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Dienstag, 22. November 2022

Weßling, Bernhard - Was für ein Zufall! Über Unvorhersehbarkeit, Komplexität und das Wesen der Zeit


4 von 5 Sternen


Was hält die Welt im Innersten zusammen?

In seinem sehr lesenswerten Buch „Was für ein Zufall!“ widmet sich der Autor Bernhard Weßling den großen allgemein-menschlichen Fragen von Unvorhersehbarkeit, Komplexität und dem Wesen der Zeit. Er gibt sich dabei als „Sinn-Suchender“ zu erkennen und unterbreitet auf der Grundlage eigener Erfahrungen Vorschläge, wie man die Beschaffenheit der Welt mit Hilfe der folgenden Begriffe besser beschreiben könnte: Zufall, Nicht-Gleichgewichtssystem, Entropie und Zeit. Und was ich direkt zu Beginn dieser Rezension bereits lobend herausstellen kann: Der Autor schreibt weitestgehend anschaulich und ist sehr darum bemüht, den Leser bzw. die Leserin auf seiner gedanklichen Reise „mitzunehmen“. Sein Text zeichnet sich in großen Teilen durch Verständlichkeit aus, was einerseits an den nachvollziehbaren Erklärungen liegt, andererseits an den zahlreichen Beispielen, die er anführt. Da der Autor jedoch mit vielen Internetquellen arbeitet, empfehle ich, die digitale Version des Buchs zu lesen, um den Hyperlinks folgen zu können, und sie nicht mühsam in die Adresszeile einzutippen.

 

Schon das Vorwort ist ein gelungener Einstieg ins Buch und macht Lust auf mehr, flüssig und leserlich geschrieben. Vereinfachend, aber nicht zu simplifizierend! Es wird ein eingängiger, leserfreundlicher und leserzugewandter Sprachstil verwendet. Auch die vielen direkten Leseransprachen lockern den Text gut auf und lassen ihn äußerst lebendig wirken. Ebenso sorgen die stellenweise eingestreuten chinesischen Sprichwörter dafür, dass der Fließtext nicht zu trocken wird. Und der Autor macht gut deutlich, um welche zentralen Fragen es ihm geht: Woher kommt der Zufall? Wie kommt er in unsere Welt? Warum ist er normal? Wie entsteht Komplexität? Auch der interessante Begriff des „Nicht-Gleichgewichtssystems“ wird von ihm eingeführt. Das führt zu den nächsten zentralen Fragen: Warum befinden sich kompliziert strukturierte Systeme nicht im Gleichgewicht? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Zufall und „Nicht-Gleichgewicht“? Und was ist das Wesen der Zeit? Der Autor gibt in diesem Zusammenhang auch unumwunden zu, dass er sich an vielen Stellen nicht an der klassischen Lehrmeinung orientiert, sondern eigene Wege beschreitet, um die genannten Fragen zu beantworten. Deshalb möchte ich zu Beginn meiner Rezension auch direkt festhalten: Ich kann als Nicht-Chemiker und Laie nicht alle Inhalte auf Plausibilität hin überprüfen. Fachliche Inhalte kann ich aufgrund fehlender Expertise nicht einschätzen, die vielen Thesen kann ich nicht alle auf Stichhaltigkeit hin prüfen. Ich kann mich nur meines eigenen Verstandes bedienen und im Wesentlichen solche „Stolperstellen“ benennen, die mir unklar oder nicht nachvollziehbar in Erinnerung geblieben sind.

 

Kapitel 1 – Der Zufall nimmt seinen Lauf (S. 1-14)

Ungewöhnlich für ein Sachbuch ist der recht autobiographisch geprägte Einstieg in die einzelnen Kapitel. Man lernt viel Privates über den Autor kennen. Vorteil dieser Herangehensweise: Der Autor ist für mich als Leser kein anonymer Fremder, über den ich nichts weiß, sondern ich kann eine persönliche Beziehung zu ihm herstellen. Ein ungewöhnlicher Stil, der die Leser aber in meinen Augen auch anspricht. Ich konnte mich jedenfalls darauf einlassen, wusste aber nach der Lektüre des ersten Kapitels noch nicht so recht, auf welche gedankliche Reise Weßling mich mitnehmen wird. Am interessantesten für mich war der Exkurs zum Internet und zu seiner Erfindung, den der Autor hier auf Basis seines persönlichen Erfahrungsschatzes skizziert.

