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Samstag, 30. März 2024

Peterson, Phillip P. - Transport 2. Todesflut


Atomkraft? Ja danke!


Von Phillip P. Peterson habe ich bis auf die Transport-Reihe alles gelesen. Zeit, auch diese Lücke langsam zu schließen. Den Anfang macht „Transport 2 – Todesflut“. Worum geht es? Ein Trupp von Wissenschaftlern und Soldaten befindet sich auf der anderen Seite des Transporters auf einem unbekannten Planeten. Sie sind dort gestrandet. Eine Rückkehr zur Erde ist nicht möglich, weil das Gerät dort zerstört worden ist. Zentrale Frage: Wie geht es mit den Kolonisten weiter? Wird es ihnen gelingen, wieder zur Erde zurückzukehren? Wie werden sie ihr weiteres Leben auf „New California“ bestreiten?

 

Man ist von Anfang an in der Handlung drin, der Autor kommt sofort auf den Punkt und hält sich nicht lange mit Nebensächlichkeiten auf. Die Umwelt des neuen Heimatplaneten ist lebensfeindlich und bedrohlich. Es gibt wilde außerirdische Tiere, die den Kolonisten jederzeit gefährlich werden können und die mit Waffen nur schwer auszuschalten sind. Viel Raum nimmt die Schilderung des Lebens der Kolonisten ein, die mit allerlei Einschränkungen zu kämpfen haben. Geschickt wird ein Zeitsprung von 20 Jahren eingebaut, so dass das Lesepublikum nachvollziehen kann, was aus der von den Kolonisten errichteten Siedlung geworden ist und wie sie sich entwickelt hat.

 

Bei Russell, der tragenden Hauptfigur der Reihe, wird Krebs diagnostiziert. Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit. Wie geht es mit ihm weiter? Wie verbringt er seine letzten Wochen? Findet man vielleicht doch noch ein Heilmittel? Im weiteren Handlungsverlauf kommen weitere spannungserregende Impulse hinzu: Es müssen schwierige Entscheidungen getroffen werden, u.a. auch wie mit dem Transporter umgegangen werden soll. Zudem wird das Leben der Kolonie permanent durch Ressourcenknappheit bedroht. Wie kann das Überleben der Siedlung langfristig gesichert werden? Und der Autor versteht es auch, Unbehagen bei den Leserinnen und Lesern hervorzurufen. Etwas Bedrohliches scheint sich zusammenzubrauen, als am Horizont der Mond des Planeten auftaucht. Plötzlich taucht eine bisher unbekannte, sehr gefährliche Tierart auf. Der Inhalt entwickelt sich von diesem Zeitpunkt an immer mehr in Richtung eines Survival-Abenteuers. Die Kolonisten müssen um ihr Überleben kämpfen und sich etwas einfallen lassen, um ihre Siedlung zu retten. Assoziationen zu Alien kamen bei mir auf. Spannend!


Auch Petersons „Lieblingsspielzeug“ kommt wieder vor: Die Atombombe. Schon auf dem Cover ist der Atompilz sichtbar. Nicht ohne Grund… doch mehr verrate ich nicht. Nur so viel: Man lernt nebenbei auch noch ein paar interessante Hintergrundinformationen zu Atombomben kennen. Und es gibt einige Passagen zur Bombe, die man mit großem Unbehagen liest. So nah wie in diesem Buch bin ich noch nie an eine Atombombe und ihr Innenleben herangekommen. Packend! Der Autor dreht zum Ende hin auch wieder geschickt an der Spannungskurve, so dass eine Sogwirkung entsteht. Die Bedrohung nimmt immer größere Ausmaße an, immer wieder müssen Rückschläge überwunden werden. Die Situation scheint immer verfahrener und auswegloser. Sehr geschickt! Peterson hat es einfach drauf, Spannung zu erzeugen. Das muss man ihm lassen. Und das habe ich in vergangenen Rezensionen auch stets gelobt. Da kann ich auch darüber hinwegsehen, dass die Figurenzeichnung etwas dünn geraten ist. In späteren Werken beweist der Autor aber, dass er sich auch in diesem Bereich weiterentwickelt hat (vgl. „Nano“). Kurzum: Eine kurzweilige Unterhaltungslektüre für zwischendurch, die durch den Cliffhanger am Ende auch direkt Lust auf Teil 3 macht. 

Samstag, 23. März 2024

Fitzek, Sebastian - Mimik


Unrealistisch, überdreht und unglaubwürdig


Mit Sebastian Fitzeks Büchern, die ich kenne, bin ich bisher (leider) nie richtig warm geworden, und das, obwohl sie ausnahmslos und stets wochenlang in den Bestseller-Listen stehen. Misst man den Erfolg anhand der Bestseller-Liste, so ist er der erfolgreichste deutsche Autor (10 Bücher waren über 180 Wochen darin vertreten, vgl. dazu www.24books.de). Doch dessen ungeachtet: Das Debut „Die Therapie“ fand ich durchschnittlich, „der Heimweg“ war eine Katastrophe und „Elternabend“ habe ich nach 40 Seiten abgebrochen (vgl. dazu frühere Rezensionen). Mit „Mimik“ wollte ich Fitzek nun noch einmal eine Chance geben. Vielleicht liegt es ja an mir, dass ich den Büchern bisher nichts abgewinnen konnte.

 

Worum geht es: Hannah Herbst, Expertin für Mikoexpression, wurde nach einer Operation aus dem Krankenhaus entführt und befindet sich in der Gewalt eines psychopathischen Sadisten, genannt „Der Chirurg“. Dieser hat mit falschem Arzttitel Operationen an Menschen durchgeführt und sich daran ergötzt, diese aufzuschneiden. Die Protagonistin leidet unter Gedächtnisverlust und kann sich an nichts  erinnern. Sie weiß also nicht, warum sie überhaupt entführt wurde. Grund für die Amnesie ist die an ihr vorgenommene Anästhesie im Rahmen der OP. Der Chirurg behauptet, Hannah habe ein Verbrechen begangen und spielt ihr ein Geständnisvideo vor, in dem sie einen Mord zugibt. Stimmt das, was er sagt oder will er sie verwirren? Haben wir es mit einer Form von „Gaslightning“ zu tun, die der Entführer anwendet? Im weiteren Handlungsverlauf geht es darum, dieses Rätsel zu lösen und herauszufinden, was wirklich passiert ist. Was wird Hannah Herbst herausfinden?

 

Zunächst zum Positiven: Der Beginn ist in Ordnung, das Anmesie-Motiv erzeugt Neugier und was mir auch gut gefallen hat, ist das Stilmittel der sogenannten „Splitpages“, die Fitzek im Nachwort erwähnt. Sie erzeugen Dynamik und dienen dazu, parallele Handlungsstränge simultan abzubilden. Clevere Idee! Doch ansonsten hat mich der Thriller leider nicht überzeugt. Die typischen Fitzek-Elemente waren wieder deutlich spürbar: Vieles wirkt arg konstruiert nach dem Motto „was nicht passt, wird passend gemacht“ und unrealistisch, förmlich an den Haaren herbeigezogen. Hannah Herbst läuft z.B. im gesamten Werk mit einer Stichverletzung in der Milz herum, aber das macht ihr nicht viel aus (Was soll das bitte?). Schon der Einstieg ins Werk ist verworren, konfus und unübersichtlich, hat mich nicht überzeugt. Es ist mir auch bis zum Ende nicht klar geworden, wie einzelne Geschehnisse mit anderen zusammenhängen oder wie sie überhaupt motiviert sind (warum ist Hannah Herbst überhaupt vom Chirurg entführt worden??). Aber nun gut…Ich habe mich immer wieder dazu gezwungen, mich auf das Gelesene einzulassen und mich durch das Buch „durchzubeißen“. Vielleicht habe ich dabei auch etwas überlesen.

 

Was mir auch wieder negativ auffällt, ist Folgendes: Handlungselemente sind teilweise überdreht (Neudeutsch: „einiges ist einfach drüber“). Man findet bei Fitzek nicht einfach nur ein Opfer. Nein, man findet ein Opfer mit ausgerenktem Unterkiefer, das aufgrund eines Morphiumentzugs zu viel gegähnt hat. Und natürlich wird der Kieferknochen mit einem Handgriff beiläufig einfach mal eben schnell wieder eingerenkt, um mit dem Opfer im Anschluss reden zu können. Abgefahren! Ein weiterer Punkt: Die psychologisch-psychiatrische Seite erscheint mir unglaubwürdig (Mimiktests und begleitende MRT-Aufnahmen bei Kindern, um Psychopathen frühzeitig erkennen zu können?).

