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Mittwoch, 27. September 2023

Präauer, Teresa - Kochen im falschen Jahrhundert






Ethnographische Feldforschung als Literatur?


Ich mag es, wenn Literatur eine gesellschaftspolitische Relevanz hat und Themen aufgegriffen werden, die Fremdverstehen oder Empathie fördern. Ich möchte emotional mitgerissen werden, durch literarische Offenheit zum Nachdenken und Reflektieren angeregt werden. Manchmal ist es auch die sprachliche Gestaltung, die bei mir Begeisterung für ein literarisches Werk erzeugt (zuletzt bei „Kleine Probleme“ von Nele Pollatschek). Es passiert mir eigentlich selten, dass ich keinen oder nur einen schlechten Zugang zu einem Buch finde. Meist spricht mich immer irgendetwas an und kann mich überzeugen. Nicht so dieses Mal. Dem neuen Roman von Teresa Präauer „Kochen im falschen Jahrhundert“ konnte ich einfach nichts abgewinnen, und das, obwohl es für den deutschen und österreichischen Buchpreis nominiert wurde und im Feuilleton begeisterte Stimmen erhielt. Woran liegt das?

 

Vermutlich liegt es auch daran, dass das Treffen einer Gruppe von Freunden zum Abendessen mit großer Distanz zum Geschehen erzählt wird. Die Mittelbarkeit des Erzählten störten mich, weil jegliche Lebendigkeit verloren geht. Die Erzählerinstanz wird zu vermittelnden Zwischenstation. Nicht mein Geschmack! Ich lese den Inhalt über weite Strecken unbeteiligt und ohne großes Interesse. Es gibt keinen Spannungsbogen. Die Gedankenführung ist sprunghaft. Die Gespräche boten mir wenig inhaltliche Anknüpfungsmöglichkeit. Mich packte nichts, mich erreichte nichts. Ich konnte mich an nichts „reiben“. Zu sachlich, nüchtern, langatmig und distanziert ist mir der Erzählstil. Die dargestellte Situation wird von außen beschrieben und gedeutet. Gespräche werden in deskriptiver Form wiedergegeben. Das soziale Miteinander wird im Detail ausgeleuchtet. Rituale des abendlichen Zusammenseins und der Essenszubereitung werden in Totalität äußerst emotionslos wiedergegeben. Die Musterhaftigkeit des sozialen Miteinanders wird offengelegt.  Es liest sich wie eine ethnographische Beobachtung. Wer so etwas mag, der macht mit diesem Buch nichts falsch. Allen anderen rate ich von der Lektüre ab. Bei mir jedenfalls wollte der Funke einfach nicht überspringen.

 

Samstag, 23. September 2023

Piskulla, Christian - Die Suche nach dem Route 66 Killer




5 von 5 Sternen



Realistisch, realistisch, realistisch

 

Christian Piskulla ist ein Garant für die Auswahl spannender Settings. Das hat er bereits in seinen beiden Thrillern „Das Stahlwerk“ und „Pacific Crest Trail Killer“ bewiesen (vgl. frühere Rezensionen). Und auch in seinem neuen Thriller „Die Suche nach dem Route 66 Killer“ wählt der Autor einen reizvollen, vielversprechenden Handlungsort: die Route 66. Wer wollte nicht schon einmal auf dieser berühmten Straße, die quer durch die USA verläuft, mit dem Motorrad eine Tour unternehmen?

 

Schon der Einstieg in das Werk kann fesseln. Mit einem Bagger wird eine Leiche beseitigt. Und man fragt sich: Wer ist die Leiche? Was ist dem Opfer widerfahren? Warum ist es ermordet worden? Und wer räumt es eigentlich aus dem Weg? Für mich genügend Fragen, die Neugier erregen und zum Weiterlesen animieren. Es dauert zu Beginn zwar etwas, bis man in die weitere Handlung und in die verschiedenen Fäden hineinfindet. Doch wenn man erst einmal den Überblick hat, wird es spannend und packend, was v.a. an der Erzählweise liegt. 

 

Auch begegnen wir drei bekannten Figuren aus Band 1 wieder: Mark und Rebecca, die nach zwei Jahren Beziehung immer noch auf Wolke 7 schweben, sowie dem besessenen FBI-Ermittler Steve Cortez (jetzt im Ruhestand), der sich bis zur Selbstaufgabe in einen Fall festbeißt, bis er ihn gelöst hat. Auffällig für mich: Mark und Rebecca agieren anders als noch im PCTK. Die Vorfälle auf dem Pacific Crest Trail haben sie traumatisiert, sie genießen nun intensiver ihr Leben. Eingangs wird deutlich, dass ihnen jedoch ein Ziel im Leben fehlt. Aus diesem Grund gründen sie eine Privatdetektei und übernehmen einen ersten Fall: Die Suche nach einer vermissten Person auf der Route 66.

 

Wer mir wieder richtig gut gefallen hat, ist Steve Cortez mit all seinen Ecken und Kanten. Eine tolle Figur! Er verbeißt sich wieder in den Fall, sucht nach Hinweisen, findet Spuren und er beweist erneut einen guten Instinkt. Bei der Ermittlungsarbeit beweist er Ideenreichtum. Er kniet sich richtig hinein, agiert wieder total versessen.

 

Die Szenenwechsel sind dynamisch und abwechslungsreich, passagenweise immer einmal wieder auch knappe Abschnitte, die schnell getaktet wechseln, dazu oft harte Schnitte, die Tempo erzeugen. Viele Perspektivwechsel. Das sollte man mögen. Wer auf geradlinig erzählte Thriller steht, in denen Personen und Handlungsorte kaum wechseln, wird sich hier womöglich gefordert fühlen. Nach meinem Empfinden verliert man aber an keiner Stelle den Überblick, der Autor kehrt immer wieder erkennbar zum roten Faden zurück. Alle Handlungselemente werden sinnvoll vorangetrieben.

 

Was mir auch sehr, sehr gut gefallen hat: Die Route 66 wird mit vielen schönen Details sehr bildhaft beschrieben. Ich konnte mir gut vorstellen, wie es dort aussieht. Und auch erhält man beiläufig einige interessante Hintergrundinformationen. Auch Personen am Rande der Gesellschaft werden wieder in den Blick genommen (wie schon beim PCTK). Man lernt also auch noch etwas dazu. Prima! Auch die atmosphärische Darstellung ist dicht.

 

Ebenfalls lobenswert ist das Finale. Die Spannung zieht am Ende spürbar an. Auch die Darstellung der Gefühlszustände der Figuren sorgt dafür, dass man als Leser in einen Zustand der Anspannung versetzt wird. Ich habe mitgefiebert. Klasse! Weiterhin wird alles plausibel und schlüssig sowie zufriedenstellend aufgelöst und zum Abschluss geführt. Auch das überzeugt.

 

Fazit: Ein realistischer Thriller mit gut ausgearbeiteten Figuren (in meinen Augen vor allem Cortez!), der abwechslungsreich erzählt wird. Auch die vielen undurchsichtigen Antagonisten sind geschickt in den Handlungsverlauf eingebaut worden. Die verschiedenen Spannungsbögen werden immer wieder sinnvoll unterbrochen, so dass man als Leser:in stets am Ball bleibt. Die Route 66 als Handlungsort ist reizvoll und bildhaft sowie anschaulich beschrieben worden. Noch dazu lernt man Landeskundliches dazu. Das Finale ist packend und überzeugend. Am Ende wird alles plausibel und schlüssig aufgelöst. Was mir besonders gefallen hat, war die realistische Atmosphäre, die der Autor erzeugt. Was will man mehr? Von mir gibt es dafür 5 Sterne, ich fühlte mich durchgängig sehr gut unterhalten und die Handlung hat mich gepackt.

