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Freitag, 22. März 2024

Schachinger, Tonio - Echtzeitalter


Schule als Freiheitsentzug


Ein Roman, in dem es um die Themen „Lernen, Lehren und Schule“ geht, noch dazu ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2023. Pflichtlektüre für mich, würde ich sagen. Handlungsort ist ein elitäres Wiener Internat. Und schon die Vorstellung dieser Bildungseinrichtung zu Beginn überzeugt und schreckt ab. Schein und Sein liegen weit auseinander. Das Marianum ist kein einladender Ort, an dem man gerne seine Jugendzeit verbringt. Ergänzt wird dieses negative Bild von Schule um einen ganz speziellen Lehrer, der nur wenig Sympathie erregt. Er wird stets beim Familiennamen genannt, erweitert um den bestimmten Artikel, der deutlich macht, dass dieser Lehrer jedem Lernenden am Marianum bekannt ist: Der Dolinar. Eine herrische und despotische Lehrkraft, der Disziplin über alles geht und die das Fehlverhalten seiner Lernenden v.a. mit Aufsatzschreiben sanktioniert. Bezeichnend ist bereits, nach welchen Regeln er seine Klassenlektüre auswählt: „Nichts aus dem zwanzigsten Jahrhundert, keine Übersetzungen und nichts, was nicht als Reclamheft erhältlich ist.“ (S. 17). Werke, die die Lebenswelt der Zöglinge abbilden oder sie gar amüsieren, sind ihm zuwider. Im Zentrum seines Unterrichts steht vor allem eines: Die Wissensvermittlung, und zwar in Form von Fakten, Fakten, Fakten.

 

Die Schülerinnen und Schüler werden durch die Klassenlektüren „gepeitscht“, ihr Wissen dazu wird in Form geschlossener Wissensabfragen abgeprüft (oft unangekündigt und überraschend). Und wer nichts angemessen reagiert, der wird fertig gemacht, gedemütigt und vorgeführt. Ständiger Druck, ständige Angst vor Sanktionen. Das ist die Lernatmosphäre am Marianum. Und der Dolinar gibt vor, was die Lerndenden zu denken haben. Neben dem Einblick in den Unterrichtsstil vom Dolinar erhalten wir einen Einblick in die vielen Unfreiheiten des Schulbetriebs. Die Lehrkräfte erscheinen allesamt als skurrile Exoten. Die Berufswege am elitären Internat sind vorgezeichnet und beschränken sich auf die folgenden drei Möglichkeiten: Jura, Medizin oder BWL. Und die meisten der Lernenden hinterfragen ihren vorherbestimmten Werdegang nicht.

 

Till ist einer der Schüler am Marianum. Er ist die zweite Hauptfigur, die wir durch sein Schulleben begleiten. Er hält sich lieber im Hintergrund und ist mathematikinteressiert. Schon aus diesem Grund ist er eine Ausnahme an dem eher sprachlich ausgerichteten Internat (zu den Pflichtfächern zählen drei Fremdsprachen und Latein). Für den Dolinar ist Till ein „Zahlenmensch“, kein „Kulturmensch“.. Schublade auf, Schüler rein, fertig. Das kennt wohl jeder Leser aus eigener Erfahrung. Und wir sehen, dass Till rastlos einer außerschulischen Leidenschaft nachgeht. Dem Spielen von Age of Empires 2. Darin ist er überdurschnittlich und beweist besondere Fähigkeiten. Er durchdringt das Spiel völlig. Ein schöner Kontrast, der hier deutlich wird. Die Schule als Ort der Unterdrückung auf der einen Seite, die Flucht in die virtuelle Realität auf der anderen Seite. Doch die Anerkennung des Lehrers bleibt Till versagt. Was Till außerschulisch zu leisten im Stande ist, das interessiert den Dolinar nicht…

 

Bei Age of Empires erlebt Till Erfolgserlebnisse, während er sich in der Schule gerade so über Wasser halten kann. Was mir auch gefiel: Der computerspielbasierte Sprachgebrauch kommt gut und authentisch zum Ausdruck. Es wird ein interessanter Einblick in diese jugendliche Lebenswelt von „Gaming“ und die dahinterliegende Spielkultur vermittelt, der die Erwachsenen nichts abgewinnen können. Das wird nur allzu deutlich, besonders am Beispiel der Mutter. Als Till ihr das Spiel demonstriert und ihr erklären will, worum es geht, versteht sie kein Wort und ist überfordert. Er ist der Experte, sie bleibt unverständiger Laie. Sie finden keine gemeinsame Sprache.

 

Nun zu den Punkten, die mir bei der Lektüre nicht so gut gefallen haben: Der Autor verlor sich nach meinem Geschmack oft in redundanten Nebenschauplätzen. Mitschüler:innen werden teils sehr ausführlich vorgestellt, stellenweise sind mir die Schilderungen des Schulalltags zu ausführlich, zu detailverliebt und nicht pointiert sowie zielführend genug (z.B. auch das Treiben im Rauchereck). Am besten gefallen hat mir das erste Drittel des Buchs, danach „zerfasert“ mir die Handlung zu sehr. Für mich war mit zunehmendem Handlungsverlauf keine klare Schwerpunktsetzung mehr erkennbar. Verschiedene Episoden aus dem Schulalltag werden recht zusammenhanglos aneinandergereiht, es gibt keinen Spannungsbogen o.ä.. Ich hätte mir gewünscht, dass das Thema „Gaming“ noch stärker in den Vordergrund gerückt wird (z.B. die Schilderung eines Turniers o.ä.).

 

Das Bild von Schule wirkte auf mich zudem aus der Zeit gefallen. Oder funktioniert Schule heute noch so, wie im Buch dargestellt? Ich denke, nicht. Das Schulleben, das Lernklima und die Atmosphäre am Marianum stellen einen Mikrokosmos dar, der für sich steht. Man kann daraus aber keine allgemeine Kritik am Schulsystem ableiten. Lediglich der Lehrertypus des Dolinar dürfte jedem Menschen bereits in der eigenen Schulbiographie begegnet sein (ich fühlte mich z.B. sehr stark an meinen früheren Lateinlehrer erinnert). Aber dennoch: Das Lernen und Lehren am Marianum kann in meinen Augen nicht exemplarisch für die Schulwirklichkeit an anderen Schulen stehen und ist nicht repräsentativ. Spannend hätte ich gefunden, wenn Schachinger nicht ein elitäres Internat als Handlungsort gewählt hätte.

2 Kommentare:

Volker Kaiser hat gesagt…

So einen Lehrer wünscht sich niemand. Trotzdem glaube ich, dass die Schilderungen im Buch etwas aus der Zeit gefallen sind. Kein Schüler läßt sich heutzutage so eine Behandlung gefallen. Warum hättest du es spannender gefunden, wenn es nicht um ein elitäres Internat gegangen wäre? VG

Tobias Kallfell hat gesagt…

Wäre nicht ein elitäres Internat als Handlungsort gewählt worden, sondern evtl ein Gymnasium in einer x-beliebigen Stadt, dann hätte man stärker eine mögliche allgemeine Kritik daraus ableiten können. So bleibt es auf den Mikrokosmos des Marianum beschränkt.

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