 

Ich mache weiter: Die Kompetenz von Hannah Herbst kam mir nicht genug zur Geltung. Es gab nur wenige Textstellen, in denen sie ihre Fähigkeit der Analyse von Mikroexpression einmal anwendet und ihr Gegenüber liest und durchschaut. Und die Schilderung davon bleibt dünn. Kein Vergleich zu Carlotta Weiss aus „Engelsmädchen“ von Max Bentow oder Evie Cormac aus der Cyrus-Haven-Reihe von Robotham. Stellenweise hatte ich das Gefühl, dass der Autor spontanen Eingebungen folgt, die er zu Papier bringt, wenn er die Handlung entwickelt. Auf mich wirkt nicht alles durchdacht und in sich konsistent, eher planlos und improvisiert. Es gibt inhaltliche Entwicklungen, die aus dem Nichts heraus entstehen und in keiner Weise frühzeitig angelegt worden sind. Letzter Aspekt: Die Figuren bleiben allesamt flach. Sie haben keine psychologische Tiefe. Deshalb kann ich nicht mitfiebern…

 

Kurzum: Es bleibt für mich dabei. Ich verstehe den Erfolg der Bücher von Sebastian Fitzek, die ich kenne, nicht und werde es wohl auch nicht verstehen. Natürlich soll jede:r lesen, was sie:er mag. Und Geschmäcker sind verschieden. Aber bei mir war es nun definitiv das letzte Mal, dass ich einen Fitzek lese. Wenn ich seine Bücher lese, raufe ich mir jedes Mal die Haare. Mir fällt es schwer, an seinen Zeilen haften zu bleiben. Das macht keinen Spaß, also lasse ich es. Ich greife lieber zu Thrillern anderer Autoren wie Arno Strobel, Henri Faber, Judith Merchant, Christian Piskulla, Michael Robotham, Max Bentow, Steve Cavanagh, Linus Geschke etc. (vgl. dazu meinen Blog).

Freitag, 22. März 2024

Schachinger, Tonio - Echtzeitalter


Schule als Freiheitsentzug


Ein Roman, in dem es um die Themen „Lernen, Lehren und Schule“ geht, noch dazu ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2023. Pflichtlektüre für mich, würde ich sagen. Handlungsort ist ein elitäres Wiener Internat. Und schon die Vorstellung dieser Bildungseinrichtung zu Beginn überzeugt und schreckt ab. Schein und Sein liegen weit auseinander. Das Marianum ist kein einladender Ort, an dem man gerne seine Jugendzeit verbringt. Ergänzt wird dieses negative Bild von Schule um einen ganz speziellen Lehrer, der nur wenig Sympathie erregt. Er wird stets beim Familiennamen genannt, erweitert um den bestimmten Artikel, der deutlich macht, dass dieser Lehrer jedem Lernenden am Marianum bekannt ist: Der Dolinar. Eine herrische und despotische Lehrkraft, der Disziplin über alles geht und die das Fehlverhalten seiner Lernenden v.a. mit Aufsatzschreiben sanktioniert. Bezeichnend ist bereits, nach welchen Regeln er seine Klassenlektüre auswählt: „Nichts aus dem zwanzigsten Jahrhundert, keine Übersetzungen und nichts, was nicht als Reclamheft erhältlich ist.“ (S. 17). Werke, die die Lebenswelt der Zöglinge abbilden oder sie gar amüsieren, sind ihm zuwider. Im Zentrum seines Unterrichts steht vor allem eines: Die Wissensvermittlung, und zwar in Form von Fakten, Fakten, Fakten.

 

Die Schülerinnen und Schüler werden durch die Klassenlektüren „gepeitscht“, ihr Wissen dazu wird in Form geschlossener Wissensabfragen abgeprüft (oft unangekündigt und überraschend). Und wer nichts angemessen reagiert, der wird fertig gemacht, gedemütigt und vorgeführt. Ständiger Druck, ständige Angst vor Sanktionen. Das ist die Lernatmosphäre am Marianum. Und der Dolinar gibt vor, was die Lerndenden zu denken haben. Neben dem Einblick in den Unterrichtsstil vom Dolinar erhalten wir einen Einblick in die vielen Unfreiheiten des Schulbetriebs. Die Lehrkräfte erscheinen allesamt als skurrile Exoten. Die Berufswege am elitären Internat sind vorgezeichnet und beschränken sich auf die folgenden drei Möglichkeiten: Jura, Medizin oder BWL. Und die meisten der Lernenden hinterfragen ihren vorherbestimmten Werdegang nicht.

 

Till ist einer der Schüler am Marianum. Er ist die zweite Hauptfigur, die wir durch sein Schulleben begleiten. Er hält sich lieber im Hintergrund und ist mathematikinteressiert. Schon aus diesem Grund ist er eine Ausnahme an dem eher sprachlich ausgerichteten Internat (zu den Pflichtfächern zählen drei Fremdsprachen und Latein). Für den Dolinar ist Till ein „Zahlenmensch“, kein „Kulturmensch“.. Schublade auf, Schüler rein, fertig. Das kennt wohl jeder Leser aus eigener Erfahrung. Und wir sehen, dass Till rastlos einer außerschulischen Leidenschaft nachgeht. Dem Spielen von Age of Empires 2. Darin ist er überdurschnittlich und beweist besondere Fähigkeiten. Er durchdringt das Spiel völlig. Ein schöner Kontrast, der hier deutlich wird. Die Schule als Ort der Unterdrückung auf der einen Seite, die Flucht in die virtuelle Realität auf der anderen Seite. Doch die Anerkennung des Lehrers bleibt Till versagt. Was Till außerschulisch zu leisten im Stande ist, das interessiert den Dolinar nicht…

 

Bei Age of Empires erlebt Till Erfolgserlebnisse, während er sich in der Schule gerade so über Wasser halten kann. Was mir auch gefiel: Der computerspielbasierte Sprachgebrauch kommt gut und authentisch zum Ausdruck. Es wird ein interessanter Einblick in diese jugendliche Lebenswelt von „Gaming“ und die dahinterliegende Spielkultur vermittelt, der die Erwachsenen nichts abgewinnen können. Das wird nur allzu deutlich, besonders am Beispiel der Mutter. Als Till ihr das Spiel demonstriert und ihr erklären will, worum es geht, versteht sie kein Wort und ist überfordert. Er ist der Experte, sie bleibt unverständiger Laie. Sie finden keine gemeinsame Sprache.

 

Nun zu den Punkten, die mir bei der Lektüre nicht so gut gefallen haben: Der Autor verlor sich nach meinem Geschmack oft in redundanten Nebenschauplätzen. Mitschüler:innen werden teils sehr ausführlich vorgestellt, stellenweise sind mir die Schilderungen des Schulalltags zu ausführlich, zu detailverliebt und nicht pointiert sowie zielführend genug (z.B. auch das Treiben im Rauchereck). Am besten gefallen hat mir das erste Drittel des Buchs, danach „zerfasert“ mir die Handlung zu sehr. Für mich war mit zunehmendem Handlungsverlauf keine klare Schwerpunktsetzung mehr erkennbar. Verschiedene Episoden aus dem Schulalltag werden recht zusammenhanglos aneinandergereiht, es gibt keinen Spannungsbogen o.ä.. Ich hätte mir gewünscht, dass das Thema „Gaming“ noch stärker in den Vordergrund gerückt wird (z.B. die Schilderung eines Turniers o.ä.).

 

Das Bild von Schule wirkte auf mich zudem aus der Zeit gefallen. Oder funktioniert Schule heute noch so, wie im Buch dargestellt? Ich denke, nicht. Das Schulleben, das Lernklima und die Atmosphäre am Marianum stellen einen Mikrokosmos dar, der für sich steht. Man kann daraus aber keine allgemeine Kritik am Schulsystem ableiten. Lediglich der Lehrertypus des Dolinar dürfte jedem Menschen bereits in der eigenen Schulbiographie begegnet sein (ich fühlte mich z.B. sehr stark an meinen früheren Lateinlehrer erinnert). Aber dennoch: Das Lernen und Lehren am Marianum kann in meinen Augen nicht exemplarisch für die Schulwirklichkeit an anderen Schulen stehen und ist nicht repräsentativ. Spannend hätte ich gefunden, wenn Schachinger nicht ein elitäres Internat als Handlungsort gewählt hätte.

