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Sonntag, 17. September 2023

Weßling, Bernhard - Mein Sprung ins kalte Wasser. Mit offenen Augen und Ohren in China leben und arbeiten






Ein autobiographischer Erlebnisbericht


Ein chinafreundliches Buch? In diesen Zeiten? Ist das überhaupt möglich? Der Autor Bernhard Weßling zeigt, dass es geht. Er richtet seinen Blick auf die Menschen in China. Menschen, die er dort während seines 13-jährigen beruflichen Aufenthalts als Unternehmer persönlich kennen gelernt hat: „Auf jeden Fall also beschreiben meine Geschichten reale Facetten des chinesischen Lebens, aber nicht DAS chinesische Leben. Ich beschreibe etwas vom Leben in China, wie es tagtäglich stattfindet, vielfältig und ganz anders, als man es so liest, ganz anders, als ich es erwartete, und ich werde auch nach Abschluss dieses Buches, überall und immer wieder Beobachtungen erleben, die anders sind, als wir sie erwarten (und anders, als ich sie erwarten würde und hier beschreibe). Ich beschreibe nur, was ich in den vielen Jahren mit den vielen Chinesen, die mich umgeben haben, erlebt habe; Erlebnisse mit den Chinesen, die ich auf den Straßen kennen lernte, Chinesen, mit denen ich einen Teil meiner Freizeit verbrachte, Chinesen, mit denen ich gearbeitet bzw. Geschäfte gemacht habe.“ (Vorwort, S. 11-12).

 

Bernhard Weßling ist aufmerksamer Beobachter, zumeist neutral und unvoreingenommen, er wertet nicht vorschnell, pauschalisiert und verallgemeinert nicht zu sehr. Eine Fähigkeit, die er sicherlich auch seiner großen Leidenschaft verdankt, der Vogelkunde (vgl. Weßling: Der Ruf der Kraniche. Goldmann 2023). Dem Autor geht es nicht darum, „heiße politische Eisen“ zu thematisieren. Es geht ihm viel mehr darum, den Blick des Lesers auf China und auf die Menschen dort zu erweitern, und auf diese Weise Verständnis für Angehörige einer für uns fremden Kultur zu fördern.

 

Es gab viele Stellen, die ich mit großem Interesse gelesen habe. So fand ich z.B. die Beschreibung der ungeheuren Ausdehnung der Mega-Stadt ShenZhen aufschlussreich, auch weil der Autor die fremde Stadt mit Bezug zum ihm eigenen Bekannten schildert: „Selbst die mittelgroße Stadt ShenZhen ist ein Moloch, fast 100 km lang (von Ost nach West), an der schmalsten Stelle vielleicht 10 km Süd-Nord-Ausdehnung, an der breitesten, im Westen, über 40 km. (…) Ich stamme aus dem Ruhrgebiet, dem größten Ballungsraum Deutschlands, dem fünftgrößten Europas. Hier leben etwa fünf Millionen Menschen, verglichen mit ShenZhen also weniger als ein Viertel, auf einer Fläche, die mehr als doppelt so groß ist wie die von ShenZhen“ (S. 33).

 

Gleichzeitig ist Weßling beeindruckt vom enormen Tempo, was den technischen Fortschritt in China angeht. Das führt er z.B. zu den Themen regenerative Energie und E-Mobilität aus: „Wir sahen bei der Fahrt zu einem ehemaligen Fort eines Solaranlage neben der Straße (…) man sah nur Solarzellen, eine Reihe von Zellen neben der anderen, eine Reihe hinter der anderen bis zum Horizont, aber dahinter gab es noch mehr davon! Kein Wunder, dass China hier einen Solarpark errichten ließ, denn es gibt 3.250 Sonnenstunden im Jahr“ (S. 282). ShenZhen sei im Hinblick auf die Elektromobilität Weltspitze. Der Autor beschreibt, wie zunächst Elektro-Mopeds und Roller das Straßenbild dominiert hätten, später dann Elektrobusse und Elektrotaxis (vgl. S. 283). Und Weßling liefert nebenbei auch noch viele faszinierende Daten: „China ist weltweit größter Hersteller von Solarzellen (…) ist weltweit größter Investor in Solarfarmen. (…) Und, nur nebenbei erwähnt, China erzeugt 70 Prozent der weltweit erzeugten Solarthermie (…) Die gesamte derzeit (2022) installierte Leistung von Windenergieanlagen in Deutschland beträgt etwas mehr als 64 GW; China hat etwa 393 GW installiert.“ (S. 284).

