Hilfsbereitschaft
Die
Stärke des Romans ist in meinen Augen die Charakterzeichnung von Jimmy. Er
leidet einerseits unter der Scheidung seiner Eltern sowie den beruflichen
Verfehlungen seines Vaters und legt einige ungewöhnliche, auffällige
Verhaltensweisen an den Tag. Andererseits ist er ein außerordentlich
leistungsstarker Schüler, der sich aufopferungsvoll um seinen neuen Mitschüler
Tristan und dessen Lernerfolg kümmert. Es wird sehr gut deutlich, dass Jimmy zeitgleich
Außenseiter und hilfsbereiter Freund ist. Allerdings wirkt seine
Hilfsbereitschaft besitzergreifend und obsessiv, sie geht über ein normales Maß
hinaus, war mein Eindruck. Er nimmt seine Aufgabe mehr als ernst. Jimmy scheint
selbst eine schwere Zeit durchzumachen. Und zugleich ist er sehr, sehr stark
auf Tristan fixiert. Das Verhalten von Jimmy hat stellenweise etwas Zwanghaftes
an sich. Alles muss seine Ordnung haben, das zeigt sich insbesondere bei seiner
Sammelleidenschaft. Nicht zuletzt ist er sehr leichtgläubig und beeinflussbar,
stellenweise wird sogar deutlich, dass er sich geprüft fühlt. Als Familie
Ibrahimi in eine Krise gerät, will Jimmy helfen und hinterfragt in meinen Augen
(zu) wenig. Die Verzweiflung der Ibrahimis führt zu einem Akt des irrationalen
Handelns. Und Tristan scheint Jimmys Gutmütigkeit und Naivität ausnutzen. Oder
ist es doch nur kindlicher Leichtsinn, der sich hier zeigt? Für mich sind hier verschiedene
Lesarten deutlich. Das hat mir sehr gut gefallen!
Was
in erzählerischer Hinsicht sehr gelungen ist, ist der Umstand, dass wir die
ganze Zeit an Jimmys Perspektive gebunden sind. Aus seiner Sicht wird erzählt. Es
fehlt eine Außensicht auf ihn. Ich hätte mir stellenweise einen anderen
Blickwinkel gewünscht, um mir vorstellen zu können, wie Jimmy auf Tristan und
die Ibrahimis wirkt. Aber ich denke, die Autorin hat sich bewusst für diese
erzählerische Gestaltung entschieden, um auf diese Weise
Interpretationsspielräume zu eröffnen. Sehr geschickt! Am Ende kulminiert die
Handlung in einem packenden Höhepunkt. Der Aufbau von Spannung ist der Autorin
sehr gut gelungen. Als Leser:in ahnt man und man befürchtet, worauf es
hinausläuft, aber man hofft bis zum Ende, dass es nicht so weit kommt. Das Ende
problematisiert eine zentrale Frage im Hinblick auf „Flucht“: Wohin führt es,
wenn man institutionellen Druck auf Flüchtlinge ausübt? Ein Thema, das
hochaktuell ist. Von mir gibt es für dieses großartige Buch 5 Sterne!
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