Entropie und Nachhaltigkeit
2022 lernte ich den Unternehmer,
Kranichforscher und promovierten Chemiker Bernhard Weßling im Rahmen eines
freundlichen E-Mail-Kontakts kennen und habe bald darauf sein lesenswertes Buch
„Was für ein Zufall!“ gelesen und rezensiert. Die Rezension zur 1. Auflage gibt es hier (später folgten auch noch
Rezensionen zu seinen Büchern „Der Ruf der Kraniche“ und „Mein Sprung ins kalte Wasser“, vgl. dazu die Links).
Als Fazit hielt ich damals auch
Kritisches fest: Der Autor legt hier ein Sachbuch vor, in dem er sich den
großen menschlichen Fragen widmet. Er argumentiert aus der Sicht eines
Thermodynamikers und stützt sich dabei auf die Theorie von Ilya Prigogine, der
1977 den Nobelpreis für seine Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik erhielt.
Weßling liefert viele Denkanstöße. Der Schreibstil ist lebendig, zugewandt und
weitestgehend anschaulich und verständlich. Dennoch ist Mitdenken bei der
Lektüre gefragt und Wissen zum Fachgebiet der Chemie ist sicherlich
verständnisförderlich. Mich persönlich hat die Lektüre bereichert, ich konnte
einiges neu dazulernen. Für mich hätte der Autor nur noch etwas stärker
herausstellen können, welche Vorteile seine Betrachtungsweise der
Beschaffenheit der Welt hat. Nicht immer war mir der inhaltliche Zusammenhang
zwischen den einzelnen Kapiteln deutlich genug ausformuliert. Das Ziel der
gedanklichen Reise war mir nicht immer klar.
Nun hat Weßling das Buch
aktualisiert, mit zwei neuen Kapiteln versehen und nochmals neu aufgelegt. Für
mich stellt sich in diesem Zusammenhang natürlich die Frage, ob meine
Kritikpunkte von 2022 nun Berücksichtigung finden. Und ich kann sagen, dass der
Autor dieses Mal sehr nachvollziehbar verdeutlicht, worum es ihm geht. Das geht
schon aus seinem Vorwort zur 2. Auflage hervor. Er betont noch einmal
ganz deutlich, dass der Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik mehr Beachtung
geschenkt werden sollte. Nicht nur die Quanten- und die Relativitätstheorie
sollten in den Lehrplänen von Schulen und Universitäten eine Rolle spielen. Und
die Entropie ist für Weßling die zentrale Größe, um die es geht. Sie spielt im
alltäglichen Leben ebenso eine Rolle wie in der Evolution, in der Ökologie und
in der Kosmologie. Und in den beiden neuen Kapiteln (Kapitel 7 und 8) möchte er
v.a. den Begriff der Nachhaltigkeit mit der Entropie in Zusammenhang bringen.
Dafür möchte er vor allem die technologischen Verfahren zur Entfernung von CO2
aus der Atmosphäre und dessen Speicherung in tiefere Erdschichten genauer in
den Blick nehmen. Und auf diese beiden Kapitel möchte ich mich im Rahmen dieser
Rezension genauer fokussieren.
Kapitel 7
Hier betrachtet Weßling zunächst
das Phänomen von Krisen. Er widerspricht entschieden der Behauptung, dass wir
heute in einer besonders krisenanfälligen Zeit leben, wie es häufig von Medien
kolportiert wird. Die Wahrnehmung, dass man gegenwärtig in einer Art Zeitalter
der Polykrise lebt, sei nicht zutreffend, so der Autor. So bestehe das
menschliche Leben insgesamt aus einer großen Anzahl von Unwägbarkeiten und
befinde sich ständig im Nicht-Gleichgewicht. Die Menschheitsgeschichte sei
fortwährend von krisenhaften Zuständen geprägt und oft erst der Auslöser für
bestimmte menschliche Entwicklungen gewesen. Mit vielen treffenden Beispielen
widerlegt er die von der heutigen Medienwelt gezeichnete Zustandsbeschreibung
der Polykrise, leitet danach zu einer Klärung des Begriffs „Krise“ über und
zeigt schließlich auf, warum Ilya Prigogines Ansatz der
Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik dabei hilft, unsere Welt besser zu
verstehen. In diesem Zusammenhang erläutert er auch, was die Entropie dabei für
eine Rolle spielt und möchte diese Größe als Kriterium für die Berechnung von
Nachhaltigkeit etablieren.