 

Am Beispiel von Lebensgeschichten einiger Menschen, denen Weßling begegnet ist, werden Facetten des chinesischen Lebens verdeutlicht. Aus den Beschreibungen kann man Rückschlüsse auf die Lebenswirklichkeit der Menschen ziehen. Wir lernen z.B. den Handwerker Wang kennen, den Bauer Song oder Ingenieur Su. Sehr interessant! Weitere faszinierende Themen: der Besuch im Krankenhaus (ein kleiner Einblick in das chinesische Gesundheitssystem), das Aufsuchen von Ämtern, die Schilderung der Arbeitsmarkt-Situation und der Arbeitswelt in ShenZhen (dargestellt an konkreten Beispielen aus Weßlings Erfahrungsschatz).

 

Natürlich geht es in diesem Buch auch nicht nur um China. Es handelt sich um ein autobiographisches Buch, in dem der Autor viele Erinnerungen an erlebte Situationen festhält. Er tritt dabei als Person deutlich hervor, er gibt viel von sich preis. Als Leser lernt man den Autor als Menschen kennen, bildet sich ein Urteil zu ihm. Und ich muss gestehen, ich bin zutiefst beeindruckt von dem turbulenten und ereignisreichen Leben von Weßling, das er in China 13 Jahre lang führte. Der Autor ist ein gelungenes Beispiel für Integration. Er spielt regelmäßig mit befreundeten Chinesen Fußball (Sport ist für Weßling ein wichtiger Ausgleich zu seinem stressigen Berufsalltag) und erlernt auch die Sprache.

 

Vieles beschreibt der Autor mit einiger Selbstironie, was ihn sehr sympathisch macht. Gleichzeitig ist er aber auch ehrgeizig und tatkräftig. Ein Macher, der viel bewegt. Er schafft es, in einem fremden Land mit eigentümlichen Strukturen ein Chemie-Unternehmen aufzubauen und zu führen. Mit Eifer erlernt er Schritt für Schritt die Sprache in Wort und Schrift, verschafft sich auf diese Weise Respekt, Anerkennung und Sympathie in seinem Arbeitsumfeld. Er kommuniziert zunehmend souveräner und freier, wie er selbst berichtet. Der Autor ist ein neugieriger, engagierter und wissbegieriger Mensch (das wird auch in seinen anderen Büchern gut deutlich, vgl. dazu „Was für ein Zufall! Über Unvorhersehbarkeit, Komplexität und das Wesen der Zeit“. Springer 2022).

 

Wer gerne etwas über China erfahren möchte und dabei an einem differenzierten Bild interessiert ist, das an konkreten Beispielen und Erfahrungen verdeutlicht wird, der sollte dieses Buch lesen. Der Autor führt vor, wie man dem Fremden begegnen sollte: unvoreingenommen, aufgeschlossen und offen, mit Bereitschaft sich auf das Fremde einzulassen, es zu akzeptieren, nicht voreilig zu werten und mit den Menschen auf persönlicher Ebene wertschätzend umzugehen. Darüber hinaus sollte man für die Lektüre dieses Buchs an dem Menschen Bernhard Weßling interessiert sein, schließlich ist es ein sehr persönliches Buch. Es liest sich jedenfalls sehr eingängig. Der Erzählton ist schwungvoll-lebendig, oft humorvoll und selbstironisch.

 

Aus meinem persönlichen Kontakt mit dem Autor erfuhr ich, was er potentiellen Lesern gerne mit auf den Weg geben möchte, vor allem auch solchen Lesern, die beruflich in China tätig sind, waren oder sein werden: „wirklich erfolgreich kann man in China nur sein, wenn man sich den Menschen zuwendet, sie respektiert, ihre Sprache lernt, von ihnen lernen will, ihre Sorgen, Nöte, Ziele, Stärken und Schwächen kennen lernen und berücksichtigen will“ (Bernhard Weßling am 15.09.23 per Mail).

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