 

Kapitel 2 – Der Zufall ist überall (S. 15-60)

Hier geht es nun vor allem um Zufälle. Der Autor nimmt eine inhaltliche Systematisierung vor und spielt an Beispielen durch, was für verschiedene Arten von Zufällen es gibt. Die zugrundeliegende Botschaft des Kapitels ist recht klar: Überall ist unser Leben von zufälligen Ereignissen geprägt. Für mich wurde das zweite Kapitel vor allem dann spannend, als der Autor sich der wissenschaftlichen Erforschung des Phänomens „Zufall“ widmet (S. 29 ff.). Es wird deutlich, dass es Weßling vor allem um sogenannte „essenzielle Zufälle“ geht (vgl. S. 33 ff.), also um solche Zufälle, die unvorhergesehen passieren. Sie seien dadurch charakterisiert, dass zwei oder mehr Kausalketten, die voneinander unabhängig sind, zusammentreffen. Mehr als eine Ursache läge ihnen zugrunde. Was dem Autor dabei gut gelingt, ist es, den essenziellen Zufall mit vielen konkreten Beispielen nachvollziehbar zu veranschaulichen.

Weßling ist es wichtig zu betonen, dass Zufall nicht bedeute, „dass das entsprechende Ereignis keine Ursache hat“ (S. 39). So werde es von Anhängern anderer Fachrichtungen aber häufig verstanden, so der Autor. Jedes Ereignis habe eine Ursache, meist mehrere, und bei essenziellen Zufällen hätten die zu den Ursachenden führenden Ereignisketten ursprünglich nichts miteinander zu tun, so Weßling. An vielen Stellen widerspricht Weßling der gängigen Lehrmeinung, was für mich insofern in Ordnung ist, als er die Leser auf diese Weise stärker dazu veranlasst, sich mit der Herangehensweise des Autors intensiv auseinanderzusetzen. Er fordert die Leser sozusagen zum Mitdenken förmlich heraus. Das ist gelungen. Aber man muss sich auf so etwas einlassen wollen.

Letztlich kann ich die gesamte, spannende und zum Nachdenken anregende Diskussion zum Zufall hier nicht im Detail wiedergeben, das würde den Rahmen dieser Rezension sprengen. Ich möchte aber schon deutlich machen, dass ich nicht allen Aussagen des Autors zustimmen kann. Häufig ist er mir auch zu kategorisch in seinen Schlussfolgerungen.

Für mich persönlich ist der Zufall eine „Wahrnehmungskategorie“, d.h. abhängig von der eigenen Wahrnehmung. Erst meine eigene Bewertung und der Umstand, dass ich ein Ereignis mit Bedeutung auflade, macht es zu einem Zufall. Das, was ich selbst als Zufall erkenne oder nicht, hängt also von mir selbst ab, es ist subjektiv. Sonst müssten ja mehrere Menschen gleichzeitig denselben Zufall identisch wahrnehmen. Doch ist es nicht unterschiedlich, ob das, was der eine als Zufall wahrnimmt, von einem anderen Menschen auch als Zufall wahrgenommen wird? Ist der Zufall nicht eine „Wirklichkeitskonstruktionsleistung“ des Gehirns?  Das gebe ich hier zu bedenken. Kurzum: Ich finde das anthropische Prinzip, das der Autor ablehnt (vgl. S. 43-44), selbst am schlüssigsten. Und die Frage danach, warum es Zufälle gibt, lässt sich in meinen Augen also gar nicht beantworten. Erst der Mensch selbst verleiht dem Zufall mit seiner Wahrnehmung Bedeutung. Und auch die Einschätzung der Häufigkeit von Zufällen ist ja subjektiv. Dem Autor geht es in seinem Buch um solche Zufälle, die sich unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung ereignen. Trotzdem meine Frage: Kann es solche Zufälle überhaupt geben?