Freitag, 22. September 2023

Burnett, Frances H. - Der geheime Garten



3 von 5 Sternen



Ein Kinderbuch-Klassiker als Bilderbuch


„Schon vor über einem Jahrhundert hat Frances Hodgson Burnett Der geheime Garten geschrieben und noch heute ist es eines der beliebtesten Kinderbücher (…) Die Geschichte wurde oft nacherzählt: in Theaterstücken, in Filmen, im Fernsehen und ja, auch in Bilderbüchern wie diesem hier.“ (vgl. Nachwort)

 

Anlässlich des Erscheinens des Kinderbuchs „Der Geheime Garten“ von F. H. Burnett im Insel Verlag (bearbeitet von Calista Brill und illustriert von Adelina Lirius, übersetzt von Naemi Schuhmacher) habe ich auch noch einmal das Original in der gekürzten DTVjunior-Ausgabe gelesen und rezensiert. In meiner Rezension hielt ich fest: „Für mich ist das Buch ein frühes Zeugnis der Beschreibung von Depression und des Umgangs mit dieser Krankheit. Verschiedene Figuren leiden unter Traurigkeit, Verzweiflung und Schwermut (= Mary, Colin, Mr. Craven). Alle drei haben Schicksalsschläge erlitten. Durch die Beschäftigung mit dem Garten und das soziale Miteinander finden sie jedoch zurück ins Leben. Eine Botschaft, die man auch auf die heutige Zeit gut übertragen kann.“

 

Für die Rezension des Bilderbuchs interessiert mich vor allem auch die Frage, ob bei der Kürzung des Textes nicht zu viel verloren gegangen ist. Schließlich umfasst das Bilderbuch 36 Seiten, die von mir rezensierte gekürzte Fassung hat hingegen einen Umfang von 192 Seiten. Kann eine solche Reduktion des Inhalts gelingen? In meinen Augen, leider nein. Für mich machen vor allem die Charaktere Mary und Colin das Werk aus. Sie sind mit viel Profil und Wiedererkennungswert gestaltet worden (vgl. meine Rezension zum Original). Für mich geht bei der Figurenkonzeption zu viel verloren. Es wird z.B. auch nicht erwähnt, warum Mary traurig ist. Mr. Craven mit seiner distanzierten Art kommt gar nicht vor. Und der kränkliche Colin in seiner herablassenden Art kommt mir auch zu kurz.

 

Mein Problem: Ich habe den Fehler gemacht, im Vorfeld der Rezension zum Bilderbuch noch einmal das Original zu lesen. Deshalb habe ich natürlich einen ganz anderen Blick auf das Buch. Ich bin nun vorgeprägt und weiß, was alles fehlt. Anderen Leser:innen werden die Kürzungen vielleicht gar nicht auffallen. Das, was im Nachwort steht, kommt für mich in den wenigen Zeilen nicht genügend zum Ausdruck: „Mary Lennox ist eine ungewöhnliche Hauptfigur, denn wir lernen sie zunächst als nicht gerade liebenswürdigen Charakter kennen. Sie wirkt unscheinbar, selbstsüchtig, mürrisch und zeigt kein Interesse an anderen Menschen“ (vgl. Nachwort). Für mich geht beim Bilderbuch zu viel verloren, ich bleibe lieber beim Original für Kinder ab 8 Jahren. Weniger kritische Leser als ich mögen in dem Buch aber auch die Möglichkeit sehen, Kinder schon frühzeitig (Altersempfehlung des Verlags: ab 4) an einen Klassiker heranzuführen.

 

Was aber absolut lobenswert sind, sind die vielen großformatigen, seitenfüllenden Illustrationen. Diese sind wunderschön und laden zur längeren und mehrfachen Betrachtung ein. Sie sind in meinen Augen das, was das Buch ausmacht.

Mittwoch, 20. September 2023

Burnett, Frances H. - Der geheime Garten






Ein Kinderbuch-Klassiker



Die kleine Mary, die auf den ersten Seiten zunächst nicht sehr sympathisch beschrieben wird, verliert ihre Eltern an die Cholera. Sie reist daraufhin zu ihrem Onkel Archibald Craven nach England, der sie in ihre Obhut nimmt. Dort wird sie zunächst sich selbst überlassen, entdeckt dann aber die Gärten des Anwesens, in dem ihr Onkel wohnt, für sich und schließt Freundschaft mit Dickon, dem Sohn der Haushaltshilfe Martha, und Colin, dem kränklichen Sohn von Mr. Craven. Ein geheimer Garten, der seit 10 Jahren von keiner Menschenseele gepflegt worden ist, übt eine heilsame Wirkung auf die drei Kinder aus. Sie durchlaufen allesamt eine Entwicklung zum Positiven. Darum geht es in dem Klassiker „Der geheime Garten“ von Frances H. Burnett (1911 erschienen), die allen Leser:innen durch „Der kleine Lord“ bekannt sein dürfte. Laut „The New York Times“ kann man Burnett als die J.K. Rowling ihrer Zeit bezeichnen („Burnett was the J.K. Rowling of her time“, New York Times, 28.07.2004).

 

Für mich ist das Buch ein frühes Zeugnis der Beschreibung von Depression und des Umgangs mit dieser Krankheit. Verschiedene Figuren leiden unter Traurigkeit, Verzweiflung und Schwermut (= Mary, Colin, Mr. Craven). Alle drei haben Schicksalsschläge erlitten. Durch die Beschäftigung mit dem Garten und das soziale Miteinander finden sie jedoch zurück ins Leben. Eine Botschaft, die man auch auf die heutige Zeit gut übertragen kann.

 

Mary ist lieblos groß geworden, sie selbst spürt wenige Emotionen. Sie wurde autoritär und ohne viel Fürsorge erzogen. Das wird auf den ersten Seiten gut deutlich. Ihre Mutter scheint sich nicht richtig um sie gekümmert zu haben. Sie wirkt abweisen, kühl und unfreundlich. Kein einfaches Kind. Auf der Zugreise zu ihrem Onkel wird Mary von der Haushälterin Mrs. Medlock auf Mr. Craven vorbereitet. Dieser erscheint als düsterer, unnahbarer und unattraktiver Mann. Ein Griesgram. Er lebt zurückgezogen und möchte keinen Menschen sehen. Seine Frau ist verstorben. Das hat sein Leben nachhaltig negativ beeinflusst. Der Empfang Marys im Herrenhaus des Onkels verläuft kühl und mit Distanz. Mr. Craven will Mary nicht sehen, er will seine Ruhe haben.

 

Mary verhält sich zu Beginn äußerst hochmütig. Sie ist es gewohnt, bedient zu werden. Das lässt sie auch die Hausangestellte Martha spüren. Mary soll sich allein beschäftigen und draußen spielen. Niemand hat Zeit für sie oder kümmert sich um sie. Die Begegnung mit dem Gärtner und einem Rotkehlchen lässt das Mädchen erstmals auftauen und freundlicher werden. Sie erfährt von dem verschlossenen, geheimen Garten, der seit 10 Jahren von niemandem mehr betreten wurde. Und als Leser:in fragt man sich natürlich, was es mit diesen Garten auf sich hat, ob Mary ihn finden und aufsuchen wird, und was sie dann dort treibt.

 

Mit der Zeit verändert sich Mary. Sie beginnt damit, Fragen zum geheimen Garten zu stellen, und sie wird offenherziger und zugänglicher. Sie interessiert sich für die Natur, verbringt viel Zeit draußen, wird kräftiger. Und schließlich macht sie den geheimen Garten zu ihrem eigenen Projekt. Er wird zu ihrem geheimen Rückzugsort. Nur den Sohn der Hausangestellten Martha weiht sie in ihr Geheimnis ein: Dickon. Mit ihm freundet sie sich an und beide widmen sich eifrig der Gartenarbeit.

 

Es dauert sehr lang, bis Mary Mr. Craven zum ersten Mal persönlich begegnet. Er wirkt bei diesem Treffen sehr traurig und deprimiert. Im weiteren Handlungsverlauf lernt sie den kranken Colin kennen, der ans Bett gefesselt ist und sein Zimmer nie verlässt. Colin ist eine eigenwillige Figur. Er glaubt, dass er sterben wird. Die Bediensteten behandelt er von oben herab und er kommandiert sie herum. Sie fürchten ihn. Er möchte allerdings, dass Mary ihn regelmäßig besucht und ihm etwas erzählt. Er genießt ihre Gesellschaft. Und Mary verhält sich Colin gegenüber anders, als dieser es gewohnt ist. Sie lässt sich von ihm nicht einschüchtern, macht ihm nicht alles recht. Mit ihrer direkten Art findet sie einen Zugang zu Colin. Und der Junge wird daraufhin munterer und blüht auf. Er möchte ebenfalls den geheimen Garten sehen. Er durchläuft eine Wandlung hin zum Positiven. Er gesundet. Eine hoffnungsfrohe Botschaft.


