Ein autobiographischer Erlebnisbericht
Ein
chinafreundliches Buch? In diesen Zeiten? Ist das überhaupt möglich? Der Autor
Bernhard Weßling zeigt, dass es geht. Er richtet seinen Blick auf die Menschen
in China. Menschen, die er dort während seines 13-jährigen beruflichen
Aufenthalts als Unternehmer persönlich kennen gelernt hat: „Auf jeden Fall also
beschreiben meine Geschichten reale Facetten des chinesischen Lebens, aber
nicht DAS chinesische Leben. Ich beschreibe etwas vom Leben in China, wie es
tagtäglich stattfindet, vielfältig und ganz anders, als man es so liest, ganz
anders, als ich es erwartete, und ich werde auch nach Abschluss dieses Buches,
überall und immer wieder Beobachtungen erleben, die anders sind, als wir sie
erwarten (und anders, als ich sie erwarten würde und hier beschreibe). Ich
beschreibe nur, was ich in den vielen Jahren mit den vielen Chinesen, die mich
umgeben haben, erlebt habe; Erlebnisse mit den Chinesen, die ich auf den
Straßen kennen lernte, Chinesen, mit denen ich einen Teil meiner Freizeit
verbrachte, Chinesen, mit denen ich gearbeitet bzw. Geschäfte gemacht habe.“
(Vorwort, S. 11-12).
Bernhard
Weßling ist aufmerksamer Beobachter, zumeist neutral und unvoreingenommen, er
wertet nicht vorschnell, pauschalisiert und verallgemeinert nicht zu sehr. Eine
Fähigkeit, die er sicherlich auch seiner großen Leidenschaft verdankt, der
Vogelkunde (vgl. Weßling: Der Ruf der Kraniche. Goldmann 2023). Dem Autor geht
es nicht darum, „heiße politische Eisen“ zu thematisieren. Es geht ihm viel
mehr darum, den Blick des Lesers auf China und auf die Menschen dort zu
erweitern, und auf diese Weise Verständnis für Angehörige einer für uns fremden
Kultur zu fördern.
Es
gab viele Stellen, die ich mit großem Interesse gelesen habe. So fand ich z.B.
die Beschreibung der ungeheuren Ausdehnung der Mega-Stadt ShenZhen
aufschlussreich, auch weil der Autor die fremde Stadt mit Bezug zum ihm eigenen
Bekannten schildert: „Selbst die mittelgroße Stadt ShenZhen ist ein Moloch,
fast 100 km lang (von Ost nach West), an der schmalsten Stelle vielleicht 10 km
Süd-Nord-Ausdehnung, an der breitesten, im Westen, über 40 km. (…) Ich stamme
aus dem Ruhrgebiet, dem größten Ballungsraum Deutschlands, dem fünftgrößten
Europas. Hier leben etwa fünf Millionen Menschen, verglichen mit ShenZhen also
weniger als ein Viertel, auf einer Fläche, die mehr als doppelt so groß ist wie
die von ShenZhen“ (S. 33).
Gleichzeitig
ist Weßling beeindruckt vom enormen Tempo, was den technischen Fortschritt in
China angeht. Das führt er z.B. zu den Themen regenerative Energie und
E-Mobilität aus: „Wir sahen bei der Fahrt zu einem ehemaligen Fort eines
Solaranlage neben der Straße (…) man sah nur Solarzellen, eine Reihe von Zellen
neben der anderen, eine Reihe hinter der anderen bis zum Horizont, aber
dahinter gab es noch mehr davon! Kein Wunder, dass China hier einen Solarpark
errichten ließ, denn es gibt 3.250 Sonnenstunden im Jahr“ (S. 282). ShenZhen
sei im Hinblick auf die Elektromobilität Weltspitze. Der Autor beschreibt, wie
zunächst Elektro-Mopeds und Roller das Straßenbild dominiert hätten, später
dann Elektrobusse und Elektrotaxis (vgl. S. 283). Und Weßling liefert nebenbei
auch noch viele faszinierende Daten: „China ist weltweit größter Hersteller von
Solarzellen (…) ist weltweit größter Investor in Solarfarmen. (…) Und, nur
nebenbei erwähnt, China erzeugt 70 Prozent der weltweit erzeugten Solarthermie
(…) Die gesamte derzeit (2022) installierte Leistung von Windenergieanlagen in
Deutschland beträgt etwas mehr als 64 GW; China hat etwa 393 GW installiert.“
(S. 284).
