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Donnerstag, 7. März 2024

Kostjutschenko, Jelena - Das Land, das ich liebe. Wie es wirklich ist, in Russland zu leben


Hart, schonungslos, erschütternd



Mit dem Sachbuch „Das Land, das ich liebe. Wie es wirklich ist in Russland zu leben“ legt die Autorin Jelena Kostjutschenko ein Werk vor, das es in sich hat. Es ist ein Blick tief hinein ins Land, ein Blick auf die einfachen Leute am Rande der Gesellschaft. Und Kostjutschenko legt die Finger tief hinein in die zahlreichen „offenen Wunden“ des Landes. Hier geht es nicht um den Baikalsee, die russische Seele, Gastfreundschaft oder die Transsibirische Eisenbahn, wie man sie aus zahlreichen ARD- und ZDF-Dokumentationen kennt. Nein, hier wird absolut kein romantisches Bild von Müttcherchen Russland gezeigt. Die Autorin zeichnet ein schonungsloses und hartes Porträt ihrer Heimat. Sie geht dahin, wo es wehtut und wirft ein Licht auf die Schattenseiten des Landes.

 

Doch wer ist die Autorin? Kostjutschenko, geboren 1987 und aufgewachsen in Jaroslawl, ist eine der bekanntesten Investigativjournalistinnen des Landes. Sie war die erste, die über „Pussy Riot“ schrieb, und wurde mehrfach verhaftet und misshandelt. Seit ihrem 17. Lebensjahr schrieb sie für die „Nowaja Gazeta“, die wichtigste unabhängige Zeitung Russlands, die inzwischen nicht mehr existiert (vgl. dazu das Nachwort). Inzwischen lebt sie im deutschen Exil und schreibt für das englischsprachige Online-Portal „Meduza“. Im Herbst 2022 wurde vermutlich ein Giftanschlag auf sie verübt, den sie überlebte. Die Ermittlungen dazu laufen noch.

 

Gestolpert bin ich zunächst über den Titel: „Das Land, das ich liebe“. Kann man dieses Land aktuell noch lieben und ihm seine Zuneigung bekunden? Wenn man im Internet recherchiert, findet man Informationen dazu, wie Kostjutschenko den Titel versteht. Sie liebt nach wie vor die Menschen in dem Land und will etwas verändern. Sie gibt die Menschen in dem Land nicht auf und hofft durch Aktivismus, ihre Heimat zu verbessern. Das ist eine Hoffnung, die ich nachvollziehen kann. Allerdings bin ich momentan sehr skeptisch, ob das möglich ist. Inzwischen dauert der Angriffskrieg auf die Ukraine schon zwei Jahre und es zeichnet sich kein schnelles Ende ab. In Russland herrschen Angst und Repression. Die politische Opposition ist durch Nawalnys Tod noch einmal geschwächt worden. Es deutet nichts darauf hin, dass die Bevölkerung sich gegen die Unterdrückung aufbäumt und ihre Freiheit verteidigt. Wie soll es bloß mit diesem Land weitergehen?

 

Doch zurück zum Buch. In ihm sind Reportagen zu verschiedenen Themen versammelt. Und was ich interessant finde: Die Autorin hält sich mit eigenen Urteilen und Bewertungen zurück. Sie überlässt es den Leser:innen, welche Rückschlüsse sie aus dem Gelesenen ziehen. Als Autorin drängt sie sich den Leser:innen nicht auf und vertraut darauf, dass diese selbstständig genug sind, zu einem Urteil zu gelangen. Sie lässt die Interviewten ausführlich zu Wort kommen und agiert weitgehend wie eine „neutrale“ Teilnehmende Beobachterin. Das hat mir richtig gut gefallen! Darüber hinaus gewährt die Autorin auch autobiographische Einblicke.