Dienstag, 19. März 2024

Russ, Rebecca - Die Influencerin


Die Schattenseiten des Erfolgs


Der Prolog des Thrillers „Die Influencerin“ von Rebecca Russ (2024) reißt schon einmal direkt mit. Wir sind in der Gedankenwelt einer Userin, die obsessiv den Account einer Influencerin verfolgt, und das mit einer Hingabe, die weit über das normale Maß hinausgeht. Es wirkt beängstigend. So jemanden möchte man nicht als Followerin haben. Und im weiteren Handlungsverlauf zeigt sich, dass wir dieser Perspektive immer einmal wieder begegnen. Wir haben es mit einer Stalkerin zu tun, die sich von der Influencerin, der sie folgt, im Stich gelassen fühlt und sich dafür rächen möchte. Schritt für Schritt will sie deren Leben vernichten…

 

Nach dem Prolog folgt ein Schwenk zu Sarah, die ihre Online-Karriere als Influencerin beenden will. Sie hat ihr intimstes Leben lange Zeit mit der Allgemeinheit geteilt, kaum ein Aspekt ihres Daseins war nicht öffentlich. Die Follower durften sie durch ihren Alltag begleiten. Doch davon hat sie genug. Grund für ihren Rückzug sind die vielen Hasskommentare, die wie eine Welle über ihren Account schwappen und die sie nicht länger ertragen kann. Sogar ihre Tochter leidet in der Schule darunter. Sie wird von ihrer Community für den Selbstmord einer Followerin verantwortlich gemacht. Sarah hat auf einen Hilferuf eines jungen Mädchens in Form eines öffentlichen Kommentars auf ihrem Instagram-Account nicht reagiert und diese hat sich später umgebracht. Die Community macht Sarah dafür verantwortlich und gibt ihr eine Mitschuld. Einige User:innen bezeichnen sie als Mörderin. Zu Beginn jedes Kapitels werden fiktive Hasskommentare an Sarah vorangestellt, die die Schattenseiten der sozialen Netzwerke aufzeigen.

 

Was während der Lektüre deutlich wird, ist, dass Sarah auch nach der Deaktivierung ihres Accounts weiter den Erwartungsdruck ihrer Follower spürt und sich selbst große Vorwürfe macht, dass sie die Hilferufe des Opfers nicht rechtzeitig erkannt hat. Der Sozialstress, den Sarah als Influencerin erlebt, kommt ebenfalls gut zum Ausdruck. Sie muss auf Nachrichten reagieren, muss Kontakte pflegen. Sie ist überfordert mit den vielen Mitteilungen, die sie erreichen (die Kehrseite des Influencer-Daseins). Eine gefährliche Dynamik entwickelt die Handlung, als ein Fake-Account von Sarah im Netz auftaucht, auf dem heimlich aufgenommene, intime Fotos von ihr geteilt werden. Offensichtlich wird sie von jemandem beobachtet, verfolgt und bedroht. Doch wer steckt dahinter? Und wie wird sich Sarah dagegen zur Wehr setzen? Das sind die zentralen Fragen, die den Inhalt vorantreiben.

 

Durch die Präsenz der Stalkerin in unmittelbarer Schlagdistanz zum Opfer entsteht eine permanente Bedrohungssituation, die ein gutes Maß an Spannung erzeugt. Das ist geglückt. Das Tempo ist hoch und es passiert ständig etwas Neues. Die Autorin greift geschickt auf spannungserregende Impulse zurück, es gibt einige Wendungen und am Ende kommt es auch zu unerwarteten Überraschungen. All das überzeugt. Der psychische Zustand von Sarah verschlechtert sich zusehends. Auch das kommt gut zum Ausdruck und ist gelungen arrangiert. Beiläufig werden auch die Gefahren sozialer Medien auf diese Weise problematisiert. Auch das ist lobenswert. Das einzige, was bei mir nicht aufkam, war eine Sogwirkung. Ich habe das Buch nicht „inhaliert“, und das obwohl Russ so viel richtig macht. Das bleibt für mich ein offenes Rätsel für die Zukunft. Wie schaffen es manche Bücher, eine Sogwirkung zu erzeugen und andere nicht, obwohl sie eigentlich alle Voraussetzungen dafür hätten. Ich hoffe, dass ich die Antwort darauf irgendwann finde. Von mir gibt es 4 Sterne.

Samstag, 16. März 2024

Heinlein, Robert A.


Trivial und niveaulos - Teil 2


Wie bereits berichtet, habe ich meinem Lieblingsantiquariat Science-Fiction-Bücher aus den 60er und 70er Jahren erworben. Das Buch „Invasion 1996“ von Gernsback habe ich erst kürzlich vorgestellt. Nun folgt der nächste Titel: „Die Reise in die Zukunft“ (1967) von Robert Anson Heinlein (Original „Farnham’s Freehold“ von 1964). In diesem Roman wird auf einige zentrale Motive zurückgegriffen: eine große Katastrophe in Form eines Atomkriegs und die Zeitreise. Ich denke, es ist nicht zu weit hergeholt, wenn man die These äußert, dass in diesem Roman die Nachwirkungen der Kuba-Krise spürbar werden. Und leider muss man sagen, dass die Angst vor Atomwaffen bis heute nichts an Aktualität verloren hat.

 

Heinlein dürfte den meisten Lesern von seinem Roman „Starship Troopers“ bekannt sein. Er ist nicht unumstritten. Kritiker werfen ihm einen Hang zum Militarismus und eine Nähe zu faschistischem Gedankengut vor. Dessen ungeachtet hat Heinlein aber großen Einfluss auf die Entwicklung der SF als Genre ausgeübt (vgl. Lexion der Science-Fiction-Literatur 1988, S. 533-537).

 

Zum Inhalt: Wir befinden uns unmittelbar vor Ausbruch des Dritten Weltkrieges. Mr. Farnham und seine Familie hören den Atomalarm und sie suchen den selbstgebauten, unterirdischen Bunker auf. Als die Familie aufgrund des Mangels an Sauerstoff den Schutzraum verlassen muss, trauen sie ihren Augen nicht. Anstelle von Zerstörung sehen sie bewaldete Hügel, grüne Bäume und Sträucher sowie einen prächtigen, sonnigen Himmel. Was geht hier vor sich? Wie kann das sein? Es scheint weit und breit keine weitere Menschenseele zu geben. Funkkontakt zu anderen Personen lässt sich nicht herstellen.

 

Man merkt dem Roman deutlich an, dass er ein Kind seiner Zeit ist. Man trifft auf das N-Wort (auch in rassistisch-abwertender Form) und überholte Rollenvorstellungen von Frau und Mann werden nur allzu deutlich. An einer Stelle musste ich schwer schlucken, als von „Blutschande“ die Rede ist, und zwar nicht im Zusammenhang mit einer inzestiösen Verbindung.

 

Das Buch weist zahlreiche Schwächen auf: Nach dem Verlassen des Bunkers stagniert die Handlung stark, es passiert wenig Erhellendes. Die Überlebenden richten sich in der neuen Umgebung ein und es beschränkt sich stark auf die Darstellung von Streitigkeiten zwischen den Familienmitgliedern. Das eigentliche Rätsel wird gar nicht in den Fokus gerückt. Es wird uns keine große Erzählkunst geboten. Die Dialoge sind ungelenk, die Figuren sind nicht psychologisiert. Man fiebert nicht mit. Das einzige, was die Handlung vorantreibt ist wieder einmal die Neugier auf die Auflösung am Ende. Das war es auch schon. Etwas Spannung entsteht, als die Familie auf andere Menschen trifft, aber auch hier bleiben zu viele Fragen offen. Hinzu kommen unlogische Verhaltensweisen der Protagonisten und Handlungselemente, die nicht kausal motiviert werden und damit keinen Sinn ergeben. Ich musste mich im weiteren (hanebüchenen) Handlungsverlauf durch das Buch kämpfen. Kurzum: Auch dieses Buch wird im Müll landen.

Freitag, 15. März 2024

Star Trek - Strange New Worlds (Staffel 2)


Kreativ, abwechslungsreich und stellenweise äußerst tiefgründig



Die zweite Staffel von „Star Trek. Strange New Worlds“ startet furios. Das Profil von Spock wird geschärft, als er das erste Mal das Kommando über die Enterprise übernimmt, und sich für einen Vulkanier völlig untypisch verhält. Die Darstellung der emotionalen Seite von Spock ist gelungen arrangiert. Und die Klingonen (sehnsüchtig erwartet) tauchen nun zum ersten Mal auf. Die erste Folge knüpft nahtlos an das Ende der ersten Staffel an, ist aber in sich abgeschlossen. Hinzu kommt passender Humor, der an die verbalen Schlagabtäusche alter Star-Trek-Zeiten erinnert. Die erste Folge hat mich vollkommen überzeugt. 