Für meine Rezension (und Inhaltswiedergabe) habe ich auf die gekürzte Ausgabe von DTVjunior aus dem Jahr 1978 zurückgegriffen. Es gibt noch mehrere Fassungen des Texts. Beim Schauen des Films aus dem Jahr 2020 (Regie: Marc Munden) ist mir beispielsweise aufgefallen, dass dort die Krankheit der Mutter von Colin noch viel ausführlicher thematisiert wird. In der von mir gelesenen gekürzten Ausgabe wird die Mutter von Colin jedoch kaum erwähnt. Ich habe mich vor allem anlässlich des Erscheinens eines Bilderbuchs dazu entschieden („Der geheime Garten“, Insel Verlag 2023), den Klassiker noch einmal zu lesen. Bei der Besprechung des Kinderbuchs wird mich natürlich die Frage interessieren, ob bei der Kürzung des Textes nicht zu viel verloren gegangen ist. Das Bilderbuch umfasst 36 Seiten, in der gekürzten Fassung hatte der Text einen Umfang von 192 Seiten

Zeh, Juli und Elisa Hoven - Der war's





Von der Relevanz der Unschuldsvermutung 


Marie werden Pausenbrote gestohlen und sie beschließt, etwas dagegen zu unternehmen. Darum geht es in dem Kinderbuch „Der war’s“ von Juli Zeh und Elisa Hoven. Auf den ersten Seiten wird dafür das Klassengefüge der 6a gut in den Blick genommen. Und man stellt sich zu Beginn die folgenden Fragen: Wer steckt hinter den Diebstählen? Warum wird gerade Marie zum Opfer? Wie wird die Sache aufgeklärt? Und was passiert mit dem Täter? Genug Fragen, die Neugier erzeugen.

 

Wichtige Themen, die behandelt werden, sind Selbstjustiz und Mobbing. Es wird demonstriert, wie schnell Gerüchte entstehen können und welche Folgen es hat, eine Beschuldigung vorschnell zu äußern. Besonders dramatisch bei dem geschilderten Fall: Der potentielle Täter erhält anfangs überhaupt keine Möglichkeit, sich zu äußern. Was ich an diesem inhaltlichen Ansatz gelungen finde, ist der Umstand, dass man mit seinem Nachwuchs sehr gut das Verhalten der Figuren reflektieren kann. Gemeinsam kann man überlegen, wie man sich in einer solchen Situation, wie sie beschrieben wird, stattdessen hätte verhalten können. Eine sehr gewinnbringende Lektüre, mit der man noch etwas Wichtiges dazulernt. So macht sich der vermeintliche Täter z.B. noch mehr dadurch selbst zum Opfer, dass er nichts zu den Anschuldigungen sagt. Kurzum: Genügend Stoff zum Besprechen.

 

Und beiläufig wird noch viel juristisches Wissen kindgerecht vermittelt (z.B. dazu, wie Verfahren ablaufen, oder, was es mit der Unschuldsvermutung auf sich hat). Sehr gelungen ist in meinen Augen auch der kompakte Anhang, in dem genauer und auf anschauliche Art und Weise erklärt wird, wie ein Strafverfahren abläuft.

 

Beim Wortschatz ist mir aufgefallen, dass es schon auch das ein oder andere Fremdwort gibt (z.B. „Verbrechensprävention“, „imaginär“, S. 20; „Ultimatum“, S. 25; „Persönlichkeitsentwicklung und Selbstwirksamkeitserfahrung“, S. 27; „Observation“, S. 33 etc.). Auch juristische Fachbegriffe werden an späterer Stelle in die Handlung integriert. Es ist eine gute Möglichkeit der Wortschatzerweiterung. Die für den Nachwuchs möglicherweise schwierigen Wörter kamen nach meinem Empfinden nicht zu gehäuft vor.

 

Das einzige, was mich an diesem Buch gestört hat, ist die recht einseitige und negative Darstellung der Lehrperson (Herr Schindelbart-Bunsemann). Er bemüht sich nicht ernsthaft darum, die Sache mit den verschwundenen Pausenbroten aufzuklären und reagiert pädagogisch unangemessen. Auf mich wirkt das vermittelte Lehrerbild antiquiert und nicht mehr zeitgemäß. Aber inhaltlich soll es ja nicht darum gehen, das Lehrerverhalten, sondern das Schülerverhalten zu thematisieren. Von daher verstehe ich, dass die Autorinnen sich dazu entschieden haben, den Klassenlehrer als „Witzfigur“, dazustellen. So müssen sich die Kinder selbst helfen, weil sie von außen keine Hilfe erhalten.

 

Man hätte natürlich auch überlegen können, ob die Schüler:innen nicht vielleicht besser pädagogisch von außen angeleitet werden, wenn sie ihr Gerichtsverfahren durch“spielen“. Aber in einem solchen Fall hätten die Kinder natürlich weniger eigenständig und selbstwirksam gehandelt. Von daher kann ich schon nachvollziehen, warum die Autor:innen sich dazu entschieden haben, die Lerner:innen eigenverantwortlich handelt zu lassen.

 

Vor allem für Kinder (aber auch für Eltern), die sich für rechtsstaatliche Prinzipien interessieren, ist es ein gewinnbringendes Buch! Es wird aufgezeigt, wie wichtig es ist, nicht vorschnell zu urteilen und nicht unüberlegt auf Formen der Selbstjustiz zurückzugreifen. Ich halte die inhaltliche Vermittlung für kindgerecht und auch die vom Verlag vorgeschlagene Altersempfehlung (ab 8 Jahren) finde ich passend. Von mir gibt es 5 Sterne!

Sonntag, 17. September 2023

Weßling, Bernhard - Mein Sprung ins kalte Wasser. Mit offenen Augen und Ohren in China leben und arbeiten






Ein autobiographischer Erlebnisbericht


Ein chinafreundliches Buch? In diesen Zeiten? Ist das überhaupt möglich? Der Autor Bernhard Weßling zeigt, dass es geht. Er richtet seinen Blick auf die Menschen in China. Menschen, die er dort während seines 13-jährigen beruflichen Aufenthalts als Unternehmer persönlich kennen gelernt hat: „Auf jeden Fall also beschreiben meine Geschichten reale Facetten des chinesischen Lebens, aber nicht DAS chinesische Leben. Ich beschreibe etwas vom Leben in China, wie es tagtäglich stattfindet, vielfältig und ganz anders, als man es so liest, ganz anders, als ich es erwartete, und ich werde auch nach Abschluss dieses Buches, überall und immer wieder Beobachtungen erleben, die anders sind, als wir sie erwarten (und anders, als ich sie erwarten würde und hier beschreibe). Ich beschreibe nur, was ich in den vielen Jahren mit den vielen Chinesen, die mich umgeben haben, erlebt habe; Erlebnisse mit den Chinesen, die ich auf den Straßen kennen lernte, Chinesen, mit denen ich einen Teil meiner Freizeit verbrachte, Chinesen, mit denen ich gearbeitet bzw. Geschäfte gemacht habe.“ (Vorwort, S. 11-12).

 

Bernhard Weßling ist aufmerksamer Beobachter, zumeist neutral und unvoreingenommen, er wertet nicht vorschnell, pauschalisiert und verallgemeinert nicht zu sehr. Eine Fähigkeit, die er sicherlich auch seiner großen Leidenschaft verdankt, der Vogelkunde (vgl. Weßling: Der Ruf der Kraniche. Goldmann 2023). Dem Autor geht es nicht darum, „heiße politische Eisen“ zu thematisieren. Es geht ihm viel mehr darum, den Blick des Lesers auf China und auf die Menschen dort zu erweitern, und auf diese Weise Verständnis für Angehörige einer für uns fremden Kultur zu fördern.

 

Es gab viele Stellen, die ich mit großem Interesse gelesen habe. So fand ich z.B. die Beschreibung der ungeheuren Ausdehnung der Mega-Stadt ShenZhen aufschlussreich, auch weil der Autor die fremde Stadt mit Bezug zum ihm eigenen Bekannten schildert: „Selbst die mittelgroße Stadt ShenZhen ist ein Moloch, fast 100 km lang (von Ost nach West), an der schmalsten Stelle vielleicht 10 km Süd-Nord-Ausdehnung, an der breitesten, im Westen, über 40 km. (…) Ich stamme aus dem Ruhrgebiet, dem größten Ballungsraum Deutschlands, dem fünftgrößten Europas. Hier leben etwa fünf Millionen Menschen, verglichen mit ShenZhen also weniger als ein Viertel, auf einer Fläche, die mehr als doppelt so groß ist wie die von ShenZhen“ (S. 33).