 

Kapitel 3 – Kreativität ist Zufall im Gehirn (S. 61-96)

Nach einem kurzen autobiographischen Exkurs, der das Gelesene auflockert, gewährt der Autor einen Einblick in die Dispersionsforschung. Er berichtet von den Erfolgen und Vorteilen angewandter Forschung. An einem Beispiel eigener Grundlagenforschung verdeutlicht er, dass er sich auch schon zu diesem Zeitpunkt der anerkannten wissenschaftlichen Meinung widersetzt habe und dennoch erfolgreich gewesen sei. Der Autor beschreibt, wie es ihm gelungen ist, erstmals leitfähige Polymere zu dispergieren und präsentiert eigene Forschungsergebnisse. Als Laie konnte ich hier viele Passagen nicht nachvollziehen.

Am Ende gelangt Weßling zu der Schlussfolgerung, dass in Nicht-Gleichgewichtssystemen andere Arten von Gesetzmäßigkeit herrschten als in Gleichgewichtssystem. Ein wichtiges Kennzeichen von Nicht-Gleichgewichtssystemen sei das Vorhandensein hochkomplexer Strukturen.  Im Anschluss führt der Autor auf nachvollziehbare Weise viele Beispiele für Nicht-Gleichgewichtssysteme an, z.B. Mayonnaise oder Eiscreme.

Bei seinen Ausführungen zur Kreativität ist gut und wichtig, dass der Autor auch betont, dass die Generierung von Ideen und das Phänomen von Geistesblitzen ein vorbereitetes Gehirn benötigen (vgl. S. 32, Fußnote 32 sowie die Bezugnahme auf Penrose). Doch was bedeutet das konkret? In meinen Augen sind es wohl vor allem die Einflüsse von außen, die hiermit gemeint sind. So handelt es sich bei unserem Gehirn nicht um ein in sich geschlossenes System. Wir setzen uns mit der Umwelt auseinander, führen Gespräche, lesen Publikationen, erhalten Rückmeldungen von Mitmenschen. All das befördert die Generierung von Idee. 

 

Kapitel 4 – „Gleichgewicht ist gut, Nicht-Gleichgewicht ist schlecht – stimmt das?“ (S. 97-118)

Nachdem es im dritten Kapitel vor allem um die mühsame Grundlagenforschung des Autors ging, widmet sich Weßling nun stärker den beiden Begriffen „Gleichgewicht“ und „Nicht-Gleichgewicht“. In diesem Zusammenhang werden auch die Begrifflichkeiten „Fließgleichgewicht“ und „Entropie“ besprochen. Und was mir gut gefallen hat: Die „Entropie“, ein Terminus, auf den man ja auch in der Kosmologie häufig stößt, wird sehr anschaulich erläutert. Insbesondere die Erklärung am Beispiel des Wirtschaftssystems finde ich gelungen. Auch die Darlegung zur Schneeflockengestaltung fand ich spannend. Schneeflocken seien Ergebnisse von Selbstorganisation von komplexen Strukturen in Nicht-Gleichgewichtssystemen. Sehr einleuchtend! Auch anhand der Funktionsweise eines Geysirs wird ein Nicht-Gleichgewichtssystem verständlich und nachvollziehbar erläutert. Weßling führt viele interessante Beispiele an, um sein Anliegen zu vermitteln. Das ist gut!

Abschließend wird konstatiert, dass Nicht-Gleichgewichtssysteme essentiell und lebensnotwendig seien. Ihre Existenz sei nötig.