Dafür stellt Weßling verschiedene
Verfahren vor, mit denen man CO2 aus der Atmosphäre entziehen kann. Und er
stellt kritisch fest, dass bei der Diskussion um diese Verfahren die
Thermodynamik und die Entropie keine Rolle spielen, obwohl man mit Hilfe dieser
beiden Ansätze berechnen kann, ob die Filterung von CO2 aus der Atmosphäre und
dessen Endlagerung überhaupt nachhaltig ist. Der Autor stellt dafür selbst
eigene Berechnungen an und hält abschließend kritisch fest: „Die gewaltige
Erhöhung der Entropieproduktion zeigt an, dass die Kollateralschäden von
DAC-Verfahren um ein Vielfaches größer sein werden als der erhoffte positive
Effekt für das Klima. Das gilt auch für die häufig angeführte Beschränkung
solcher Verfahren auf das Abfangen von CO2 aus industrieller Abluft (carbon
capture and storage, CCS)“, S. 232-233. Und auch die Weiterverarbeitung von aus
der Atmosphäre gewonnenem CO2 lohnt sich nach Ansicht des Autors nicht (auch
dann nicht, wenn man grünen Wasserstoff für die Herstellung anderer Chemikalien
verwendet). Kurzum: Nachhaltigkeit sieht anders aus! Weßling konstatiert:
„Weder in Bezug auf Energie noch in Bezug auf Entropie ist die Entsorgung
(Endlagerung) oder Nutzung von CO2 nachhaltig. DAC/CCS/CCU sind Verfahren, die
auf keinen Fall praktiziert werden sollten“, S. 242.
Kapitel 8
Doch was kann man stattdessen
tun? Gibt es Alternativen zu den in Kapitel 7 genannten Verfahren? Es kann ja
nicht die Lösung sein, nichts zu tun, um C02 aus der Atmosphäre herauszuziehen.
Darauf gibt der Autor in diesem zweiten neuen Kapitel nun eine Antwort. Er
schlägt eine naturnahe Lösung vor, bei der es Pflanzen, Pilzen und Mikroben mit
Hilfe von Sonnenenergie selbst überlassen wird, das CO2 wieder umzuwandeln.
Weßling schweben die Wiederherstellung und die Renaturierung von zerstörten und
beschädigten Wäldern vor. Offene Mischwälder mit Beweidung seien nötig. Allein
Bäume zu pflanzen, reiche nicht aus. V.a. die Böden müssten wieder dafür sorgen
können, dass CO2 in ihnen gespeichert wird. Der Autor zieht einige Studien
heran, die seine These stützen.
Auch ein Verzicht auf Dünger und
Pestizide sei unerlässlich, um Kollateralschäden zu vermeiden. Die
Landwirtschaft solle auf biologische Bewirtschaftung umgestellt werden (was
sich natürlich auch auf den Fleischkonsum auswirkt). Auf diese Weise werde das
CO2-Speicherpotential vergrößert und die Biodiversität wird gefördert. Die
besten CO2 Speicher sind vor allem Moore: „Die Moore unseres Planeten können
doppelt so viel CO2 speichern wie alle Wälder der Erde zusammen. Sämtliche
unterschiedlichen Feuchtgebiete (Moore, Mangroven, Kelpwälder, Salzmarschen und
Seegraswiesen) speichern 20% des gesamten globalen Kohlenstoffs, obwohl sie nur
1% der Erde umfassen“, S. 260.
Umso tragischer erscheint es,
dass diese häufig zu landwirtschaftlichen Nutzflächen umgewandelt worden sind:
„In Deutschland sind bzw. waren 4,2 % der Fläche von Mooren unterschiedlicher
Art bedeckt, wovon 95% zerstört sind (…)“, S. 261. Weßling plädiert dafür,
Feuchtgebiete wieder herzustellen und zu schützen. In diesem achten Kapitel
wird nur allzu deutlich, dass der Autor ein Mann der Praxis ist (als
Kranichforscher und Eigentümer eines biolandwirtschaftlichen Betriebs weiß er,
wovon er spricht, und geht selbst mit gutem Beispiel voran), der seine
vorgeschlagene Lösung auf „zupackende“ Art und Weise beschreibt.
Meine Meinung
Letztlich kann ich mir zu den meisten
Inhalten der dargelegten neuen Kapitel keine Meinung bilden, da ich kein
Experte auf diesem Gebiet bin. Lediglich zu der Diskussion um das Phänomen der
Polykrise habe ich häufiger darüber nachgedacht, ob nicht v.a. auch die
sozialen Medien dazu führen, dass wir Krisen heute stärker wahrnehmen. Wer ein
Smartphone besitzt, wird rund um die Uhr mit neuen Nachrichten von Krisen auf
der ganzen Welt versorgt. Doch was die Verfahren zur Filterung von C02 betrifft,
so kenne ich mich damit nicht aus. Ich kenne auch die Formeln (vgl. beispielsweise S. 230) nicht, die
Weßling zur Berechnung von Nachhaltigkeit verwendet hat. Ich kann seine
rechnerische Darlegung nicht überprüfen (zumal sie für mich als Laie nicht sehr
transparent dargelegt wird). Aus diesem Grund bin ich der Ansicht, dass sich
diese Neuauflage und die beiden neuen Kapitel v.a. an Fachleute richten,
weniger an Laien wie mich. Wenn der Autor aber Recht hat mit seinen kritischen
Einwänden, so sollten seine Kritikpunkte meiner Meinung nach bei anderen
Experten auf jeden Fall Gehör finden. Was die Lösungsvorschläge betrifft, so
sind sie nachvollziehbar. Doch sind sie auch durchführbar? Zur Umsetzung ist
jedenfalls der politische Wille nötig und ich könnte mir vorstellen, dass die
ein oder andere Maßnahme auf gesellschaftlichen Widerstand stoßen könnte.
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