Zufälle, die ganz unabhängig von uns und unserer Wahrnehmung stattfinden, von denen wir zumeist erst später erfahren.
b) zu Kapitel 7, Sie schreiben:
> "Warum geht es plötzlich um das Thema „Zeit“? Und was hat „Zeit“ mit dem Thema „Zufall“ zu tun?"
Das haben sie dann vielleicht aus Kapitel 6 (das Ihnen schwerer gefallen ist) nicht so recht mitbekommen: Letztlich verknüpfe ich die Ursachen für die Entstehung vom Komplexität mit denen für den Zufall (im Nicht-Gleichgewicht: Entropie wird exportiert, nimmt also ab, und praktisch alle Prozesse in solchen Systemen benehmen sich "nicht-linear", d.h. es gibt "An / Aus"-Vorgänge, oder bei stetigem Anstieg eines Parameters ändert plötzlich bei einem kritischen Wert ein anderer Parameter nicht mehr linear weiter, z.B. der Dichteknick im eigentlich linearen anstieg der Dichte, Grafiken S. 79 und 80, genau dort, wo auch die Leitfähigkeit plötzlich um Zehnerpotenzen ansteigt. Oder: es entsteht hier ein Ast oder nicht. Wenn nun solche nicht-linearen Vorgänge zusammentreffen, gibt es ein zufälliges Ereignis).
- Beide (Komplexität und Zufall) verbindet, daß sie in solchen systemen und nur in solchen Systemen stattfinden, in denen starker Entropiefluß vorliegt.
- Nun die Klammer zur "Zeit": nach meiner Hypothese entsteht die Zeit durch den Fluß der Entropie.
Sie schreiben weiter:
> "Welche Vorteile bringt eine solche Herangehensweise? Was bringt es uns, wenn wir uns den Themen „Zufall“ und „Zeit“ mit den Augen eines Thermodynamikers annähern?"
Es ergibt ein vollständigeres Weltbild. Wir können die Welt besser verstehen, nämlich daß
- 1. all die Komplexität im Universum, in der Struktur und im Verhalten der Lebewesen, des Klimas, des Wetters und auch der Gesellschaft auf die Tatsache "Nicht-Gleichgewicht" und "Entropie-Export" zurückzuführen ist, und daß
- 2. das sogar mit dem Phänomen der Zeit verknüpft ist.
- Für diejenigen, die die Welt besser verstehen wollen, kann klar werden, daß wir nicht die Quantentheorie benötigen, um den Zufall zu verstehen, und daß die Zeit keine Illusion ist, sondern ein sehr wohl existierendes, emergentes Phänomen, das man naturwissenschaftllich untersuchen kann. Ich habe in Kapitel 7 Vorschläge dazu gemacht, wie meine Hypothese bestätigt oder widerlegt werden könnte.
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