 

Und ich kann versichern: Das Niveau von Staffel 1 wird beibehalten. Allerdings werden in Staffel 2 stärker als in Staffel 1 immer einmal wieder Handlungselemente von Folge zu Folge weitergeführt und erneut aufgenommen. Auch gibt es diverse Rückbezüge auf Geschehnisse der ersten Staffel. Jede Folge ist zwar in sich abgeschlossen, man sollte sie aber in meinen Augen in chronologischer Reihenfolge schauen, weil sich die Charaktere weiterentwickeln. Der Grad der Verknüpfung zwischen den Folgen hat zugenommen!

 

Was noch auffällt: Pike steht gar nicht mehr so im Vordergrund der Handlung, sondern es sind die vielen Nebenfiguren, die nun mehr Gewicht und Konturenschärfung erhalten. Viele Randcharaktere erhalten eine eigenständige Folge, in der sie sich weiterentwickeln. Auf diese Weise erhält man als Zuschauer auch einen besseren Zugang zu den einzelnen Crewmitgliedern, lernt sie besser kennen und entwickelt mehr Sympathie für sie (ein großes Manko übrigens von Star Trek: Discovery, wo Michael Burnham zu viel Raum einnahm!)

 

Die thematische Bandbreite der verschiedenen Folgen ist facettenreich und oft tiefgründig. Ich war oft erstaunt, was inhaltlich alles in nur einer Episode problematisiert wird. Und was mich auch überrascht hat. Der Stil der Folgen ist nicht einheitlich, sondern äußerst abwechslungsreich. Er reicht von humorvoll über ernst, tiefgründig etc. Sehr kreativ, was die Macher der Serie sich haben einfallen lassen. In Folge 2 wird z.B. die genetische Manipulation vertieft. Die Diskriminierung von genetisch veränderten Menschen wird in einer Gerichtsverhandlung problematisiert, und das mit einer Tiefe, wie ich sie eher in einem Kinofilm erwarten würde. Großartig! In Folge 3 geht es um eine alternative Zeitlinie. Es kommt zu einem Aufeinandertreffen mit Kirk. Eine Reise zurück ins 21. Jahrhundert (eine schöne Hommage an Star Trek IV). In Folge 4 steht eine Außenbordmission auf Riegel VII im Mittelpunkt. Thema: Erinnern und Vergessen. Was macht den Menschen aus? Wie lebt es sich ohne bleibende Erinnerungen? Sehr philosophisch. Hat mir ebenfalls gut gefallen. In Folge 5 wird Spocks Beziehung zu Schwester Chapel weiter vertieft. Spock wird durch den Eingriff einer anderen Spezies irrtümlich in einen Menschen verwandelt und muss lernen, seine Gefühle zu kontrollieren. Eine sehr, sehr amüsante Folge! In Folge 6 erleben wir mit, wie Uhura unter Wahnvorstellungen leidet. Kirk ist auch wieder mit von der Partie. Die Verwirrung Uhuras kommt gut zum Ausdruck: Was ist Wahn, was ist Wirklichkeit? Folge 7 bietet ein „Crossover“ mit „Lower Decks“. Das war leider überhaupt nicht mein Fall. War mir zu albern. Ein Stilbruch zum Rest. In Folge 8 wird die Feindschaft zu den Klingonen weitergeführt. Ein ehemalige klingonischer General tritt als Botschafter auf und agiert dabei so übertrieben freundlich und höflich, dass die Crew der Enterprise teilweise schon misstrauisch wird. Der Schiffsarzt erhält eine Profilschärfung. Themen: Gerechtigkeit und Selbstjustiz. Es gibt Rückblicke in Kriegsszenen zwischen Förderation und Klingonischem Imperium. Atmosphärisch eher düster. Ein schöner Kontrast zu den sonst eher wissenschaftsorientierten Folgen (und auch eine Hommage an Star Trek VI). Folge 9 wird in anderen Rezensionen oft sehr kritisch bewertet. Es ist eine Art Musical-Folge. Es wird gesungen und getanzt. Ich fand es humorvoll, war einmal etwas anderes. Aber sollte die Ausnahme bleiben. Folge 10 dann wieder sehr düster, beklemmend und bedrohlich. Hat mich sehr an Alien von Ridley Scott erinnert. Im Mittelpunkt steht die Feindschaft zu den Gorn, die einen Außenposten angreifen. Leider endet die Episode mit einem Cliffhanger. Nun heißt es Geduld haben…

 

Fazit: Staffel 2 ist eine sehr gelungene Fortführung. Bis auf Folge 7 (dem Crossover mit „Lower Decks“) haben mir die restlichen Episoden sehr gut gefallen. Die Charaktere werden allesamt gut weiterentwickelt, es gibt viele interessante Themen. Zwei Folgen bieten eine sehr düstere Atmosphäre (Folge 8 und Folge 10). Andere Folgen sind hingegen sehr amüsant (v.a. Folge 5, aber auch Folge 9). Ingesamt wird eine große Bandbreite von Stilarten geboten. Das sollte man natürlich mögen. Ich fand es kreativ und abwechslungsreich. Andere mögen darin einen Stilbruch sehen. Letztlich Geschmackssache…

Spit, Lize - Der ehrliche Finder


Hilfsbereitschaft


Der Roman „Der ehrliche Finder“ ist der dritte Roman der Autorin Lize Spit, die v.a. mit ihrem Debut „Und es schmilzt“  für Aufsehen gesorgt hat (vielfach ausgezeichnet, in 15 Sprachen übersetzt sowie verfilmt und ebenfalls prämiert). Sie hat sich für ihr Buch von einem wahren Fall inspirieren lassen, von der Geschichte der zehnköpfigen Familie Zenelaj, die vor dem Krieg im Kosovo nach Belgien flüchtete. Zentral sind die Themen „Freundschaft“ und „Flucht“. Im Zentrum der Handlung steht der Drittklässler Jimmy, der zu einem Übernachtungsbesuch bei seinem kosovarischen Freund Tristan Ibrahimi eingeladen wird.

Die Stärke des Romans ist in meinen Augen die Charakterzeichnung von Jimmy. Er leidet einerseits unter der Scheidung seiner Eltern sowie den beruflichen Verfehlungen seines Vaters und legt einige ungewöhnliche, auffällige Verhaltensweisen an den Tag. Andererseits ist er ein außerordentlich leistungsstarker Schüler, der sich aufopferungsvoll um seinen neuen Mitschüler Tristan und dessen Lernerfolg kümmert. Es wird sehr gut deutlich, dass Jimmy zeitgleich Außenseiter und hilfsbereiter Freund ist. Allerdings wirkt seine Hilfsbereitschaft besitzergreifend und obsessiv, sie geht über ein normales Maß hinaus, war mein Eindruck. Er nimmt seine Aufgabe mehr als ernst. Jimmy scheint selbst eine schwere Zeit durchzumachen. Und zugleich ist er sehr, sehr stark auf Tristan fixiert. Das Verhalten von Jimmy hat stellenweise etwas Zwanghaftes an sich. Alles muss seine Ordnung haben, das zeigt sich insbesondere bei seiner Sammelleidenschaft. Nicht zuletzt ist er sehr leichtgläubig und beeinflussbar, stellenweise wird sogar deutlich, dass er sich geprüft fühlt. Als Familie Ibrahimi in eine Krise gerät, will Jimmy helfen und hinterfragt in meinen Augen (zu) wenig. Die Verzweiflung der Ibrahimis führt zu einem Akt des irrationalen Handelns. Und Tristan scheint Jimmys Gutmütigkeit und Naivität ausnutzen. Oder ist es doch nur kindlicher Leichtsinn, der sich hier zeigt? Für mich sind hier verschiedene Lesarten deutlich. Das hat mir sehr gut gefallen!

 

Was in erzählerischer Hinsicht sehr gelungen ist, ist der Umstand, dass wir die ganze Zeit an Jimmys Perspektive gebunden sind. Aus seiner Sicht wird erzählt. Es fehlt eine Außensicht auf ihn. Ich hätte mir stellenweise einen anderen Blickwinkel gewünscht, um mir vorstellen zu können, wie Jimmy auf Tristan und die Ibrahimis wirkt. Aber ich denke, die Autorin hat sich bewusst für diese erzählerische Gestaltung entschieden, um auf diese Weise Interpretationsspielräume zu eröffnen. Sehr geschickt! Am Ende kulminiert die Handlung in einem packenden Höhepunkt. Der Aufbau von Spannung ist der Autorin sehr gut gelungen. Als Leser:in ahnt man und man befürchtet, worauf es hinausläuft, aber man hofft bis zum Ende, dass es nicht so weit kommt. Das Ende problematisiert eine zentrale Frage im Hinblick auf „Flucht“: Wohin führt es, wenn man institutionellen Druck auf Flüchtlinge ausübt? Ein Thema, das hochaktuell ist. Von mir gibt es für dieses großartige Buch 5 Sterne!