 

Kapitel 1

Die Autorin schildert Kindheitserinnerungen und macht auf diese Weise deutlich, was sie geprägt hat. Dazu gehören z.B. der Untergang der Sowjetunion sowie die Amtszeit Jelzins. Nach diesen wirren, chaotischen Jahren sei Putin ihr als neuer Hoffnungsträger erschienen. Sehr stark beeinflusst wurde Kostjutschenko als 14-jährige von Anna Politkowskaja und ihren damaligen Reportagen. Erstmals sei ihr Weltbild ins Wanken geraten, so die Autorin. Am Beispiel von Medwedews Amtseinführung macht sie deutlich, wie sehr die mediale Berichterstattung inszeniert wird. Bis ins kleinste Detail wird der Akt einstudiert und die Choreografie geübt. Raum für Zufälle und Spontanität gibt es nicht.

 

Kapitel 2

Mit dem Tod ihres Stiefbruders Wanja endet die Kindheit der Autorin. In einer Reportage geht die Autorin auf das Schicksal von verwahrlosten Kindern und Jugendlichen aus zerrütteten Familien ein, die in einer Bauruine leben. Das Krankenhaus, in dem sie sich aufhalten, ist nie fertiggestellt worden. Um Geld zu verdienen bieten sie u.a. Touren für Touristen an. Der Umgangston der Jugendlichen ist rau, grob und hart. Trunksucht, Gewalt und Abtreibungen sind an der Tagesordnung. Gleichzeitig herrscht eine große Angst vor der Polizei. Ein Blick in den Abgrund…

 

Kapitel 3

Die Autorin schildert ihr Leben in Moskau. Sie ist von der Extravaganz der Hauptstadt beeindruckt und macht deutlich, dass die Moskauer sich für den Rest des Landes nicht wirklich interessieren. Was außerhalb des Autobahnrings der Hauptstadt liegt, betreffe sie nicht. Man halte sich vor Augen: Jeder 10. Russe lebt in Moskau! Wichtiger für die Moskauer sei es, einen ausschweifenden Lebensstil zu führen, die modernsten Klamotten zu tragen und die angesagtesten Künstler zu kennen.

Am Beispiel von Bahnarbeitern entlang der Strecke Moskau – St.Petersburg (eine schöne Anspielung auf Radischtschew!) verdeutlicht die Autorin die gewaltigen sozialen Ungleichheiten, die im Land herrschen. Höhere Bildungsabschlüsse führten nicht zwangsläufig zu mehr Gehalt. Geringqualifizierte Jobs würden teils besser vergütet als hochqualifizierte (dies kann ich übrigens aus eigener Erfahrung bestätigen). Wir erhalten einen Einblick in verschiedene kleine Dörfer und lernen etwas über die schlechte Infrastruktur. Die medizinische Versorgung ist katastrophal, Einkäufe sind beschwerlich. Die alten Leute haben schon Schwierigkeiten damit, überhaupt in die Bahn zu besteigen. So etwas wie behindertengerechte Verkehrsmittel kennt man in Russland nicht. Wir lauschen Erzählungen über Trunksucht und verwahrloste Schulkinder. Die Bewohner schimpfen auf Verwaltung und Regierung. Und mitten hindurch durch diese armseligen Gegenden fährt der Schnellzug „Sapsan“, ein Stück Hochtechnologie, das sich nicht einmal jeder Russe leisten kann. Was für ein unglaublicher Kontrast! Und die Autorin lauscht auch den Gesprächen an Bord des Sapsans. Es ist eine völlig andere Welt! Die Passagiere an Bord interessieren sich nicht einmal für die Tristesse außerhalb des Schnellzugs.

 

 

Kapitel 4

In diesem Kapitel verweist die Autorin auf die massenhaften Abschiebungen von Georgiern. Der Rassismus gegenüber Georgiern sei allgegenwärtig, ihre Diskriminierung sei an der Tagesordnung. In den Medien sei ein entsprechendes Feindbild ebenfalls kolportiert worden. Innerhalb von zwei Monaten seien 2500 Georgier des Landes verwiesen worden, oft ohne jegliche Gerichtsverhandlung. Am Beispiel von Manana Dschabelija wird den Leser:innen ein tragisches Schicksal vor Augen geführt. Sie ist in Abschiebehaft verstorben. Es wird deutlich, dass man immer dann mit Schikanen seitens der Polizei zu kämpfen hätte, wenn man aufbegehrt, wenn man sich nicht anpasst, wenn man sich nicht unterordnet. Auf Dauer führten diese Schikanen bei aufrechten Bürgern zu gesundheitlichen Problemen wie Bluthochdruck etc. Das musste Manana am eigenen Leib unter Verlust ihres Lebens erfahren.