 

Kapitel 5 – „Fast an der Wissenschaft verzweifelt“ (S. 119-146)

Der Autor beklagt den Umstand, dass die Nicht-Gleichgewichtssysteme in der Forschung immer noch ein Schattendasein führten, obwohl unsere Welt im Wesentlichen aus Nicht-Gleichgewichtssystemen bestehe. Und auch an den Universitäten fände die Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik zu wenig Beachtung, so der Autor. Weßling erläutert das Prinzip der „Irreversibilität“ von solchen Systemen im Rahmen dieses Kapitels dann sehr klar und verständlich. Gleichzeitig macht er durch viele Beispiele aus der eigenen Erfahrung sehr deutlich, dass innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft reflexhafte Abwehrmechanismen zu beobachten seien, wenn es um neue wissenschaftliche Entdeckungen gehe, gerade etablierte Wissenschaftler würden hier keine Ausnahme darstellen. Entdecker neuen Wissens würden eher bekämpft als gefördert. Weßling stellt sogar die provokative These auf, dass innerhalb einer Wissenschaftsdisziplin neue Erkenntnisse einfach ignoriert würden und man diese nicht einmal offen und fair diskutieren würde. Sehr interessant fand ich in diesem Zusammenhang seine kritische Würdigung des Begriffs „Paradigma“. Forschungsparadigmen, so der Autor, würden häufig wie ein Dogma wirken.

Stellenweise finde ich die persönlichen Ansichten des Autors sehr interessant und aufschlussreich. Er berichtet sehr offen und ehrlich von Verletzungen und Misserfolgen, die er selbst im Rahmen seiner Grundlagenforschung und Berufstätigkeit erlitten habe. Auch seine Selbstzweifel finden Erwähnung. Natürlich kann ich als Leser von außen seine Einschätzungen nicht beurteilen, aber ich kann mich gut in seine Situation hineinfühlen. Und seine Einschätzung zu dogmatischen Forschungsparadigmen teile ich.

Des Weiteren hat die Lektüre des Texts bei mir auch dazu geführt, dass ich eigene Überlegungen zum Thema „Sprache“ angestellt habe. So habe ich mir z.B. die Frage gestellt, ob auch Sprachsysteme ein Nicht-Gleichgewichtssystem darstellen. Allerdings kann ich den Begriff der Entropie nicht damit in Zusammenhang bringen. Ich werde weiter darüber nachdenken. Auch könnte man sich fragen, ob und inwieweit es sich bei sprachlichen Fehlern um Zufallsprodukte handelt.

 

Kapitel 6 – „Die Geburt des Zufalls in komplexen Systemen“ (S. 147-190)

Das sechste Kapitel unterscheidet sich in meinen Augen von den anderen Kapiteln. Es ist deutlich anspruchsvoller verfasst. Der Autor erweitert sein Begriffsspektrum um folgende Begrifflichkeiten: „Nicht-Linearität“ sowie „Emergenz“ und „Reduktionismus bzw. Holismus“. Auch das Ereignis von Symmetriebrüchen wird erläutert. Insgesamt fand ich dieses Kapitel bei der Lektüre sehr sperrig, der verständliche und anschauliche Charakter ging mir zu sehr verloren. Es wirkte zu „expertenhaft“. Es wird mir zu viel Vorwissen vorausgesetzt und mir ist nicht klar, wohin die Argumentation des Autors führt. Mir fiel es schwer den Gedankengängen des Autors zu folgen. Resümierende Passagen in Form eines Zwischenfazits wären hilfreich gewesen. Auch hätte Weßling für mich noch deutlicher machen müssen, was das Ziel seiner Ausführungen ist. Mir war nicht klar, wie die verschiedenen Zufälle, denen sich der Autor widmet, nun genau zusammenhängen. Was ist das verbindende Element? Am interessantesten fand ich solche Stellen, an denen ein inhaltlicher Brückenschlag zur Kosmologie stattfand.

 

Kapitel 7 – „Was fließt da, wenn die Zeit fließt, und wohin fließt sie?“

Hier geht es um das Problem der Zeit. Der Autor stellt eine Art kurzen geschichtlichen Abriss über die Forschung zum Thema der Zeit dar. In diesem Zusammenhang fand ich insbesondere wieder die kosmologischen Arbeiten interessant, die Weßling erwähnt. Allerdings macht der Autor auch sehr deutlich, dass er sich mit vielen Hypothesen der theoretischen Physiker nicht anfreunden kann. V.a. die Annahme eines Multiversums sieht er skeptisch.