Donnerstag, 14. März 2024

Gernsback, Hugo - Invasion 1996


Trivial und niveaulos


Auf der Suche nach Lesestoff besuche ich hin und wieder auch Antiquariate in Göttingen. Dort stieß ich auf ein paar interessante Science-Fiction-Bücher aus den 60er und 70er Jahren, von denen ich hier gerne eines vorstellen möchte. Mir ist nämlich aufgefallen, dass ich das Genre der SF-Literatur sträflich aus dem Blick verloren habe. Es wird also mal wieder Zeit für einen SF-Roman.

 

Ein beliebtes Motiv ist die „Invasion“. Der bekannteste SF-Invasionsroman dürfte wohl „Der Krieg der Welten“ von H.G. Wells sein. In diese Tradition reiht sich auch der vorliegende Titel von Hugo Gernsback ein, der posthum erschienen ist (1971): „Ultimate World“. Auf Deutsch: „Invasion 1996“ (1973, Heyne Verlag).

 

Gernsback verlegte 1926 in den USA mit der Zeitschrift „Amazing Stories“ das erste reine SF-Magazin der Welt. Darin waren ausschließlich utopische Erzählungen enthalten. Später folgten noch weitere Zeitschriften. Nach ihm ist auch der Hugo-Award benannt, der jährlich vergeben wird (vgl. Lexion der Science-Fiction-Literatur 1988, S. 475-477).

 

Zum Inhalt: Am 24. Juni 1996 kommt es zu einer außerirdischen Invasion auf der Erde. Die Invasoren sind den Menschen haushoch überlegen. Angriffe werden problemlos abgewehrt. Die Menschen werden durch Gedankenmanipulation gefügig gemacht. Die alles entscheidenden Fragen sind: Was planen die Invasoren? Wollen sie die Menschheit angreifen, sie ausbeuten, mit ihnen Experimente veranstalten oder sind sie ihr gar freundlich gesinnt? Kommt es zu einer Kontaktaufnahme?


Physikprofessor Duke Dubois überlegt, was die Fremden vorhaben und wie sie wohl beschaffen sind. Aus dem Verhalten der Aliens zieht Dubois zahlreiche Rückschlüsse über sie. Etwas kurios: Wollen die Außerirdischen gar sexualwissenschaftliche Untersuchungen mit den Menschen anstellen? Überall auf dem Planeten werden Personen zu zwanghaften Sexualausübungen genötigt. Die Menschheit tappt lange Zeit im Dunkeln, was die Invasoren vorhaben. Klar ist nur: Je länger die Besatzung dauert, desto belastender wird die Ungewissheit.

 

Interessant ist, dass der Autor bereits auf eine Idee der In-Vitro-Fertilisation zurückgreift, noch bevor das erste Neugeborene auf diese Weise zur Welt gekommen ist (1978). Weitere Einfälle, die der Autor integriert: Es kommt eine Art verbesserte Röntgenstrahlung zum Einsatz. Hat Gernsback sich hier von der Entwicklung der ersten CT-Bilder inspirieren lassen oder diese gar vorhergesehen? Die Invasoren verfügen auch über die Technologie, Körperteile nachwachsen zu lassen. Ein Bildtelefon kommt ebenfalls vor. Auch das Thema der Evolution spielt eine große Rolle. Sehr spannend!


Nun zum erzählgestalterischen Aspekt: Etwas sperrig ist der Stil, Handlungselemente in Form von Listen zusammenzufassen, um den Inhalt voranzutreiben. Das kommt stellenweise immer mal wieder vor und wirkt protokollartig und wenig elegant. Es gibt auch immer wieder logische Brüche, über die man stolpert. Zusammenhänge erschließen sich nicht immer. Die Handlungsereignisse vollziehen sich oft sprunghaft. Ich habe über diese Makel hinweggesehen, weil ich auf die Auflösung gespannt war. Diese hat mich dann aber sehr ernüchtert zurückgelassen. Am Ende überschlagen sich die Ereignisse und werden nicht mehr kausal miteinander verkettet. Noch etwas: Die Dialoghaftigkeit ist nicht sehr stark ausgeprägt. Es gibt viele berichtende Passagen, die das Tempo drosseln. Teilweise grenzt es an „Info-Dumping“, was der Autor betreibt. Die literarische Qualität lässt sehr zu wünschen übrig, auch wenn die Grundidee interessant ist. Kurzum: Keine große Kunst, die man hier liest. Die Dialoge sind hölzern, eine Psychologisierung der Figuren fehlt. Hinzu kommen die oben genannten Punkte. Ich werde das Buch schon bald im Müll entsorgen und ich hoffe, die anderen SF-Romane, die ich antiquarisch erworben habe, werden besser. 

Mittwoch, 13. März 2024

Glasgow, Kathleen - Girl in Pieces


Mädchen in Scherben


Die Protagonistin Charlotte befindet sich zu Beginn des Buchs auf einer psychiatrischen Station, nachdem sie versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Sie ist vollkommen in sich gekehrt, schweigt, leidet unter Erinnerungslücken und ist in einem schlechten körperlichen und psychischen Zustand. Wir erhalten einen Einblick in den Tagesablauf von Charlotte und ihren Mitpatientinnen, die alle zu selbstverletzendem Verhalten neigen und verschiedene Therapieformen besuchen.

Das Buch wird aus der Ich-Perspektive erzählt, was gut passt, weil wir auf diese Weise nah an den Gedanken und Gefühlen von Charlotte dran sind. Die sprachliche Darstellung ist sehr gelungen, der psychische Zustand von Charlotte wird unheimlich gut verbalisiert und zum Ausdruck gebracht, und das mit kreativen sprachgestalterischen Mitteln. Das psychische Erleben wird greifbar. Das ist ganz klar eine große Stärke des Buchs! In Worte zu kleiden, was in Charlottes Innerem vorgeht und wie sie sich fühlt, das ist die große Leistung der Autorin. Die Schilderung der psychologischen Seite wirkt unheimlich realistisch und authentisch. Auch das isolierte, behütete Leben auf der Station wird gut deutlich.

 

Charlotte hat ein schweres Leben hinter sich, seit ihrem 8. Lebensjahr nahm sie Medikamente, in Klasse 11 flog sie von der Schule. Sie hat Mobbing und schlimmere, traumatische Dinge erlebt und lebte schließlich für eine längere Zeit auf der Straße. Kurzum: Sie hat eine Abwärtsspirale durchlaufen und wäre fast daran zerbrochen. Als Leser spüren wir, was für ein negatives Selbstbild Charlotte hat, und erleben mit, wie sie auf der Station eine erste positive Entwicklung erlebt. Nach und nach öffnet sie sich. Bruchstückhaft kommen Erlebnisse aus der Vergangenheit zum Vorschein und machen klar, auf was für eine Bahn Charlotte geraten ist.

 

Doch eines Tages soll Charlotte entlassen werden. Und das, obwohl klar ist, dass sie noch Hilfe und Unterstützung benötigt. Doch die Angehörigen können die Unterbringung auf der Station nicht mehr bezahlen. Sie soll wieder bei ihrer Mutter wohnen, mit der sie sich überhaupt nicht versteht. Per Chat bittet sie einen alten Freund eindringlich darum, sie zu retten. Und als Leser:in stellt man sich nun unweigerlich folgende Fragen: Wie geht es mit ihr weiter? Stürzt sie wieder in ein Loch? Gerät sie wieder in die falschen Kreise? Oder kann sie ihre positive Entwicklung beibehalten? Ich will nicht zu viel verraten, nur so viel: Der Roman ist auf gute Weise unvorhersehbar und man ist gespannt, was aus Charlotte wird. Ich habe ihr Schicksal gebannt verfolgt und während der Lektüre gehofft, dass es mit ihr ein gutes Ende nehmen wird. Ich stelle mir viele Fragen: Wird sie auf gute Menschen treffen? Wird sie wieder auf die Beine kommen? Wird sie einen Job finden? Klar ist nur, dass sie noch lange nicht stabil ist.


Das Buch macht in meinen Augen auch gut deutlich, wie schwierig es ist, auf die Beine zu kommen, wenn man erst einmal am Boden liegt. Charlotte muss permanent kämpfen. Kämpfen, um sich über Wasser zu halten. Berührungspunkte mit der Vergangenheit tun ihr nicht gut, wühlen sie auf und sind eine Bewährungsprobe für sie. Alltägliche Sorgen belasten sie schwer. Ich hatte beim Lesen ständig ein ungutes Gefühl, ob Charlotte ihre inneren Dämonen wirklich besiegen kann. Man hofft, dass sie die richtigen Entscheidungen trifft, dass sie standhaft bleibt, dass sie genug Menschenkenntnis hat. Kurzum: Es ist die Schilderung eines Akts der Selbstzerstörung und des Kampfes gegen sich selbst. Ein tolles Buch, das den Leser:innen einiges abverlangt.