Und die Autorin gewährt uns einen Einblick in die Polizeiarbeit. Sie hat sich als Praktikantin bei der Kripo in einen Randbezirk von Moskau eingeschleust. Es sei üblich, von unbescholtenen Bürgern unter dem Vorwand falscher Anschuldigungen Geld einzunehmen (so genannte „Gebühren“) oder Protokolle zu fingieren. Schmiergelder würden erpresst, Geständnisse und Aussagen erzwungen. Auf Gefangene würde psychischer Druck ausgeübt. Bei Verstößen würden sich die Beamten gegenseitig decken. Kurzum: Polizeigewalt ist in Russland an der Tagesordnung. Der polizeilichen Willkür ist Tür und Tor geöffnet. Und man ist den Polizisten machtlos ausgeliefert.

 

Kapitel 6

Am Beispiel einer Taxifahrt macht Kostjutschenko deutlich, dass man als Frau in Russland stets mit sexistischen Übergriffen rechnen muss. Sie schildert eine Fahrt mit einem Taxifahrer, der sie belästigt und ihr sexuelle Avancen macht. In einer weiteren Reportage begleitet die Autorin Prostituierte für eine Nacht bei ihrer Arbeit.

 

Kapitel 7

Hier berichtet die Autorin von ihrer lesbischen Partnerschaft und ihrer Tätigkeit als Aktivistin. Sie berichtet davon, wie mit Homosexuellen umgegangen wird. Sie werden diskriminiert. So erhalten sie z.B. keinen Kredit bei der Bank. Auf Demonstrationen werden sie verprügelt, ohne dass die Polizei eingreift. Am Beispiel eines Mordes an einem männlich-homosexuellen Paar schildert die Autorin die Reaktionen von Nachbarn darauf. Erschreckend: Die Nachbarn äußern zahlreiche Vorurteile über das Paar und zeigen wenig Empathie. Einige geben sogar offen zu, dass sie Vandalismus gegenüber den Mordopfern verübt haben und sie schikaniert haben.

 

Kapitel 8

Im Zuge des sowjetischen kulturellen Anpassungsdrucks ist das nördlichste Volk Russlands sesshaft geworden: Die Nganasanen. Über sie berichtet Kostjutschenko in einer weiteren Reportage. Sie besucht die Stadt Ust-Awam und erläutert die ärmlichen Lebensbedingungen vor Ort. Der Wodka sei ein großes Problem, die Bildungschancen seien schlecht, die Selbstmordrate sei hoch. Es besteht die Gefahr, dass die indigene Kultur in naher Zukunft völlig verschwindet.

 

Kapitel 9

Hier geht es um die Jahre 2013 und 2014. Am Beispiel ihrer eigenen Mutter verdeutlich die Autorin, wie stark die russische Propaganda wirkt. Die mediale Berichterstattung prägt die Sichtweise der Mutter auf die Geschehnisse in der Ukraine. Sie plappert nach, was ihr im Fernsehen vorgegeben wird. Es kommt zum Streit mit ihrer eigenen Mutter, ein Riss geht durch die Familie. Sicherlich kein Einzelfall!  

In ihrer Reportage beschreibt die Autorin die Rekrutierungspraxis der Gruppe russischer Freiwilliger im Donbass. Diese wird massiv über soziale Medien gesteuert. Die Administratoren entsprechender Gruppen bleiben dabei anonym. Neben der Online- Rekrutierung gibt es auch Rekrutierungsstellen in Rostov am Don. Kostjutschenko begleitet eine Witwe auf der Suche nach ihrem gefallenen Mann. Sie stoßen überall auf Widerstände.