 

Gleichzeitig ist Weßling beeindruckt vom enormen Tempo, was den technischen Fortschritt in China angeht. Das führt er z.B. zu den Themen regenerative Energie und E-Mobilität aus: „Wir sahen bei der Fahrt zu einem ehemaligen Fort eines Solaranlage neben der Straße (…) man sah nur Solarzellen, eine Reihe von Zellen neben der anderen, eine Reihe hinter der anderen bis zum Horizont, aber dahinter gab es noch mehr davon! Kein Wunder, dass China hier einen Solarpark errichten ließ, denn es gibt 3.250 Sonnenstunden im Jahr“ (S. 282). ShenZhen sei im Hinblick auf die Elektromobilität Weltspitze. Der Autor beschreibt, wie zunächst Elektro-Mopeds und Roller das Straßenbild dominiert hätten, später dann Elektrobusse und Elektrotaxis (vgl. S. 283). Und Weßling liefert nebenbei auch noch viele faszinierende Daten: „China ist weltweit größter Hersteller von Solarzellen (…) ist weltweit größter Investor in Solarfarmen. (…) Und, nur nebenbei erwähnt, China erzeugt 70 Prozent der weltweit erzeugten Solarthermie (…) Die gesamte derzeit (2022) installierte Leistung von Windenergieanlagen in Deutschland beträgt etwas mehr als 64 GW; China hat etwa 393 GW installiert.“ (S. 284).

 

Am Beispiel von Lebensgeschichten einiger Menschen, denen Weßling begegnet ist, werden Facetten des chinesischen Lebens verdeutlicht. Aus den Beschreibungen kann man Rückschlüsse auf die Lebenswirklichkeit der Menschen ziehen. Wir lernen z.B. den Handwerker Wang kennen, den Bauer Song oder Ingenieur Su. Sehr interessant! Weitere faszinierende Themen: der Besuch im Krankenhaus (ein kleiner Einblick in das chinesische Gesundheitssystem), das Aufsuchen von Ämtern, die Schilderung der Arbeitsmarkt-Situation und der Arbeitswelt in ShenZhen (dargestellt an konkreten Beispielen aus Weßlings Erfahrungsschatz).

 

Natürlich geht es in diesem Buch auch nicht nur um China. Es handelt sich um ein autobiographisches Buch, in dem der Autor viele Erinnerungen an erlebte Situationen festhält. Er tritt dabei als Person deutlich hervor, er gibt viel von sich preis. Als Leser lernt man den Autor als Menschen kennen, bildet sich ein Urteil zu ihm. Und ich muss gestehen, ich bin zutiefst beeindruckt von dem turbulenten und ereignisreichen Leben von Weßling, das er in China 13 Jahre lang führte. Der Autor ist ein gelungenes Beispiel für Integration. Er spielt regelmäßig mit befreundeten Chinesen Fußball (Sport ist für Weßling ein wichtiger Ausgleich zu seinem stressigen Berufsalltag) und erlernt auch die Sprache.

 

Vieles beschreibt der Autor mit einiger Selbstironie, was ihn sehr sympathisch macht. Gleichzeitig ist er aber auch ehrgeizig und tatkräftig. Ein Macher, der viel bewegt. Er schafft es, in einem fremden Land mit eigentümlichen Strukturen ein Chemie-Unternehmen aufzubauen und zu führen. Mit Eifer erlernt er Schritt für Schritt die Sprache in Wort und Schrift, verschafft sich auf diese Weise Respekt, Anerkennung und Sympathie in seinem Arbeitsumfeld. Er kommuniziert zunehmend souveräner und freier, wie er selbst berichtet. Der Autor ist ein neugieriger, engagierter und wissbegieriger Mensch (das wird auch in seinen anderen Büchern gut deutlich, vgl. dazu „Was für ein Zufall! Über Unvorhersehbarkeit, Komplexität und das Wesen der Zeit“. Springer 2022).

 

Wer gerne etwas über China erfahren möchte und dabei an einem differenzierten Bild interessiert ist, das an konkreten Beispielen und Erfahrungen verdeutlicht wird, der sollte dieses Buch lesen. Der Autor führt vor, wie man dem Fremden begegnen sollte: unvoreingenommen, aufgeschlossen und offen, mit Bereitschaft sich auf das Fremde einzulassen, es zu akzeptieren, nicht voreilig zu werten und mit den Menschen auf persönlicher Ebene wertschätzend umzugehen. Darüber hinaus sollte man für die Lektüre dieses Buchs an dem Menschen Bernhard Weßling interessiert sein, schließlich ist es ein sehr persönliches Buch. Es liest sich jedenfalls sehr eingängig. Der Erzählton ist schwungvoll-lebendig, oft humorvoll und selbstironisch.

 

Aus meinem persönlichen Kontakt mit dem Autor erfuhr ich, was er potentiellen Lesern gerne mit auf den Weg geben möchte, vor allem auch solchen Lesern, die beruflich in China tätig sind, waren oder sein werden: „wirklich erfolgreich kann man in China nur sein, wenn man sich den Menschen zuwendet, sie respektiert, ihre Sprache lernt, von ihnen lernen will, ihre Sorgen, Nöte, Ziele, Stärken und Schwächen kennen lernen und berücksichtigen will“ (Bernhard Weßling am 15.09.23 per Mail).

Mittwoch, 13. September 2023

Taschinski, Stefanie - Die kleine Dame






Einprägsame Figuren und humoriger Erzählton


Eines Tages zieht die 7-jährige Lilly mit ihrer 5-jährigen Schwester Karlchen und mit ihren Eltern in das Brezelhaus, das in einer kleinen Seitenstraße Hamburgs steht. Und im Brezelhaus gibt es eine weitere Mitbewohnerin: die kleine Dame, die bei Wind und Wetter ihre Safari-Ausstattung trägt und jederzeit „chamäleonisieren“ kann („Die kleine Dame spannt ihren Schirm auf und schwups ist es passiert. Steht sie vor ihrem blau geblümten Ohrensessel, ist die kleine Dame vom Schirm bis zur Sohle blau geblümt. Macht sie einen flotten Spaziergang an roten Klinkerhäusern vorbei, tanzen rote Ziegel auf ihrem Kostüm“). Das Figurenensemble wird ergänzt um einen missmutigen Hausmeister namens Herr Leberwurst, der sich absolut kinderunfreundlich verhält („Aber Herr Leberwurst spuckte nur auf seinen Putzlappen und polierte das Schild, das er im Torweg aufgehängt hatte. Darauf stand: Kinder verboten!“).

 

Lilly begegnet der kleinen Dame beim Spielen und der erste Kontakt verläuft amüsant. Die kleine Dame spricht „Rückwärtzisch“. Der Text enthält nicht nur viel Wortwitz (z.B. in Form von lustigen Versprechern), der Humor ist zudem feinsinnig (nicht plump) und kindgerecht. Und die kleine Dame ist ein äußerst charmantes Wesen mit einem interessanten Haustier: einem Chamäleon („Chaka ist über tausend Jahre alt. Meine Ururgroßmutter hat ihm vor vielen Jahren das Leben gerettet und zum Dank dafür ist er bei ihr geblieben“).

 

Als Lilly ihren Eltern von der Begegnung mit der kleinen Dame erzählt, halten sie die Erzählung Lillys für blühende Fantasie. Nur ihre Schwester Karlchen zweifelt nicht an ihren Worten. Im weiteren Handlungsverlauf geht es im Wesentlich darum, wie Lilly und die kleine Dame Freundschaft schließen und Lilly ihre Welt erkundet. Und die Lebenswelt von der kleinen Dame wird durch den Ordnungssinn des Hausmeisters bedroht. Können Lilly und die kleine Dame sich behaupten und Herrn Leberwurst überlisten?

 

Was das Buch in meinen Augen ausmacht, ist der humorige Erzählton und die liebreizende Figur der kleinen Dame. Sie entfaltet unheimlich viel „Zugkraft“ und löst Faszination bei den jungen Zuhörer:innen aus. Und auch mit Herrn Leberwurst hat die Autorin einen einprägsamen Bösewicht erschaffen, die Aufmerksamkeit und Neugier erregt. Kurzum: Ein gelungenes Kinderbuch, mit dem man schöne Vorlesestunden erleben kann.