Montag, 11. März 2024

Usinger, Johanna - Einfach können. Gendern


Gendern


Die Verwendung gendergerechter Sprache ist ein kontroverses Thema, bei dem die Gefühle oft „hochkochen“. Doch bevor man in eine Diskussion zum Gendern einsteigt, sollte man sich erst einmal vergegenwärtigen, was denn überhaupt für Möglichkeiten existieren, gendergerecht zu schreiben. Aus diesem Grund möchte ich den Ratgeber vom Cornelsen-Verlag „Einfach können. Gendern“ (2023) von Johanna Usinger hier vorstellen. Das Buch zeigt, dass die deutsche Sprache viele Wege bietet, um Texte genderneutral zu verfassen.


Die gängigsten Formen werden mit Vor- und Nachteilen kurz vorgestellt (vgl. S. 20-29). Hierzu zählen die Doppelnennung (= „die Lehrerinnen oder Lehrer“), die neutrale Form (= „die Lehrkräfte“), der Schrägstrich mit oder ohne Bindestrich (= „Die Lehrer/innen“ oder die „Lehrer/-innen“), das Gendersternchen (= „die Lehrer*innen“), der Doppelpunkt („die Lehrer:innen“), die Einklammerung (= „die Lehrer(innen)“), der Unterstrich (=„die Lehrer_innen“), das Binnen-I (= „die LehrerInnen“), der Gebrauch maskuliner und femininer Formen im Wechsel (= „die Pfleger, Ärztinnen, Therapeuten und Geburtshelferinnen“) oder die Fußnote am Ende eines Wortes.

 

Auf den Seiten 30-31 werden zudem noch 10 weitere Möglichkeiten präsentiert, u.a. das generische Femininum (= „Professorinnen“), der dynamische Unterstrich (= „Archite_ktinnen“) oder das Ausrufezeichen als Ersatz für das Binnen-I (= „Lehrer!nnen“) und weitere. Eine klare Regelung, die noch dazu vom Rat für Rechtschreibung abgedeckt ist, gibt es nicht. Die Wahl der Variante hängt auch davon ab, welches Anliegen man als textverfassende Person man verfolgt. Möchte man Frauen und Männer ansprechen? Möchte man alle Geschlechter ansprechen? Will man Sprache aufbrechen? Will man sich an die amtlichen Regeln der deutschen Rechtschreibung halten? Etc.

 

Mir war z.B. nicht klar, dass der Doppelpunkt als Sonderzeichen, den ich in der Vergangenheit oft selbst gern verwendet habe, weil damit alle Geschlechter einbezogen werden und der Lesefluss damit kaum eingeschränkt wird, nicht barrierefrei ist. Menschen mit Sehbeeinträchtigungen oder blinde Menschen, die sich Texte mit technischen Hilfsmitteln vorlesen lassen, können bei der Doppelpunkt-Schreibung Probleme haben. Will man also barrierefrei schreiben, so sollte man auf die sieben kreativen Tipps und Tricks zurückgreifen, die die Autorin vorschlägt (vgl. S. 36 bis 41).

 

Die Autorin gibt einige Anregungen zur genderneutralen Umformulierung von Satzkonstruktionen und Texten. So kann die Nennung bestimmter Personengruppen gemieden werden. Und Usinger gibt noch eine weitere Hilfe mit an die Hand: Ein kompaktes Wörterbuch mit ca. 1000 Stichwörtern, das man wie ein Synonymwörterbuch nutzen kann. So erhält man viele genderneutrale Alternativen. Das Wort „Leser“ lässt sich z.B. ersetzen durch „lesende Person“, „Lesepublikum“, „lesende Zielgruppe“, „die Lesenden“ oder „Leserschaft“.


Letztlich ist dieser Ratgeber sicher für alle hilfreich, die sich um korrekte genderneutrale Sprache bemühen wollen. Sie kann auch Grundlage für weitere Diskussionen sein (auch um sich darüber klar zu werden, worüber man überhaupt konkret diskutieren möchte). Wer sich in dem Thema „Gendern“ weiterbilden möchte und dafür weiter sensibilisiert werden möchte, der greife zu diesem hilfreichen Buch. Was aber auch sehr deutlich wird: Der Einsatz der verschiedenen Möglichkeiten zum Gendern ist höchst beliebig und uneinheitlich. Die Verwendung bestimmter Formen hängt von der Kreativität und der Experimentierfreude der Autorenschaft ab.

 

Ob und was sich von den Vorschlägen in der Zukunft überhaupt durchsetzen wird, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Einer von oben verordneten Sprachveränderung stehe ich aber skeptisch gegenüber. Sprachwandelprozesse sind nicht von außen steuerbar. Sprachwandel vollzieht sich unbewusst und über eine lange Zeit, nicht ad-hoc und von außen vorgegeben (vgl. dazu Rudi Keller 2014: „Sprachwandel“). In meinen Augen wird sich die genderneutrale Sprache überhaupt nur dann durchsetzen, wenn die Mehrheit der Deutschen sich aktiv dazu entschließt, diese häufig und über einen langen Zeitraum zu gebrauchen. Auch bleibt abzuwarten, wie der Rat für Rechtschreibung sich positioniert und ob es irgendwann zu einer einheitlichen Regelung kommt. Vorstellen kann ich mir das zwar nicht, aber ich werde die Entwicklung der gendergerechten Sprachverwendung mit Interesse weiter verfolgen. Ich selbst habe mich aber dazu entschieden in meinen Texten zu gendern (in Zukunft dann auch barrierefrei), weil ich niemanden ausschließen will. Allerdings lerne ich selbst auch immer noch dazu…

Freitag, 8. März 2024

Suter, Martin - Melody


Verschollene Liebe


Der hochqualifizierte und frisch exmatrikulierte Student Tom versucht nach dem Studium sein Glück auf dem Arbeitsmarkt. Er bewirbt sich auf eine Stelle bei dem sterbenskranken Dr. Peter Stotz in Zürich, der nur noch ein Jahr zu leben hat und ihm ein verlockendes Angebot offeriert: ein einjähriger hochdotierter Arbeitsvertrag inklusive Kost und Logis sowie weiterer Vergünstigungen. Tom sagt zu. Und kaum im Anwesen von Dr. Stotz eingezogen, macht ihm der Alte klar, was er von ihm erwartet. Tom soll seinen Nachlass regeln und ein entsprechendes Bild für die Nachwelt von ihm vermitteln. Dafür wertet Tom alte Unterlagen im Archiv aus und führt Gespräche mit seinem neuen Arbeitgeber.

 

Wir erhalten so einen Einblick in das Leben eines Repräsentanten der höheren Gesellschaftsschicht und merken schnell, es geht förmlich zu. Um den Lebensstil zu verdeutlichen, nimmt die Schilderung diverser „Gaumenfreuden“ viel Raum ein. Auch das ein oder andere Tröpfchen wird regelmäßig und nicht zu knapp degustiert und für annehmlich befunden. Tom kann sich in der neuen Umgebung bewähren, und er und Dr. Stotz finden rasch eine gemeinsame Sprache. Schon bald weiht der Alte seinen Nachlassverwalter in ein Geheimnis ein. Er berichtet ihm von Melody, seiner Liebe auf den ersten Blick, die ihn kurz vor seiner Hochzeit verlassen hat. Und als Leser:in fragt man sich natürlich sofort: Warum hat Melody so gehandelt? Hat sie „kalte Füße“ bekommen? Ist sie vor jemandem aus ihrer Familie geflüchtet? Ist sie mit jemand anderem durchgebrannt? Wo ist sie hin? Und wird Tom sie vielleicht sogar aufspüren und mit ihr reden?

 

Ich war sehr auf die Auflösung gespannt und habe mit Interesse den Erzählungen von Stotz gelauscht, die immer wieder geschickt unterbrochen werden, um die Spannung aufrechtzuerhalten. Auch die Archivarbeit von Tom sorgt für Impulse. Immer wieder werden uns auf diese Weise Bruchstücke aus dem Leben von Stotz präsentiert. Sehr geschickt! Und nach der Lektüre kann ich sagen, dass ich von einigen Wendungen absolut überrascht worden bin. Ja, ich hätte sogar eine ganz andere inhaltliche Entwicklung erwartet. Aber möge jede:r sich selbst verblüffen lassen. Was mir noch aufgefallen ist: Bei mir hat sich rasch Sympathie für Stotz eingestellt. Er ist redselig, offen, direkt und beschönigt nichts. Zumindest hinterlässt er lange Zeit diesen Eindruck… Kurzum: Das Buch erzeugt Neugier und der Schreibstil ist angenehm, lebendig und „süffig“.