 

Kapitel 10

Die Autorin erinnert an den Terroranschlag in Beslan. Putin habe bei der Geiselnahme einer Schule damals bereits sein wahres Gesicht gezeigt, so Kostjutschenko. Die Liquidierung der Terroristen auf Kosten von Kinderleben sei ihm wichtiger gewesen. Es habe nicht einmal den Versuch gegeben, mit den Geiselnehmern zu verhandeln. 12 Jahre nach dem Anschlag nimmt die Autorin an Feierlichkeiten zum Gedenken teil und stößt dabei auf massive Schikanen. Von den Sicherheitskräften vor Ort wird ihr das Handy und ihr Notizheft abgenommen. Protestierende Mütter, die skandieren, dass Putin ein Mörder sei, werden abgeführt und in Gewahrsam genommen. Kostjutschenko führt Gespräche mit Opfern von damals. Das Leid der Betroffenen, die Traumata, die schweren inneren und äußeren Verletzungen – all das wird greifbar.

 

Kapitel 11

Die Autorin erinnert an ermordete Investigativjournalisten, die kritisch über ihr Land berichteten und zu Verfehlungen von Politikern recherchierten. Wollen Journalisten unliebsame Dinge ans Tageslicht befördern, müssten sie um ihr Leben fürchten. Am Beispiel eines Falls in Norilsk wird die Korruption thematisiert. Die Verursachung einer Naturkatastrophe soll vertuscht werden. Durch das Entweichen von Kraftstoff entsteht ein gewaltiger Umweltschaden, aber niemand will dafür verantwortlich sein oder weiß etwas davon. Kostjutschenko macht klar, dass es v.a. an Aufsichtsbehörden fehlt.

 

Kapitel 12

Hier wird ein Einblick in eine PNI gewährt, ein psychisch-neurologisches Institut für Erwachsene. Die schrecklichen Zustände und der triste, lieblos-monotone Tagesablauf werden geschildert. Wir lernen Patientenschicksale kennen. In der PNI landen alle Menschen mit psychischen und neurologischen Erkrankungen, um die sich die Angehörigen nicht mehr kümmern wollen. In dem Internat sind 436 Menschen untergebracht, 42 von ihnen sind mündig. Es wird deutlich, dass die Einrichtung personell unterausgestattet ist. Das ganze Leben spielt sich auf Kommando ab. Essen, schlafen, spazieren gehen, einnehmen von Medikamenten – das alles passiert auf Kommando. Wehrt man sich, macht den Mund auf oder widersetzt sich, erhält man direkt „die Spritze“ zur Beruhigung. Die Patienten sind dem medizinischen Personal hilflos ausgeliefert. In Notizheften wird festgehalten, wenn sie sich nach Ansicht des Personals unangemessen verhalten. Dann drohen schwerwiegende Konsequenzen. Per Gerichtsbeschluss können Menschen entmündigt werden, und das auch in Abwesenheit der Erkrankten. Eine entmündigte Person erhält einen Vormund und verliert wichtige (Menschen-)Rechte. Eine unmündige Person darf das Institut nicht mehr verlassen. Die Patient:innen werden nicht darüber informiert, welche Medikation sie erhalten. Es kommt auch zu Zwangsabtreibungen und Zwangssterilisationen. Ungefragt werden die Bewohner:innen des Instituts kahl rasiert. Die Rehabilitationsabteilung ist eine Farce. In zwanzig Jahren sind nur vier Menschen, in die Freiheit und Eigenverantwortung entlassen worden. Und die Kehrseite der Rehabilitation: Ständige unbezahlte Arbeit. Besonders heikel: Am Beispiel einer Patientin macht die Autorin deutlich, dass die Diagnosen nicht immer zutreffend sind!


Kapitel 13

Hier steht die Kriegsberichterstattung aus der Ukraine vom März 2022 im Vordergrund. Die Autorin ist vor Ort und interviewt Augenzeugen auf ukrainischer Seite. Berichte von erschütternder Brutalität des Krieges. Besonders ergreifend: Ein Bericht aus der Geburtsklinik von Mykolajiw. Bei einer Patientin fielen der Entbindungstermin und der Beginn des Krieges auf den gleichen Tag. Der Wunsch der jungen Eltern: Frieden und Ruhe für das Neugeborene. 

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