Dienstag, 12. September 2023

Schirach, Ferdinand von - Verbrechen






True-Crime-Kurzgeschichten

 

„Die meisten Dinge sind kompliziert, und mit der Schuld ist es so eine Sache“ (vgl. Vorwort, S. 7)

 

In mehr als 700 Verfahren hat der Autor Ferdinand von Schirach Klienten verteidigt. In seinem Debut-Erzählband „Verbrechen“ (2009 erschienen) berichtet er in Form von „True-Crime-Kurzgeschichten“ von Fällen, die sich tatsächlich zugetragen haben. Sein Erzählstil ist sachlich, knapp, präzise und klar, mit professioneller Distanz zum Geschehen, fokussiert aufs Wesentliche. Zudem pointiert und kompakt. Das Werk liest sich sehr flüssig und eingängig. Das hat mir gut gefallen.

 

In den Verbrechen, die er schildert, geht es immer auch um die komplexe Frage der Schuld, die sehr differenziert in den Blick genommen wird. Von Schirach legt Wert darauf, die Hintergründe einer Tat zu beleuchten. Es schwingt stets die Frage mit, wie es soweit kommen konnte, was der Grund für das Vergehen war. Der Autor betreibt Ursachenforschung, es geht ihm aber nicht darum, die Taten zu rechtfertigen. Von Schirach bleibt neutraler, distanziert-nüchterner Beobachter, der den Blick auf das Geschehen erweitert.

 

Im ersten Fall geht es beispielsweise um einen hochbetagten Arzt, der seine eigene Frau mit der Axt umgebracht hat, nachdem er jahrelang unter ihrem strengen Regime gelitten hat. Bei einem anderen Fall geht es um das Thema Sterbehilfe. Eine Schwester bringt ihren Bruder um, nachdem er nach einem Motorradunglück seine geistigen Fähigkeiten einbüßt. Sie wird wegen Mordes angeklagt. Noch ein Delikt: Eine Frau prostituiert sich aus Liebe für ihren kriminellen Partner, um dessen Schulden aus Drogengeschäften zu begleichen. Sie erzählt ihm davon natürlich nichts. Als er davon erfährt, bringt er sie um und will das Verbrechen ihrem Freier anhängen. Tragisch: Er wusste nicht, dass sie ihn aus Liebe hintergangen hat. Auch einige psychische Störungen werden thematisiert (z.B. ein Mandant mit Kannibalismus-Fantasien).

 

Die verschiedenen Fälle sind durchweg außergewöhnlich und interessant. Allerdings auch äußerst tragisch und dramatisch. Ich konnte nie mehr als zwei bis drei Kurzgeschichten am Stück lesen. Der Inhalt „hallte“ zu sehr nach, das Erzählte ging oft nahe, machte betroffen. Darauf muss man sich einstellen, wenn man dieses Buch liest. Keine einfache Lektüre! Besonders die letzte Geschichte fand ich beklemmend: Die Lebensgeschichte eines Bankräubers, der nach Äthiopien ausgewandert ist, um dort ein zweites Leben zu beginnen. Zurück in Deutschland wird er dann verurteilt und inhaftiert.

Sonntag, 10. September 2023

Meier, Dominik A. - Das Genesis-Signal






Reset der Menschheit


Was wäre, wenn die Menschheit sich selbst auslöschte? Und was wäre, wenn für diesen Fall eine Art „Backup“ existieren würde? Um dieses Szenario geht es in dem Roman „Das Genesis-Signal“. Nach 2000 Jahren wird die Crew der Genesis aus dem Kälteschlaf aufgeweckt und findet auf der Erde kein Leben mehr vor. Stattdessen sind große Teile des Planeten radioaktiv verseucht. Scheinbar hat sich die Menschheit selbst durch einen nuklearen Krieg ausgelöscht. Und nun will die 900 Mann starke Besatzung der Raumstation mit ihrem Projekt beginnen: der Neubesiedlung des Planeten und dem Start von Terraforming-Aktivitäten.

 

Der Einstieg ins Buch ist außerordentlich packend. Ich war positiv überrascht von Dominik A. Meiers Talent, Spannung zu erzeugen. Ich hatte viele Fragen im Kopf, als ich die ersten Seiten las: Was ist auf der Erde genau passiert? Warum wurden die Besatzungsmitglieder nach 2000 Jahren aufgeweckt? Gab es eine Fehlfunktion? Und was hat es mit einem geheimnisvollen Crewmitglied auf sich, das bereits drei Jahre zuvor schon einmal aus dem Kälteschlaft erwacht ist? Das Spannungslevel ist hoch, Neugier wird geweckt. Ich wollte mehr zur Genesis-Station, zur Mission und zu dem, was auf der Erde passiert ist, wissen. Klasse!

 

Auf der Erde angekommen macht sich ein Team daran, die Neubesiedlung der Erde zu beginnen. Es muss sich gegen radioaktive Strahlung schützen. Zeitgleich wird entdeckt, dass die Atmosphäre des Planeten schwer (womöglich irreversibel?) beschädigt ist. Eine atmosphärische Katastrophe steht bevor. Das permanente Bedrohungsszenario steigert die Dramatik der Handlung zusätzlich. Auf der Erde muss ein atomares Inferno unvorstellbaren Ausmaßes stattgefunden haben. Packend! Im Zuge des Missionsbeginns wird außerdem ein ungewöhnliches Signal entdeckt. Was hat es mit diesem Signal auf sich? Wo kommt es her? Wer sendet es? Gibt es womöglich Überlebende? Wird das Genesis-Projekt erfolgreich sein? Was lassen die Überlebenden sich einfallen, um sich selbst und/ oder die Erde zu retten? Das sind die Fragen, die die Handlung weiter vorantreiben. Und die vielen spannungserregenden Impulse und Handlungsraffungen (in Form von Zeitsprüngen) sind gut gesetzt und erzeugen permanent Neugier beim Lesen. Sehr gelungen!

 

Der Autor versteht es auch, den Leser:innen wichtige Informationen vorzuenthalten, so dass man immer weiterliest, um ein Gesamtbild der Situation zu erhalten. Das ist schon geschickt arrangiert. Kurzum: Dominik A. Meier ist für mich eine bereichernde Neuentdeckung. Ich möchte noch mehr von ihm lesen. Das einzige, was ich schade fand: Das letzte Drittel des Romans hat auf mich nicht mehr so große Faszination ausgeübt und mich mitgerissen. Ich hatte eine andere Erwartungshaltung, was den Fortgang der Handlung betrifft. Zwei Drittel des Buchs waren sehr gut, das letzte Drittel dann leider anders als gedacht. Ich hätte mir auch noch mehr Einblicke in die Vergangenheit der Erde gewünscht. Hinzu kommen kleinere logische Ungereimtheiten, die mich aber nicht gestört haben.


Donnerstag, 7. September 2023

Rockwell, Ryan - Kallistos Erbe






Zu wenig „science“


Romane mit einem „Near-Future-Setting“ üben auf mich stets eine große Faszination aus. Die Frage, wie die Welt in einigen Jahrzehnten oder Jahrhunderten aussehen könnte, finde ich sehr reizvoll. Und einige Autoren, die sich solchen Themen widmen, konnte ich bereits ausfindig machen: Andy Weir, Phillip P. Peterson, Brandon Q Morris, Andreas Eschbach, Tom Hillenbrand und Andreas Brandhorst (vgl. dazu zahlreiche frühere Rezensionen). Nun bin ich auf das Werk „Kallistos Erbe“ von Ryan Rockwell aufmerksam geworden, das für den Seraph 2023 nominiert worden ist. Es wird als „Hard Science Fiction“ beworben. Grund genug, mir den Roman einmal genauer anzuschauen.

 

Und der Beginn ist vielversprechend. Wir begleiten Carl Harding auf seinem Weg zum Jupitermond Kallisto, auf dem die äußerste menschliche Kolonie existiert. Er wacht aus dem Kälteschlaf auf und muss sich erst einmal orientieren. Die Ankunft verläuft alles andere als einfach. Auf dem Raumschiff, auf dem er sich befindet, gibt es direkt eine Schießerei mit Rebellen. Ein aufständischer Terrorist wird erschossen. Soziale Unterschiede zwischen den Kolonisten werden bereits angedeutet. Und Harding offenbart uns als Leser:innen, dass er nicht nur ein neues Leben auf Kallisto beginnen, sondern auch den Tod seiner Schwester Ada aufklären möchte, die angeblich einen Selbstmord begangen hat. Carl zieht die Todesursache in Zweifel und will wissen, warum und wie Ada gestorben ist. Für seine Mission hat er eine neue Identität angenommen und seine Vitalwerte manipuliert. Auf dem Mond angekommen, macht er sich mit seiner neuen Lebens- und Arbeitswelt vertraut und beginnt mit der Ermittlung. Die Handlung entwickelt sich also in Richtung eines futuristischen Kriminalromans. Das hat mich etwas überrascht. Für mich ging dadurch der anfängliche Zauber etwas verloren.

