Doch
wer ist die Autorin? Kostjutschenko, geboren 1987 und aufgewachsen in
Jaroslawl, ist eine der bekanntesten Investigativjournalistinnen des Landes.
Sie war die erste, die über „Pussy Riot“ schrieb, und wurde mehrfach verhaftet
und misshandelt. Seit ihrem 17. Lebensjahr schrieb sie für die „Nowaja Gazeta“,
die wichtigste unabhängige Zeitung Russlands, die inzwischen nicht mehr
existiert (vgl. dazu das Nachwort). Inzwischen lebt sie im deutschen Exil und
schreibt für das englischsprachige Online-Portal „Meduza“. Im Herbst 2022 wurde
vermutlich ein Giftanschlag auf sie verübt, den sie überlebte. Die Ermittlungen
dazu laufen noch.
Gestolpert
bin ich zunächst über den Titel: „Das Land, das ich liebe“. Kann man dieses
Land aktuell noch lieben und ihm seine Zuneigung bekunden? Wenn man im Internet
recherchiert, findet man Informationen dazu, wie Kostjutschenko den Titel
versteht. Sie liebt nach wie vor die Menschen in dem Land und will etwas verändern.
Sie gibt die Menschen in dem Land nicht auf und hofft durch Aktivismus, ihre
Heimat zu verbessern. Das ist eine Hoffnung, die ich nachvollziehen kann.
Allerdings bin ich momentan sehr skeptisch, ob das möglich ist. Inzwischen dauert
der Angriffskrieg auf die Ukraine schon zwei Jahre und es zeichnet sich kein
schnelles Ende ab. In Russland herrschen Angst und Repression. Die politische
Opposition ist durch Nawalnys Tod noch einmal geschwächt worden. Es deutet
nichts darauf hin, dass die Bevölkerung sich gegen die Unterdrückung aufbäumt
und ihre Freiheit verteidigt. Wie soll es bloß mit diesem Land weitergehen?
Doch
zurück zum Buch. In ihm sind Reportagen zu verschiedenen Themen versammelt. Und
was ich interessant finde: Die Autorin hält sich mit eigenen Urteilen und
Bewertungen zurück. Sie überlässt es den Leser:innen, welche Rückschlüsse sie aus
dem Gelesenen ziehen. Als Autorin drängt sie sich den Leser:innen nicht auf und
vertraut darauf, dass diese selbstständig genug sind, zu einem Urteil zu
gelangen. Sie lässt die Interviewten ausführlich zu Wort kommen und agiert
weitgehend wie eine „neutrale“ Teilnehmende Beobachterin. Das hat mir richtig
gut gefallen! Darüber hinaus gewährt die Autorin auch autobiographische
Einblicke.
Kapitel
1
Die
Autorin schildert Kindheitserinnerungen und macht auf diese Weise deutlich, was
sie geprägt hat. Dazu gehören z.B. der Untergang der Sowjetunion sowie die
Amtszeit Jelzins. Nach diesen wirren, chaotischen Jahren sei Putin ihr als
neuer Hoffnungsträger erschienen. Sehr stark beeinflusst wurde Kostjutschenko
als 14-jährige von Anna Politkowskaja und ihren damaligen Reportagen. Erstmals sei
ihr Weltbild ins Wanken geraten, so die Autorin. Am Beispiel von Medwedews
Amtseinführung macht sie deutlich, wie sehr die mediale Berichterstattung
inszeniert wird. Bis ins kleinste Detail wird der Akt einstudiert und die
Choreografie geübt. Raum für Zufälle und Spontanität gibt es nicht.
Kapitel
2
Mit
dem Tod ihres Stiefbruders Wanja endet die Kindheit der Autorin. In einer
Reportage geht die Autorin auf das Schicksal von verwahrlosten Kindern und
Jugendlichen aus zerrütteten Familien ein, die in einer Bauruine leben. Das
Krankenhaus, in dem sie sich aufhalten, ist nie fertiggestellt worden. Um Geld
zu verdienen bieten sie u.a. Touren für Touristen an. Der Umgangston der
Jugendlichen ist rau, grob und hart. Trunksucht, Gewalt und Abtreibungen sind
an der Tagesordnung. Gleichzeitig herrscht eine große Angst vor der Polizei.
Ein Blick in den Abgrund…
Kapitel
3
Die
Autorin schildert ihr Leben in Moskau. Sie ist von der Extravaganz der
Hauptstadt beeindruckt und macht deutlich, dass die Moskauer sich für den Rest
des Landes nicht wirklich interessieren. Was außerhalb des Autobahnrings der
Hauptstadt liegt, betreffe sie nicht. Man halte sich vor Augen: Jeder 10. Russe
lebt in Moskau! Wichtiger für die Moskauer sei es, einen ausschweifenden
Lebensstil zu führen, die modernsten Klamotten zu tragen und die angesagtesten
Künstler zu kennen.