Auch dieses Kapitel konnte mich nicht so recht überzeugen, es ist nicht so verständlich wie die ersten fünf Kapitel geraten. Was ich mich bei der Lektüre gefragt habe: Mit welchem Ziel stellt der Autor seine Überlegungen zum Wesen der Zeit an? Wozu benötigt er dieses Phänomen? Was ist der Vorteil seiner eigenen Betrachtungsweise?

Am interessantesten fand ich die Passage, wo der Autor den Leser mit Fragen zum Wesen der Zeit konfrontiert und ihn damit zum Nachdenken anregt: Existiert Zeit nur in der Gegenwart? Wie lange dauert die Gegenwart? Das sind schöne Denkanstöße. Und es ist auch einmal spannend, eine andere Herangehensweise an das Thema kennenzulernen, nämlich die eines Nicht-Gleichgewichtssystem-Thermodynamikers. Sonst sind es ja eher die theoretischen Physiker, die sich mit der Frage nach dem Wesen der Zeit beschäftigen. Trotzdem stellt sich mir die Frage: Welche Vorteile bringt eine solche Herangehensweise? Was bringt es uns, wenn wir uns den Themen „Zufall“ und „Zeit“ mit den Augen eines Thermodynamikers annähern?

 

Kapitel 8 – „Unsere Wahrnehmung der Zeit“

Im letzten Kapitel geht der Autor noch einmal darauf ein, dass der Zufall und die Zeit die Entropie in Nichtgleichgewichts-Systemen als Gemeinsamkeit hätten. Die Betrachtung des Konzepts der Zeit wird erweitert um den psychologischen Aspekt der Zeitwahrnehmung und um chronobiologische Betrachtungen. Er erläutert, dass noch unzureichend erforscht ist, wo und wie genau der Ablauf der Zeit wahrgenommen und in Empfindung umgewandelt wird. Es herrsche die einheitliche Vorstellung, dass es körperliche Prozesse seien, die im Gehirn die Wahrnehmung der Zeit veranlassten. Auch widmet sich Weßling einem Phänomen, das wohl jeder kennt: die sogenannt „Verdünnung der Zeit“. Damit ist gemeint, dass im Alter die Zeit scheinbar schneller vorbeigeht. Aus seiner eigenen Erfahrung heraus berichtet der Autor, dass er die Zeit immer dann umso intensiver wahrnehme, je mehr er in seinem Leben erlebe und bekannte Routinen verlasse.

 

Fazit

Der Autor legt hier ein Sachbuch vor, in dem er sich den großen menschlichen Fragen widmet. Er argumentiert aus der Sicht eines Thermodynamikers und stützt sich dabei auf die Theorie von Ilya Prigogine, der 1977 den Nobelpreis für seine Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik erhielt. Weßling liefert viele Denkanstöße. Der Schreibstil ist lebendig, zugewandt und weitestgehend anschaulich und verständlich. Dennoch ist Mitdenken bei der Lektüre gefragt und Wissen zum Fachgebiet der Chemie ist sicherlich verständnisförderlich. Mich persönlich hat die Lektüre bereichert, ich konnte einiges neu dazulernen. Für mich hätte der Autor nur noch etwas stärker herausstellen können, welche Vorteile seine Betrachtungsweise der Beschaffenheit der Welt hat. Nicht immer war mir der inhaltliche Zusammenhang zwischen den einzelnen Kapiteln deutlich genug ausformuliert. Das Ziel der gedanklichen Reise war mir nicht immer klar. Ich vergebe 4 Sterne.

1 Kommentar:

Dr. Bernhard Weßling hat gesagt…

Vielen Dank für diese ausführliche und sehr sorgfältige Rezension. Mir ist klar, daß nicht alles, was ich in meinem Buch schreibe, überall auf Zustimmung stößt, das habe ich sowohl im Vorwort wie in den Schlußbemerkungen ausgedrückt. Ich freue mich erst einmal über Ihre Sorgfalt bei dieser Rezension und darüber, daß Sie das Buch als lesenswert, weitgehend gut verständlich (das war, auch für Nicht-Naturwissenschaftler wie Sie, mein Anliegen!) empfinden und daß es Sie bereichert hat, daß Sie dazugelernt haben.