 

Was mir aber sehr gut gefallen hat: Der Autor nimmt sich viel Zeit, um die Kolonie auf Kallisto zu beschreiben. In meinen Augen eine Stärke des Buchs. Es entsteht eine realistische, anschauliche Atmosphäre, Bilder vor dem inneren Auge entstehen. Man kann sich das Leben auf Kallisto gut vorstellen. Problem: Das Buch hat mich mit zunehmendem Handlungsverlauf immer mehr verloren. Es war mir zu wenig „science“, zu viel „Kriminalistik“ und am Ende viel zu viel „military“. Es gab auch zu wenig spannungserregende Impulse, die mich gefesselt und mitgerissen hätten. Für mich ein durchschnittliches Buch, ein sehr guter Anfang, ein langatmiger Mittelteil und ein zu actiongeladenes, mittelmäßiges Ende mit zu viel Schusswechselszenen. Ich werde diese Reihe nicht weiter verfolgen. Es gibt noch zwei weitere Bände (Kallistos Bestimmung und Kallistos Wiedergeburt).


Robotham, Michael - Wenn du mir gehörst






Häusliche Gewalt und Polizeigewalt


Endlich mal wieder ein Thriller, der mich richtig gepackt hat, und zwar von Anfang bis Ende! Michael Robotham legt mit „Wenn du mir gehörst“ ein fesselndes Werk vor, das sich den Themen „häusliche Gewalt“, „toxische Partnerschaftsbeziehungen“ und „Polizeigewalt“ widmet. Herausgekommen ist eine spannende Mixtur, die mich komplett überzeugt hat, so viel kann ich bereits einleitend verraten. (Robotham hat übrigens mit der Reihe um Cyrus Haven und Evie Cormac reizvolle Figuren erschaffen, die ebenfalls eine außergewöhnliche Zugkraft entfalten, vgl. dazu frühere Rezensionen).

 

Worum geht es? Die Polizistin Phil(omena) wird zu einem Einsatzort gerufen und dort mit einem Fall häuslicher Gewalt konfrontiert. Sie bringt die Geschädigte (Tempe) ins Krankenhaus. Aus Angst vor dem Täter, der ebenfalls Polizist ist, verweigert Tempe jedoch zunächst jegliche Zusammenarbeit. Sie will keine Aussagen, machen, keine Anzeige erstatten und lehnt Hilfsangebote ab. Sie erklärt sich lediglich dazu bereit, für eine Nacht im Frauenhaus unterzukommen. Phil begleitet sie dorthin. Zurück in der Polizeidienststelle erfährt Phil, dass wegen eines Dienstvergehens gegen sie ermittelt wird. Der Täter hat sich über sie beschwert und ihr Vorgehen gegenüber ihm in Zweifel gezogen. Er stellt den Sachverhalt völlig anders dar. Und ein Kollege von Phil rät ihr, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Doch Phil recherchiert auf eigene Faust weiter. Und der Fall wird immer brisanter. Phil hat es mit einem mächtigen Gegner zu tun. Und auch Tempe spielt nicht mit offenen Karten. Sie verhält sich zunehmend eigenartig… Ein absolut furioser Einstieg, wie ich finde. Die Themen „häusliche Gewalt“ und „Polizeigewalt“ werden geschickt miteinander verquickt. Spannend!

 

Der Spannungsbogen bewegt sich nach meinem Empfinden durchgängig auf sehr hohem Niveau. Das Tempo ist zwar nicht sonderlich hoch, dafür ist die Handlung aber sehr ereignisreich. Der Autor versteht es, die Handlung stetig durch neue Impulse voranzutreiben. Überraschende Wendungen werden geschickt platziert. Die Figuren und die Beziehungen zwischen den Figuren sind durchdacht und mit Tiefe gestaltet worden (ein Aspekt, den ich bei anderen Thrillern oft bemängele). Phils Vater bringt noch zusätzliche Würze ins Geschehen: Er ist ein Mafiosi. Wird er seiner Tochter helfen?

Und man leidet mit Philomena mit und entwickelt Wut auf die Ungerechtigkeiten, die sie durchlebt. Sie erlebt Mobbing und Schikanen in ihrem beruflichen Umfeld, weil sie die Sache nicht auf sich beruhen lässt und gegen einen hochrangigen Polizisten schwere Vorwürfe erhebt. Sie manövriert sich immer mehr in eine Außenseiterposition und muss sogar befürchten, dass ihr etwas angehängt wird. Ihr Kampf für Gerechtigkeit setzt ihr zu. Sie muss aufpassen, dass sie nicht aus dem Polizeidienst entlassen wird. Ihr Gegner weiß genau, wie er sich verhalten muss, um andere einzuschüchtern. Er betreibt Täter-Opfer-Umkehr. Die Gesetzeslage weiß er geschickt für sich auszunutzen. Man kann sich gut in die Situation der Geschädigten hineinversetzen: Wenn ihr Wort gegen das eines Polizisten steht, wem wird man glauben?

 

Was den Blick der Leser auf die Sachlage erschwert: Im weiteren Handlungsverlauf beginnt man auch an Tempes Glaubwürdigkeit zu zweifeln. Sie scheint eine pathologische Lügnerin zu sein. Auch hat sie eine dramatische Vorgeschichte, die ans Licht kommt. Kann man ihr noch vertrauen? Geschickt werden die Erwartungshaltungen der Leser immer wieder durchbrochen und der Blick auf den Fall verändert sich durch neue Informationen immer wieder. Das ist meisterhaft arrangiert! Und im letzten Drittel zieht die Spannung noch einmal spürbar an. Klasse! Und was mir noch gefallen hat: Die Auflösung am Ende ist durchdacht und lässt keine Wünsche offen. Genial!


Sonntag, 3. September 2023

Pollatschek, Nele - Kleine Probleme




5 von 5 Sternen



Es ist nie zu spät…


Wer kennt es nicht, das Gefühl der Prokrastination? Dinge, die man sich vornimmt, werden auf Morgen verschoben und so lange hinausgezögert, dass man kaum mehr zu ihnen kommt. Auch der Protagonist Lars erlebt in dem von Nele Pollatschek verfassten Roman „Kleine Probleme“ ein solches Gefühl. Das Gefühl, noch Dinge erledigen zu müssen, die er bisher nicht geschafft hat: „(…) ich muss verdammt nochmal endlich den Müll runterbringen, ich muss noch herausfinden, warum mein Knie seit einigen Jahren so komisch klackert und ob der Schmerz in der Brust vielleicht doch nur Angina ist, ich muss den Kindern noch ein Erbe erarbeiten, die Regenrinne muss ich noch vom Vorjahresherbst befreien, die Bester-Papa-der-Welt-Tasse muss ich noch verdienen, ich muss noch mein Lebenswerk verfassen“ (S. 15). Er macht sich also daran, eine Liste mit Aufgaben zu erstellen, die er auf dem letzten Drücker noch abarbeiten möchte. Und diese Liste bildet den roten Faden des Werks.

 

Bei Lars geht es noch über das gewöhnliche Aufschieben von zu erledigenden Dingen hinaus. Er fühlt sich unzulänglich und stellt fest, dass er sich selbst gesteckte Ziele noch nicht erreicht hat. Und das belastet ihn und beschäftigt ihn gedanklich. Ein Gefühl von Unvollkommenheit stellt sich bei ihm ein. Ein schlechtes Gewissen und Selbstmitleid sind die Folge („Wie beschissen ist es bitte, wenn einem alle Türe offenstehen und man trotzdem stehen bleibt. Wenn man keinen Grund dafür hat, so zu sein, aber man ist halt trotzdem so? Wenn alles einfach ist und einfach ist viel zu schwer“, S. 20).

 

Nicht zuletzt der alltägliche „mental load“ wird Ursache dafür sein, dass sich bei Lars dieses Gefühl einstellt (leider etwa auch Männer darunter?): „Bedingungslose Liebe ist einfach, Zahnarzttermine sind schwer. Das Rezept für die Brille und diese komischen Einaugenpflaster abzuholen ist schwer. Die Antibiotika gegen die Mittelohrentzündung wirklich jeden verdammten Morgen zu geben. Die Wäsche nicht in der Maschine vergammeln zu lassen, donnerstags an den Turnbeutel zu denken, sich daran zu erinnern, dass doch dieses Halbjahr Schwimmunterricht ist, das Kind zum Reiten zu fahren und es um Gottes willen danach wieder abzuholen, das Kind nicht immer irgendwo stehen zu lassen, nicht immer irgendwas zu vergessen, das alles zu kontrollieren, als wäre man Familienvater und nicht nur irgendein Komparse, der sich in diese Rolle verirrt hat und jetzt so tun muss, als wäre sie für ihn geschrieben“ (S. 41). 