 

Der einzige Umstand, den ich etwas kurios fand, war, dass man dem „Dottore“ seinen schlechten Gesundheitszustand kaum anmerkt. Die Krankheit oder eine Verschlechterung des Zustands von Stotz rücken sehr in den Hintergrund. Vermutlich ging es dem Autor um etwas anderes. Und ich finde die inhaltliche Schwerpunktsetzung auch so in Ordnung, ich konnte mich darauf einlassen. Es geht um eine verflossene Liebschaft, nicht um eine gesundheitliche Leidensgeschichte. Beides zusammen hätte vermutlich nicht funktioniert und es hätte den Erzählton des Buchs auch sehr verändert. Aber etwas unrealistisch wirkt es dadurch schon. Aber nun gut… Andere Kritikpunkte fallen mir nicht ein. Es ist ein sehr gutes Buch und ich kann verstehen, warum es fast 40 Wochen in der Beststeller-Liste war (Stand: 03/24).


Donnerstag, 7. März 2024

Kostjutschenko, Jelena - Das Land, das ich liebe. Wie es wirklich ist, in Russland zu leben


Hart, schonungslos, erschütternd



Mit dem Sachbuch „Das Land, das ich liebe. Wie es wirklich ist in Russland zu leben“ legt die Autorin Jelena Kostjutschenko ein Werk vor, das es in sich hat. Es ist ein Blick tief hinein ins Land, ein Blick auf die einfachen Leute am Rande der Gesellschaft. Und Kostjutschenko legt die Finger tief hinein in die zahlreichen „offenen Wunden“ des Landes. Hier geht es nicht um den Baikalsee, die russische Seele, Gastfreundschaft oder die Transsibirische Eisenbahn, wie man sie aus zahlreichen ARD- und ZDF-Dokumentationen kennt. Nein, hier wird absolut kein romantisches Bild von Müttcherchen Russland gezeigt. Die Autorin zeichnet ein schonungsloses und hartes Porträt ihrer Heimat. Sie geht dahin, wo es wehtut und wirft ein Licht auf die Schattenseiten des Landes.

 

Doch wer ist die Autorin? Kostjutschenko, geboren 1987 und aufgewachsen in Jaroslawl, ist eine der bekanntesten Investigativjournalistinnen des Landes. Sie war die erste, die über „Pussy Riot“ schrieb, und wurde mehrfach verhaftet und misshandelt. Seit ihrem 17. Lebensjahr schrieb sie für die „Nowaja Gazeta“, die wichtigste unabhängige Zeitung Russlands, die inzwischen nicht mehr existiert (vgl. dazu das Nachwort). Inzwischen lebt sie im deutschen Exil und schreibt für das englischsprachige Online-Portal „Meduza“. Im Herbst 2022 wurde vermutlich ein Giftanschlag auf sie verübt, den sie überlebte. Die Ermittlungen dazu laufen noch.

 

Gestolpert bin ich zunächst über den Titel: „Das Land, das ich liebe“. Kann man dieses Land aktuell noch lieben und ihm seine Zuneigung bekunden? Wenn man im Internet recherchiert, findet man Informationen dazu, wie Kostjutschenko den Titel versteht. Sie liebt nach wie vor die Menschen in dem Land und will etwas verändern. Sie gibt die Menschen in dem Land nicht auf und hofft durch Aktivismus, ihre Heimat zu verbessern. Das ist eine Hoffnung, die ich nachvollziehen kann. Allerdings bin ich momentan sehr skeptisch, ob das möglich ist. Inzwischen dauert der Angriffskrieg auf die Ukraine schon zwei Jahre und es zeichnet sich kein schnelles Ende ab. In Russland herrschen Angst und Repression. Die politische Opposition ist durch Nawalnys Tod noch einmal geschwächt worden. Es deutet nichts darauf hin, dass die Bevölkerung sich gegen die Unterdrückung aufbäumt und ihre Freiheit verteidigt. Wie soll es bloß mit diesem Land weitergehen?

 

Doch zurück zum Buch. In ihm sind Reportagen zu verschiedenen Themen versammelt. Und was ich interessant finde: Die Autorin hält sich mit eigenen Urteilen und Bewertungen zurück. Sie überlässt es den Leser:innen, welche Rückschlüsse sie aus dem Gelesenen ziehen. Als Autorin drängt sie sich den Leser:innen nicht auf und vertraut darauf, dass diese selbstständig genug sind, zu einem Urteil zu gelangen. Sie lässt die Interviewten ausführlich zu Wort kommen und agiert weitgehend wie eine „neutrale“ Teilnehmende Beobachterin. Das hat mir richtig gut gefallen! Darüber hinaus gewährt die Autorin auch autobiographische Einblicke.

 

Kapitel 1

Die Autorin schildert Kindheitserinnerungen und macht auf diese Weise deutlich, was sie geprägt hat. Dazu gehören z.B. der Untergang der Sowjetunion sowie die Amtszeit Jelzins. Nach diesen wirren, chaotischen Jahren sei Putin ihr als neuer Hoffnungsträger erschienen. Sehr stark beeinflusst wurde Kostjutschenko als 14-jährige von Anna Politkowskaja und ihren damaligen Reportagen. Erstmals sei ihr Weltbild ins Wanken geraten, so die Autorin. Am Beispiel von Medwedews Amtseinführung macht sie deutlich, wie sehr die mediale Berichterstattung inszeniert wird. Bis ins kleinste Detail wird der Akt einstudiert und die Choreografie geübt. Raum für Zufälle und Spontanität gibt es nicht.

 

Kapitel 2

Mit dem Tod ihres Stiefbruders Wanja endet die Kindheit der Autorin. In einer Reportage geht die Autorin auf das Schicksal von verwahrlosten Kindern und Jugendlichen aus zerrütteten Familien ein, die in einer Bauruine leben. Das Krankenhaus, in dem sie sich aufhalten, ist nie fertiggestellt worden. Um Geld zu verdienen bieten sie u.a. Touren für Touristen an. Der Umgangston der Jugendlichen ist rau, grob und hart. Trunksucht, Gewalt und Abtreibungen sind an der Tagesordnung. Gleichzeitig herrscht eine große Angst vor der Polizei. Ein Blick in den Abgrund…

 

Kapitel 3

Die Autorin schildert ihr Leben in Moskau. Sie ist von der Extravaganz der Hauptstadt beeindruckt und macht deutlich, dass die Moskauer sich für den Rest des Landes nicht wirklich interessieren. Was außerhalb des Autobahnrings der Hauptstadt liegt, betreffe sie nicht. Man halte sich vor Augen: Jeder 10. Russe lebt in Moskau! Wichtiger für die Moskauer sei es, einen ausschweifenden Lebensstil zu führen, die modernsten Klamotten zu tragen und die angesagtesten Künstler zu kennen.

Am Beispiel von Bahnarbeitern entlang der Strecke Moskau – St.Petersburg (eine schöne Anspielung auf Radischtschew!) verdeutlicht die Autorin die gewaltigen sozialen Ungleichheiten, die im Land herrschen. Höhere Bildungsabschlüsse führten nicht zwangsläufig zu mehr Gehalt. Geringqualifizierte Jobs würden teils besser vergütet als hochqualifizierte (dies kann ich übrigens aus eigener Erfahrung bestätigen). Wir erhalten einen Einblick in verschiedene kleine Dörfer und lernen etwas über die schlechte Infrastruktur. Die medizinische Versorgung ist katastrophal, Einkäufe sind beschwerlich. Die alten Leute haben schon Schwierigkeiten damit, überhaupt in die Bahn zu besteigen. So etwas wie behindertengerechte Verkehrsmittel kennt man in Russland nicht. Wir lauschen Erzählungen über Trunksucht und verwahrloste Schulkinder. Die Bewohner schimpfen auf Verwaltung und Regierung. Und mitten hindurch durch diese armseligen Gegenden fährt der Schnellzug „Sapsan“, ein Stück Hochtechnologie, das sich nicht einmal jeder Russe leisten kann. Was für ein unglaublicher Kontrast! Und die Autorin lauscht auch den Gesprächen an Bord des Sapsans. Es ist eine völlig andere Welt! Die Passagiere an Bord interessieren sich nicht einmal für die Tristesse außerhalb des Schnellzugs.