Zu 2 Punkten möchte ich gern kommentieren:

a) zu Kapitel 2; Sie schreiben:

> "Doch ist es nicht unterschiedlich, ob das, was der eine als Zufall wahrnimmt, von einem anderen Menschen auch als Zufall wahrgenommen wird?"

Natürlich ist das so, und genau deshalb habe ich sehr viel Wert auf solche Zufälle gelegt, die unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung sind (Mutationen, Asteroiden-Einschläge, die Bildung des Mondes, Blitzeinschlag). Ich diskutiere ausführlich die These von Florian Aigner "Ohne Zufall gäbe es uns nicht, und ohne uns gäbe es keinen Zufall" (S. 43). Natürlich gibt es Zufälle, die dem einen so als Zufall erscheinen, der andere sieht das ganz anders, hat es vorhergesehen, es war gar nicht zufällig, sondern zwangsläufig (wenn er das tatsächlich VORHER gesagt hat und nicht hinterher! auch das habe ich diskutiert, mit Kahneman's Zitat).

- aber für mein Buch und meine Betrachtung entscheidend sind die Zufälle, die ganz unabhängig von uns und unserer Wahrnehmung stattfinden, von denen wir zumeist erst später erfahren.

b) zu Kapitel 7, Sie schreiben:

> "Warum geht es plötzlich um das Thema „Zeit“? Und was hat „Zeit“ mit dem Thema „Zufall“ zu tun?"

Das haben sie dann vielleicht aus Kapitel 6 (das Ihnen schwerer gefallen ist) nicht so recht mitbekommen: Letztlich verknüpfe ich die Ursachen für die Entstehung vom Komplexität mit denen für den Zufall (im Nicht-Gleichgewicht: Entropie wird exportiert, nimmt also ab, und praktisch alle Prozesse in solchen Systemen benehmen sich "nicht-linear", d.h. es gibt "An / Aus"-Vorgänge, oder bei stetigem Anstieg eines Parameters ändert plötzlich bei einem kritischen Wert ein anderer Parameter nicht mehr linear weiter, z.B. der Dichteknick im eigentlich linearen anstieg der Dichte, Grafiken S. 79 und 80, genau dort, wo auch die Leitfähigkeit plötzlich um Zehnerpotenzen ansteigt. Oder: es entsteht hier ein Ast oder nicht. Wenn nun solche nicht-linearen Vorgänge zusammentreffen, gibt es ein zufälliges Ereignis).

- Beide (Komplexität und Zufall) verbindet, daß sie in solchen systemen und nur in solchen Systemen stattfinden, in denen starker Entropiefluß vorliegt.

- Nun die Klammer zur "Zeit": nach meiner Hypothese entsteht die Zeit durch den Fluß der Entropie.

Sie schreiben weiter:

> "Welche Vorteile bringt eine solche Herangehensweise? Was bringt es uns, wenn wir uns den Themen „Zufall“ und „Zeit“ mit den Augen eines Thermodynamikers annähern?"

Es ergibt ein vollständigeres Weltbild. Wir können die Welt besser verstehen, nämlich daß

- 1. all die Komplexität im Universum, in der Struktur und im Verhalten der Lebewesen, des Klimas, des Wetters und auch der Gesellschaft auf die Tatsache "Nicht-Gleichgewicht" und "Entropie-Export" zurückzuführen ist, und daß

- 2. das sogar mit dem Phänomen der Zeit verknüpft ist.

- Für diejenigen, die die Welt besser verstehen wollen, kann klar werden, daß wir nicht die Quantentheorie benötigen, um den Zufall zu verstehen, und daß die Zeit keine Illusion ist, sondern ein sehr wohl existierendes, emergentes Phänomen, das man naturwissenschaftllich untersuchen kann. Ich habe in Kapitel 7 Vorschläge dazu gemacht, wie meine Hypothese bestätigt oder widerlegt werden könnte.

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