 

Was diesen Roman in meinen Augen ausmacht, ist vor allem die sprachliche Gestaltung. Der Stil erinnerte mich oft an Texte von Poetry-Slams: Lange, kunstvoll arrangierte Satzkonstruktionen, klug ineinander verschachtelt, und viele Wortwiederaufnahmen. Eine kreative Sprache, punktuell auch einmal mit amüsanten Wortneuschöpfungen und kursiv eingeschobener wörtlicher Rede („es ist zum Heulen oder zum Fluchen, Fluchen ist Heulen mit Sprache. So oder so ähnlich fluchte ich, weil ich immer so fluche, wenn ich etwas aufbauen muss, Johanna sagt dann ach Walter Benjamine doch nicht wieder so rum, und ich sage ich dachte, du Marxt das?, und manchmal sagt sie dann ich mag dich, mein Engels oder freier deutscher Lars, bau auf, und manchmal lehnt sie sich an mich, sodass ihre Haare mich ganz leicht am Hals kitzeln, und dann haucht sie J’Adorno.“, S. 33).

 

Auffällig sind auch Parallelismen und Parenthesen: „Menschen können sich eben nicht grenzenlos konzentrieren, Menschen sind eben nicht immer achtsam, Menschen können sich nicht alles merken. Ziffern zum Beispiel können sich Menschen überhaupt nicht gut merken“ (S. 35); „In der Küche müsste man dann aufräumen, im Wohnzimmer müsste man aufräumen, im Wohnzimmer müsste man aufräumen, oben im Arbeitszimmer unterm Dach, wo man eigentlich ein Lebenswerk verfassen will, müsste man ganz ordentlich aufräumen, im Schlafzimmer, was mal ein gemeinsames Schlafzimmer war, aber schon lange kein gemeinsames Schlafzimmer mehr ist, muss man bestimmt mal so richtig aufräumen, und eh man es sich versieht, sieht man, wenn man jetzt tatsächlich hinsähe, dann müsste man das ganze Leben aufräumen“ (S. 52).

 

Kurzum: Die Syntax ist abwechslungsreich, spielerisch und originell. Wer so etwas mag, der wird sehr viele Passagen mit Genuss lesen. Ich glaube, dass der Text vor allem bei Lesungen eine tolle Wirkung entfaltet. Man findet viele stilistische Mittel, die man vom Poetry-Slam kennt. Ich könnte in dieser Rezension so viele Stellen zitieren, die klug, weise und kunstvoll gestaltet worden sind, das würde den Rahmen sprengen. Die vielen angeführten Zitate sollten aber meiner Meinung nach ein erstes exemplarisches Bild vom Erzählstil und von der Sprachgestaltung vermitteln. Häufig handelt es sich um einen aufzählend-reihenden Stil, der sehr rhythmisch daherkommt.

 

Doch bei all der Satzakrobatik sollte der Inhalt nicht zu kurz kommen. Nach meinem Eindruck werden viele Themen lose-assoziativ miteinander verkettet, das macht sich vor allem im Mittelteil des Buchs bemerkbar. Das mag der ein- oder andere Leser als anstrengend empfinden. Stellenweise besteht die Gefahr, dass die vielen künstlerisch durchgeformten Sätze vom Inhalt ablenken. Nicht immer ist es einfach, die Konstruktionen gedanklich zu durchdringen und inhaltlich aufzunehmen. Konzentration ist gefordert, das sollte man mögen! Man wird mit diesem Buch in meinen Augen eher intellektuell als emotional angesprochen. Ich könnte mir aber auch gut vorstellen, dass die chaotisch-sprunghafte, „bewusstseinsstromartige“ Gestaltung des Inhalts, die man punktuell findet, das gedankliche Chaos von Lars widerspiegeln soll. Es gibt beispielsweise. Textstellen, in denen Lars beginnt, von sich selbst in der dritten Person zu sprechen. Und begleitend dazu werden noch Dialogfetzen versatzstückartig als Erinnerungsanker in die Darstellung integriert.

 

Was an vielen Stellen durchscheint und mich gut unterhalten hat: Ein launiger, amüsanter Erzählton. Der Aufbau eines Betts durch den Ich-Erzähler sowie das Ausfüllen der Steuererklärung werden z.B. herrlich humorvoll dargestellt („Und dann ist da wieder ein Beleg, von dem man nicht weiß, was man damit anfangen soll, und das ist dann ein Beleg zu viel. Man fängt an zu suchen, nach der Rechnung, nach dem Postidentverfahren, nach dem notwendigen Zertifikat, nach irgendwas Bürokratischem, das man einfach nicht versteht, und man will Johanna fragen, und sie ist nicht da, überhaupt nicht da, und dann weiß man auch nicht weiter, und dann sieht man die Umschläge und dann den Bildschirm und die E-Mails, all die E-Mails, den Spam und die Erinnerungen und die Mahnungen und die Erinnerungen an Mahnungen, den Berg, den ganzen Berg, den ganzen beschissenen Berg. Und das ist dann zu viel. Das ist einfach zu viel“, S. 110). Die Reinigung einer Regenrinne wird zu einem halsbrecherischen Abenteuer. Und auch die Darstellung des wortkargen Telefonats von Lars mit seinem Vater sowie die Improvisation eines Nudelsalats unter Zeitdruck fand ich sehr unterhaltsam („Ich weiß nicht, wie viele Nudeln einen Salat machen, oder wie viele Nudeln man aus einem Salat entfernen kann, bis er aufhört, ein Salat zu sein, aber eines weiß ich ganz sicher: Vier Nudeln sind kein Salat“, S. 170).

 

Nele Pollatschek beweist an vielen Stellen ein ungeheures Talent für die (amüsante) Beschreibung treffender Alltagsbeobachtungen, für Situationen, die wohl jeder Leser/ jede Leserin kennt. Der Text ist originell, lebensklug und einfallsreich, in sprachlicher sowie in inhaltlicher Hinsicht. Von mir gibt es dafür 5 Sterne!

Samstag, 2. September 2023

Zeh, Juli und Simon Urban - Zwischen Welten




5 von 5 Sternen



Erstens kommt es anders, und zweitens…

 

Der Roman „Zwischen Welten“ von Juli Zeh und Simon Urban stand über 30 Wochen in der Spiegel-Bestsellerliste (Stand: 08/23) und wurde mir noch dazu zur Lektüre empfohlen. Grund genug, mir das Werk einmal genauer anzuschauen. Und so viel vorweg: Es ist ein interessantes Beziehungsverhältnis zwischen den Protagonisten Stefan und Theresa, das die beiden Autoren entworfen haben. Ein Verhältnis, bei dem beide Charaktere in schwierigen Lebensphasen stecken und sich gegenseitig offenherzig und schonungslos die Meinung über die Lebenswelt des jeweils anderen mitteilen (in diesem Zusammenhang wird auch viel über gesellschaftspolitische Themen gestritten). Stefan und Theresa sind dabei auch hart im Umgang miteinander, echte Freunde eben, die sich schon seit ihrer gemeinsamen WG-Zeit aus Studienzeiten kennen. Sie schenken sich nichts, es geht hoch her, die Emotionen kochen des Öfteren hoch, die Nerven liegen blank. Und die Schilderung der Entwicklung ihrer Beziehung zueinander ist das, was den Roman in meinen Augen ausmacht. Ein tolles Buch, das ich nicht aus der Hand legen konnte und das in der geschickt gestalteten Figurenrede sicherlich auch den aktuellen Zeitgeist oft treffend wiedergibt.

 

Nachdem Stefan und Theresa längere Zeit nichts voneinander gehört haben, treten sie wieder in schriftlichen Kontakt. Sie kennen sich noch aus dem Studium, doch ihre Lebensläufe haben völlig unterschiedliche Richtungen genommen. In regelmäßigen E-Mails und Whats-App-Nachrichten gewähren beide dem jeweils anderen einen Einblick in ihre aktuelle Lebenssituation. Stefan (ledig, Single, keine Kinder) ist Kulturchef bei einer Zeitung namens „BOTE“ und berichtet seiner ehemaligen Kommilitonin von den Streitigkeiten bei Redaktionssitzungen. Theresa (verheiratet, zwei Kinder) gehört ein Bauernhof, den sie nach dem Tod ihres Vaters übernommen hat. Sie hat ihr Germanistik-Studium aus diesem Grund abgebrochen.