 

 

Kapitel 4

In diesem Kapitel verweist die Autorin auf die massenhaften Abschiebungen von Georgiern. Der Rassismus gegenüber Georgiern sei allgegenwärtig, ihre Diskriminierung sei an der Tagesordnung. In den Medien sei ein entsprechendes Feindbild ebenfalls kolportiert worden. Innerhalb von zwei Monaten seien 2500 Georgier des Landes verwiesen worden, oft ohne jegliche Gerichtsverhandlung. Am Beispiel von Manana Dschabelija wird den Leser:innen ein tragisches Schicksal vor Augen geführt. Sie ist in Abschiebehaft verstorben. Es wird deutlich, dass man immer dann mit Schikanen seitens der Polizei zu kämpfen hätte, wenn man aufbegehrt, wenn man sich nicht anpasst, wenn man sich nicht unterordnet. Auf Dauer führten diese Schikanen bei aufrechten Bürgern zu gesundheitlichen Problemen wie Bluthochdruck etc. Das musste Manana am eigenen Leib unter Verlust ihres Lebens erfahren.

Und die Autorin gewährt uns einen Einblick in die Polizeiarbeit. Sie hat sich als Praktikantin bei der Kripo in einen Randbezirk von Moskau eingeschleust. Es sei üblich, von unbescholtenen Bürgern unter dem Vorwand falscher Anschuldigungen Geld einzunehmen (so genannte „Gebühren“) oder Protokolle zu fingieren. Schmiergelder würden erpresst, Geständnisse und Aussagen erzwungen. Auf Gefangene würde psychischer Druck ausgeübt. Bei Verstößen würden sich die Beamten gegenseitig decken. Kurzum: Polizeigewalt ist in Russland an der Tagesordnung. Der polizeilichen Willkür ist Tür und Tor geöffnet. Und man ist den Polizisten machtlos ausgeliefert.

 

Kapitel 6

Am Beispiel einer Taxifahrt macht Kostjutschenko deutlich, dass man als Frau in Russland stets mit sexistischen Übergriffen rechnen muss. Sie schildert eine Fahrt mit einem Taxifahrer, der sie belästigt und ihr sexuelle Avancen macht. In einer weiteren Reportage begleitet die Autorin Prostituierte für eine Nacht bei ihrer Arbeit.

 

Kapitel 7

Hier berichtet die Autorin von ihrer lesbischen Partnerschaft und ihrer Tätigkeit als Aktivistin. Sie berichtet davon, wie mit Homosexuellen umgegangen wird. Sie werden diskriminiert. So erhalten sie z.B. keinen Kredit bei der Bank. Auf Demonstrationen werden sie verprügelt, ohne dass die Polizei eingreift. Am Beispiel eines Mordes an einem männlich-homosexuellen Paar schildert die Autorin die Reaktionen von Nachbarn darauf. Erschreckend: Die Nachbarn äußern zahlreiche Vorurteile über das Paar und zeigen wenig Empathie. Einige geben sogar offen zu, dass sie Vandalismus gegenüber den Mordopfern verübt haben und sie schikaniert haben.

 

Kapitel 8

Im Zuge des sowjetischen kulturellen Anpassungsdrucks ist das nördlichste Volk Russlands sesshaft geworden: Die Nganasanen. Über sie berichtet Kostjutschenko in einer weiteren Reportage. Sie besucht die Stadt Ust-Awam und erläutert die ärmlichen Lebensbedingungen vor Ort. Der Wodka sei ein großes Problem, die Bildungschancen seien schlecht, die Selbstmordrate sei hoch. Es besteht die Gefahr, dass die indigene Kultur in naher Zukunft völlig verschwindet.

 

Kapitel 9

Hier geht es um die Jahre 2013 und 2014. Am Beispiel ihrer eigenen Mutter verdeutlich die Autorin, wie stark die russische Propaganda wirkt. Die mediale Berichterstattung prägt die Sichtweise der Mutter auf die Geschehnisse in der Ukraine. Sie plappert nach, was ihr im Fernsehen vorgegeben wird. Es kommt zum Streit mit ihrer eigenen Mutter, ein Riss geht durch die Familie. Sicherlich kein Einzelfall!  

In ihrer Reportage beschreibt die Autorin die Rekrutierungspraxis der Gruppe russischer Freiwilliger im Donbass. Diese wird massiv über soziale Medien gesteuert. Die Administratoren entsprechender Gruppen bleiben dabei anonym. Neben der Online- Rekrutierung gibt es auch Rekrutierungsstellen in Rostov am Don. Kostjutschenko begleitet eine Witwe auf der Suche nach ihrem gefallenen Mann. Sie stoßen überall auf Widerstände.

 

Kapitel 10

Die Autorin erinnert an den Terroranschlag in Beslan. Putin habe bei der Geiselnahme einer Schule damals bereits sein wahres Gesicht gezeigt, so Kostjutschenko. Die Liquidierung der Terroristen auf Kosten von Kinderleben sei ihm wichtiger gewesen. Es habe nicht einmal den Versuch gegeben, mit den Geiselnehmern zu verhandeln. 12 Jahre nach dem Anschlag nimmt die Autorin an Feierlichkeiten zum Gedenken teil und stößt dabei auf massive Schikanen. Von den Sicherheitskräften vor Ort wird ihr das Handy und ihr Notizheft abgenommen. Protestierende Mütter, die skandieren, dass Putin ein Mörder sei, werden abgeführt und in Gewahrsam genommen. Kostjutschenko führt Gespräche mit Opfern von damals. Das Leid der Betroffenen, die Traumata, die schweren inneren und äußeren Verletzungen – all das wird greifbar.

 

Kapitel 11

Die Autorin erinnert an ermordete Investigativjournalisten, die kritisch über ihr Land berichteten und zu Verfehlungen von Politikern recherchierten. Wollen Journalisten unliebsame Dinge ans Tageslicht befördern, müssten sie um ihr Leben fürchten. Am Beispiel eines Falls in Norilsk wird die Korruption thematisiert. Die Verursachung einer Naturkatastrophe soll vertuscht werden. Durch das Entweichen von Kraftstoff entsteht ein gewaltiger Umweltschaden, aber niemand will dafür verantwortlich sein oder weiß etwas davon. Kostjutschenko macht klar, dass es v.a. an Aufsichtsbehörden fehlt.

 

Kapitel 12

Hier wird ein Einblick in eine PNI gewährt, ein psychisch-neurologisches Institut für Erwachsene. Die schrecklichen Zustände und der triste, lieblos-monotone Tagesablauf werden geschildert. Wir lernen Patientenschicksale kennen. In der PNI landen alle Menschen mit psychischen und neurologischen Erkrankungen, um die sich die Angehörigen nicht mehr kümmern wollen. In dem Internat sind 436 Menschen untergebracht, 42 von ihnen sind mündig. Es wird deutlich, dass die Einrichtung personell unterausgestattet ist. Das ganze Leben spielt sich auf Kommando ab. Essen, schlafen, spazieren gehen, einnehmen von Medikamenten – das alles passiert auf Kommando. Wehrt man sich, macht den Mund auf oder widersetzt sich, erhält man direkt „die Spritze“ zur Beruhigung. Die Patienten sind dem medizinischen Personal hilflos ausgeliefert. In Notizheften wird festgehalten, wenn sie sich nach Ansicht des Personals unangemessen verhalten. Dann drohen schwerwiegende Konsequenzen. Per Gerichtsbeschluss können Menschen entmündigt werden, und das auch in Abwesenheit der Erkrankten. Eine entmündigte Person erhält einen Vormund und verliert wichtige (Menschen-)Rechte. Eine unmündige Person darf das Institut nicht mehr verlassen. Die Patient:innen werden nicht darüber informiert, welche Medikation sie erhalten. Es kommt auch zu Zwangsabtreibungen und Zwangssterilisationen. Ungefragt werden die Bewohner:innen des Instituts kahl rasiert. Die Rehabilitationsabteilung ist eine Farce. In zwanzig Jahren sind nur vier Menschen, in die Freiheit und Eigenverantwortung entlassen worden. Und die Kehrseite der Rehabilitation: Ständige unbezahlte Arbeit. Besonders heikel: Am Beispiel einer Patientin macht die Autorin deutlich, dass die Diagnosen nicht immer zutreffend sind!


Kapitel 13

Hier steht die Kriegsberichterstattung aus der Ukraine vom März 2022 im Vordergrund. Die Autorin ist vor Ort und interviewt Augenzeugen auf ukrainischer Seite. Berichte von erschütternder Brutalität des Krieges. Besonders ergreifend: Ein Bericht aus der Geburtsklinik von Mykolajiw. Bei einer Patientin fielen der Entbindungstermin und der Beginn des Krieges auf den gleichen Tag. Der Wunsch der jungen Eltern: Frieden und Ruhe für das Neugeborene.