Am
Beispiel von Lebensgeschichten einiger Menschen, denen Weßling begegnet ist,
werden Facetten des chinesischen Lebens verdeutlicht. Aus den Beschreibungen
kann man Rückschlüsse auf die Lebenswirklichkeit der Menschen ziehen. Wir
lernen z.B. den Handwerker Wang kennen, den Bauer Song oder Ingenieur Su. Sehr
interessant! Weitere faszinierende Themen: der Besuch im Krankenhaus (ein
kleiner Einblick in das chinesische Gesundheitssystem), das Aufsuchen von
Ämtern, die Schilderung der Arbeitsmarkt-Situation und der Arbeitswelt in
ShenZhen (dargestellt an konkreten Beispielen aus Weßlings Erfahrungsschatz).
Natürlich
geht es in diesem Buch auch nicht nur um China. Es handelt sich um ein
autobiographisches Buch, in dem der Autor viele Erinnerungen an erlebte
Situationen festhält. Er tritt dabei als Person deutlich hervor, er gibt viel
von sich preis. Als Leser lernt man den Autor als Menschen kennen, bildet sich
ein Urteil zu ihm. Und ich muss gestehen, ich bin zutiefst beeindruckt von dem
turbulenten und ereignisreichen Leben von Weßling, das er in China 13 Jahre
lang führte. Der Autor ist ein gelungenes Beispiel für Integration. Er spielt
regelmäßig mit befreundeten Chinesen Fußball (Sport ist für Weßling ein
wichtiger Ausgleich zu seinem stressigen Berufsalltag) und erlernt auch die
Sprache.
Vieles
beschreibt der Autor mit einiger Selbstironie, was ihn sehr sympathisch macht.
Gleichzeitig ist er aber auch ehrgeizig und tatkräftig. Ein Macher, der viel
bewegt. Er schafft es, in einem fremden Land mit eigentümlichen Strukturen ein
Chemie-Unternehmen aufzubauen und zu führen. Mit Eifer erlernt er Schritt für
Schritt die Sprache in Wort und Schrift, verschafft sich auf diese Weise
Respekt, Anerkennung und Sympathie in seinem Arbeitsumfeld. Er kommuniziert
zunehmend souveräner und freier, wie er selbst berichtet. Der Autor ist ein
neugieriger, engagierter und wissbegieriger Mensch (das wird auch in seinen
anderen Büchern gut deutlich, vgl. dazu „Was für ein Zufall! Über
Unvorhersehbarkeit, Komplexität und das Wesen der Zeit“. Springer 2022).
Wer
gerne etwas über China erfahren möchte und dabei an einem differenzierten Bild
interessiert ist, das an konkreten Beispielen und Erfahrungen verdeutlicht
wird, der sollte dieses Buch lesen. Der Autor führt vor, wie man dem Fremden
begegnen sollte: unvoreingenommen, aufgeschlossen und offen, mit Bereitschaft
sich auf das Fremde einzulassen, es zu akzeptieren, nicht voreilig zu werten
und mit den Menschen auf persönlicher Ebene wertschätzend umzugehen. Darüber
hinaus sollte man für die Lektüre dieses Buchs an dem Menschen Bernhard Weßling
interessiert sein, schließlich ist es ein sehr persönliches Buch. Es liest sich
jedenfalls sehr eingängig. Der Erzählton ist schwungvoll-lebendig, oft
humorvoll und selbstironisch.
Aus
meinem persönlichen Kontakt mit dem Autor erfuhr ich, was er potentiellen
Lesern gerne mit auf den Weg geben möchte, vor allem auch solchen Lesern, die
beruflich in China tätig sind, waren oder sein werden: „wirklich erfolgreich
kann man in China nur sein, wenn man sich den Menschen zuwendet, sie
respektiert, ihre Sprache lernt, von ihnen lernen will, ihre Sorgen, Nöte,
Ziele, Stärken und Schwächen kennen lernen und berücksichtigen will“ (Bernhard
Weßling am 15.09.23 per Mail).
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