Ein
Kinderbuch-Klassiker
Die
kleine Mary, die auf den ersten Seiten zunächst nicht sehr sympathisch
beschrieben wird, verliert ihre Eltern an die Cholera. Sie reist daraufhin zu
ihrem Onkel Archibald Craven nach England, der sie in ihre Obhut nimmt. Dort
wird sie zunächst sich selbst überlassen, entdeckt dann aber die Gärten des
Anwesens, in dem ihr Onkel wohnt, für sich und schließt Freundschaft mit
Dickon, dem Sohn der Haushaltshilfe Martha, und Colin, dem kränklichen Sohn von
Mr. Craven. Ein geheimer Garten, der seit 10 Jahren von keiner Menschenseele
gepflegt worden ist, übt eine heilsame Wirkung auf die drei Kinder aus. Sie
durchlaufen allesamt eine Entwicklung zum Positiven. Darum geht es in dem
Klassiker „Der geheime Garten“ von Frances H. Burnett (1911 erschienen), die
allen Leser:innen durch „Der kleine Lord“ bekannt sein dürfte. Laut „The New York Times“ kann man Burnett als die
J.K. Rowling ihrer Zeit bezeichnen („Burnett was the J.K. Rowling of her time“,
New York Times, 28.07.2004).
Für
mich ist das Buch ein frühes Zeugnis der Beschreibung von Depression und des
Umgangs mit dieser Krankheit. Verschiedene Figuren leiden unter Traurigkeit,
Verzweiflung und Schwermut (= Mary, Colin, Mr. Craven). Alle drei haben
Schicksalsschläge erlitten. Durch die Beschäftigung mit dem Garten und das
soziale Miteinander finden sie jedoch zurück ins Leben. Eine Botschaft, die man
auch auf die heutige Zeit gut übertragen kann.
Mary
ist lieblos groß geworden, sie selbst spürt wenige Emotionen. Sie wurde
autoritär und ohne viel Fürsorge erzogen. Das wird auf den ersten Seiten gut
deutlich. Ihre Mutter scheint sich nicht richtig um sie gekümmert zu haben. Sie
wirkt abweisen, kühl und unfreundlich. Kein einfaches Kind. Auf der Zugreise zu
ihrem Onkel wird Mary von der Haushälterin Mrs. Medlock auf Mr. Craven
vorbereitet. Dieser erscheint als düsterer, unnahbarer und unattraktiver Mann.
Ein Griesgram. Er lebt zurückgezogen und möchte keinen Menschen sehen. Seine
Frau ist verstorben. Das hat sein Leben nachhaltig negativ beeinflusst. Der
Empfang Marys im Herrenhaus des Onkels verläuft kühl und mit Distanz. Mr.
Craven will Mary nicht sehen, er will seine Ruhe haben.
Mary
verhält sich zu Beginn äußerst hochmütig. Sie ist es gewohnt, bedient zu
werden. Das lässt sie auch die Hausangestellte Martha spüren. Mary soll sich
allein beschäftigen und draußen spielen. Niemand hat Zeit für sie oder kümmert
sich um sie. Die Begegnung mit dem Gärtner und einem Rotkehlchen lässt das
Mädchen erstmals auftauen und freundlicher werden. Sie erfährt von dem
verschlossenen, geheimen Garten, der seit 10 Jahren von niemandem mehr betreten
wurde. Und als Leser:in fragt man sich natürlich, was es mit diesen Garten auf
sich hat, ob Mary ihn finden und aufsuchen wird, und was sie dann dort treibt.
Mit
der Zeit verändert sich Mary. Sie beginnt damit, Fragen zum geheimen Garten zu
stellen, und sie wird offenherziger und zugänglicher. Sie interessiert sich für
die Natur, verbringt viel Zeit draußen, wird kräftiger. Und schließlich macht
sie den geheimen Garten zu ihrem eigenen Projekt. Er wird zu ihrem geheimen
Rückzugsort. Nur den Sohn der Hausangestellten Martha weiht sie in ihr
Geheimnis ein: Dickon. Mit ihm freundet sie sich an und beide widmen sich
eifrig der Gartenarbeit.
Es dauert sehr lang, bis Mary Mr. Craven zum ersten Mal persönlich begegnet. Er wirkt bei diesem Treffen sehr traurig und deprimiert. Im weiteren Handlungsverlauf lernt sie den kranken Colin kennen, der ans Bett gefesselt ist und sein Zimmer nie verlässt. Colin ist eine eigenwillige Figur. Er glaubt, dass er sterben wird. Die Bediensteten behandelt er von oben herab und er kommandiert sie herum. Sie fürchten ihn. Er möchte allerdings, dass Mary ihn regelmäßig besucht und ihm etwas erzählt. Er genießt ihre Gesellschaft. Und Mary verhält sich Colin gegenüber anders, als dieser es gewohnt ist. Sie lässt sich von ihm nicht einschüchtern, macht ihm nicht alles recht. Mit ihrer direkten Art findet sie einen Zugang zu Colin. Und der Junge wird daraufhin munterer und blüht auf. Er möchte ebenfalls den geheimen Garten sehen. Er durchläuft eine Wandlung hin zum Positiven. Er gesundet. Eine hoffnungsfrohe Botschaft.
Für meine Rezension (und Inhaltswiedergabe) habe ich auf die gekürzte Ausgabe von DTVjunior aus dem Jahr 1978 zurückgegriffen. Es gibt noch mehrere Fassungen des Texts. Beim Schauen des Films aus dem Jahr 2020 (Regie: Marc Munden) ist mir beispielsweise aufgefallen, dass dort die Krankheit der Mutter von Colin noch viel ausführlicher thematisiert wird. In der von mir gelesenen gekürzten Ausgabe wird die Mutter von Colin jedoch kaum erwähnt. Ich habe mich vor allem anlässlich des Erscheinens eines Bilderbuchs dazu entschieden („Der geheime Garten“, Insel Verlag 2023), den Klassiker noch einmal zu lesen. Bei der Besprechung des Kinderbuchs wird mich natürlich die Frage interessieren, ob bei der Kürzung des Textes nicht zu viel verloren gegangen ist. Das Bilderbuch umfasst 36 Seiten, in der gekürzten Fassung hatte der Text einen Umfang von 192 Seiten
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