 

Die Lebenswelten beider Figuren könnten unterschiedlicher nicht sein. Und die Urteile übereinander fallen harsch aus. Vor allem die Whats-App-Nachrichten haben oft einen konfrontativ-aggressiven Grundton. Für Theresa ist Stefan ein Großstadt-Intellektueller, der keine Ahnung vom wahren Leben hat und in einem Elfenbeinturm existiert. Des Öfteren bemüht sie sich darum, ihn auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen und berichtet von ihrem harten Alltag als Landwirtin. Stefan beschreibt Theresa seinerseits am Beispiel der Arbeit im Redaktionsteam die aufgeheizte Atmosphäre bei seinem Arbeitgeber. Doch Theresa nimmt Stefan und seine Probleme nicht richtig ernst. Sie amüsiert sich über sein Theoretisieren. Sie ist eine Frau der Praxis, steht mit beiden Beinen im Leben und hat täglich praxisnahe Alltagsprobleme zu lösen, die der Beruf eines Landwirts mit sich bringt. Ihre Lebenswelt ist nicht so „verkopft“ wie die von Stefan. Sie packt an, sie leistet und findet kaum Zeit, sich hochtrabende Gedanken zu machen. Sie ist eine Kämpferin. Trotz finanzieller Schwierigkeiten und am Rande der Existenz gibt sie nicht auf und hält den Betrieb am Laufen. Wenn Mitarbeiter gesundheitlich ausfallen, fängt sie deren Arbeit zusätzlich mit auf. Sie setzt sich unermüdlich für Verbesserungen ein und fühlt sich von der Politik allein gelassen.

 

Im Laufe des E-Mails Kontakts kommen sich Stefan und Theresa mal näher, mal distanzieren sie sich wieder voneinander. Zwischenzeitlich blitzen auch immer einmal wieder Gefühle auf, die Stefan für Theresa hat. Stefan hadert mit der gemeinsamen Vergangenheit. Er versteht z.B. nicht, warum seine ehemalige WG-Mitbewohnerin wortlos verschwunden ist, um den Hof zu übernehmen, und ihn nicht um Hilfe gebeten hat. Und was auch immer wieder während des Schriftverkehrs deutlich wird: Beide streiten über gesellschaftspolitisch relevante Themen und äußern dabei unterschiedliche Ansichten. So diskutieren sie z.B. über das Gendern. Und oft debattieren Theresa und Stefan leidenschaftlich, so dass die Fetzen fliegen. Theresa erscheint dabei häufig als die Pragmatikerin, Stefan hingegen ist der Analytiker. Sie – bodenständig in der Praxis. Er – intellektuell am Schreibtisch. Theresas Vorwurf: Stefan lebe in einer Blase, die mit der Realität wenig zu tun habe. Er kümmere sich zu sehr um die Lösung von Problemen auf Meta-Ebene und zu wenig um konkret greifbare Schwierigkeiten. Weitere Themen, die sie äußerst emotional erörtern: Klimaschutz, Ukraine-Krieg, struktureller Rassismus (das Verständnis für die Relevanz dieses Themas hält sich bei Theresa in Grenzen), kulturelle Aneignung, Ost-West-Problematik etc.

 

Auf mich wirkte Theresa kompetent, wenn sie sich äußert. Die Abläufe des landwirtschaftlichen Betriebs werden sehr detailliert und kenntnisreich von ihr dargelegt. Sie hadert viel mit den politischen Zuständen und hat viele konkrete Ideen, wie sich die Situation der Landwirtschaft im Land verbessern ließe. Stefan seinerseits gewährt Einblicke in den journalistischen Alltag. So schildert er z.B. den Entstehungsprozess einer Sonderausgabe zum Thema „Klimaschutz“, bei der auch das Know-how von Aktivisten eingebunden werden soll, die sich dreist und anmaßend verhalten. Ein weiteres Thema, das zum Ausdruck kommt: Das Beziehungsleben beider Figuren. Dabei wird deutlich, dass Stefan wenig Ahnung von Familienleben hat. Theresa ihrerseits schildert, wie sie sich zunehmend von ihrem Mann Basti entfremdet, weil die Arbeit zu viel Raum einnimmt. Sie schafft es nicht einmal, in den Urlaub zu fahren, ohne ein schlechtes Gewissen ihrem Betrieb gegenüber zu haben.

 

Die Entwicklung des Privatlebens beider Figuren ist so angelegt, dass Krise auf Krise folgt. Wenn man denkt, es geht nicht schlimmer, ereignet sich bereits das nächste Dilemma. So muss sich Stefans Chef z.B. nach einer unbedachten Äußerung gegen einen „shit-storm“ wehren. Hier wird die Schattenseite der sozialen Medien gut und treffend in den Blick genommen, wie ich finde. Es zeigt sich, wie der Chefredakteur durch eine Hetzkampagne zu Fall gebracht wird und wie seine ganze Familie darunter leidet. In diesem Zusammenhang werden im Roman auch interessante Fragen aufgegriffen, die die journalistische Arbeit betreffen: Wie sehr darf und muss man sich als Journalist:in positionieren? Wie viel Haltung ist beim Schreiben nötig? Wie sehr überlässt der Journalist bzw. die Journalistin die Meinungsbildung noch den Leser:innen? Oder sind Journalist:innen selbst Meinungsmacher und geben Meinungen vor, die man als Leser:in einzunehmen hat? Wie neutral muss Berichterstattung sein? Und kann sie überhaupt neutral sein? Und auch die Rolle von Aktivist:innen mit vielen Followern wird problematisiert. Wie kann es z.B. sein, dass Influencer mehr Gehör finden und Aufregung stiften als gestandene Journalist:innen?

 

Im weiteren Handlungsverlauf nimmt die Politikverdrossenheit von Theresa immer mehr zu. Sie nimmt zunehmend radikalere Positionen ein, was ihre Verzweiflung deutlich werden lässt. Sie fühlt sich von der Politik im Stich gelassen, beklagt bürokratischen Irrsinn, fühlt sich machtlos, ohnmächtig. Sie wird immer mehr zu einer Wutbürgerin. In meinen Augen wird sehr deutlich, dass Theresa ganz klar bei sich ist. Sie weiß, wer sie ist, was sie will. Sie muss sich nicht finden. Sie hat ein ganz klares Ziel vor Augen, das sie zu erreichen versucht (wirtschaftlich überleben). Sie weiß nur nicht, wie sie das schafft. Stefan hingegen ist wankelmütig. Er ist in einer Art Selbstfindungsphase und muss für sich noch herausfinden, wie er seine journalistische Arbeit in Zukunft ausrichtet. Was beide Figuren eint: Sie machen eine schwierige Lebensphase durch. Das geteilte Leid schweißt sie zusammen. Doch es gibt auch klare Unterschiede: Theresas Abwärtsspirale hält an und lässt sich nicht aufhalten, die Katastrophen nehmen kein Ende. Es geht permanent bergab. Stefans Krisen hingegen sind nie von Dauer, er muss „nur“ Unruhephasen überstehen, sein beruflicher Erfolg ist (langfristig betrachtet) nie in Gefahr. Stefan ist auch viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, er geht nach meinem Dafürhalten nicht angemessen auf die Sorgen von Theresa ein. Letztlich geht es ihm doch nur um seine Karriere. In Krisenmomenten ist er zwar nah bei Theresa, doch in erfolgreichen Momenten ist er weit von ihr weg. Am Ende des Buchs könnte die Distanz zwischen beiden Figuren nicht größer sein.

 

Das einzige, was mich während der Lektüre des Buchs gewundert hat: Woher nehmen beide Figuren die Kraft, sich solch langen E-Mails zu schreiben, wenn sie doch so wenig Zeit haben, ihren Alltag zu managen? Woher nehmen sie die Energie, so leidenschaftlich zu streiten und sich gegenseitig zu verletzen? Ein wenig hat mich das Buch an „Gut gegen Nordwind“ von Daniel Glattauer erinnert, nur dass hier nicht die Liebes-Thematik im Vordergrund steht, sondern die politische Thematik.