Am
Beispiel von Bahnarbeitern entlang der Strecke Moskau – St.Petersburg (eine
schöne Anspielung auf Radischtschew!) verdeutlicht die Autorin die gewaltigen
sozialen Ungleichheiten, die im Land herrschen. Höhere Bildungsabschlüsse
führten nicht zwangsläufig zu mehr Gehalt. Geringqualifizierte Jobs würden
teils besser vergütet als hochqualifizierte (dies kann ich übrigens aus eigener
Erfahrung bestätigen). Wir erhalten einen Einblick in verschiedene kleine
Dörfer und lernen etwas über die schlechte Infrastruktur. Die medizinische
Versorgung ist katastrophal, Einkäufe sind beschwerlich. Die alten Leute haben
schon Schwierigkeiten damit, überhaupt in die Bahn zu besteigen. So etwas wie behindertengerechte
Verkehrsmittel kennt man in Russland nicht. Wir lauschen Erzählungen über
Trunksucht und verwahrloste Schulkinder. Die Bewohner schimpfen auf Verwaltung
und Regierung. Und mitten hindurch durch diese armseligen Gegenden fährt der
Schnellzug „Sapsan“, ein Stück Hochtechnologie, das sich nicht einmal jeder
Russe leisten kann. Was für ein unglaublicher Kontrast! Und die Autorin lauscht
auch den Gesprächen an Bord des Sapsans. Es ist eine völlig andere Welt! Die
Passagiere an Bord interessieren sich nicht einmal für die Tristesse außerhalb
des Schnellzugs.
Kapitel
4
In
diesem Kapitel verweist die Autorin auf die massenhaften Abschiebungen von
Georgiern. Der Rassismus gegenüber Georgiern sei allgegenwärtig, ihre
Diskriminierung sei an der Tagesordnung. In den Medien sei ein entsprechendes
Feindbild ebenfalls kolportiert worden. Innerhalb von zwei Monaten seien 2500
Georgier des Landes verwiesen worden, oft ohne jegliche Gerichtsverhandlung. Am
Beispiel von Manana Dschabelija wird den Leser:innen ein tragisches Schicksal vor
Augen geführt. Sie ist in Abschiebehaft verstorben. Es wird deutlich, dass man
immer dann mit Schikanen seitens der Polizei zu kämpfen hätte, wenn man
aufbegehrt, wenn man sich nicht anpasst, wenn man sich nicht unterordnet. Auf
Dauer führten diese Schikanen bei aufrechten Bürgern zu gesundheitlichen
Problemen wie Bluthochdruck etc. Das musste Manana am eigenen Leib unter
Verlust ihres Lebens erfahren.
Und
die Autorin gewährt uns einen Einblick in die Polizeiarbeit. Sie hat sich als
Praktikantin bei der Kripo in einen Randbezirk von Moskau eingeschleust. Es sei
üblich, von unbescholtenen Bürgern unter dem Vorwand falscher Anschuldigungen
Geld einzunehmen (so genannte „Gebühren“) oder Protokolle zu fingieren.
Schmiergelder würden erpresst, Geständnisse und Aussagen erzwungen. Auf
Gefangene würde psychischer Druck ausgeübt. Bei Verstößen würden sich die
Beamten gegenseitig decken. Kurzum: Polizeigewalt ist in Russland an der
Tagesordnung. Der polizeilichen Willkür ist Tür und Tor geöffnet. Und man ist
den Polizisten machtlos ausgeliefert.
Kapitel
6
Am
Beispiel einer Taxifahrt macht Kostjutschenko deutlich, dass man als Frau in
Russland stets mit sexistischen Übergriffen rechnen muss. Sie schildert eine
Fahrt mit einem Taxifahrer, der sie belästigt und ihr sexuelle Avancen macht. In
einer weiteren Reportage begleitet die Autorin Prostituierte für eine Nacht bei
ihrer Arbeit.
Kapitel
7
Hier
berichtet die Autorin von ihrer lesbischen Partnerschaft und ihrer Tätigkeit
als Aktivistin. Sie berichtet davon, wie mit Homosexuellen umgegangen wird. Sie
werden diskriminiert. So erhalten sie z.B. keinen Kredit bei der Bank. Auf
Demonstrationen werden sie verprügelt, ohne dass die Polizei eingreift. Am
Beispiel eines Mordes an einem männlich-homosexuellen Paar schildert die
Autorin die Reaktionen von Nachbarn darauf. Erschreckend: Die Nachbarn äußern
zahlreiche Vorurteile über das Paar und zeigen wenig Empathie. Einige geben
sogar offen zu, dass sie Vandalismus gegenüber den Mordopfern verübt haben und
sie schikaniert haben.
Kapitel
8
Im
Zuge des sowjetischen kulturellen Anpassungsdrucks ist das nördlichste Volk
Russlands sesshaft geworden: Die Nganasanen. Über sie berichtet Kostjutschenko
in einer weiteren Reportage. Sie besucht die Stadt Ust-Awam und erläutert die
ärmlichen Lebensbedingungen vor Ort. Der Wodka sei ein großes Problem, die
Bildungschancen seien schlecht, die Selbstmordrate sei hoch. Es besteht die
Gefahr, dass die indigene Kultur in naher Zukunft völlig verschwindet.
Kapitel
9
Hier
geht es um die Jahre 2013 und 2014. Am Beispiel ihrer eigenen Mutter
verdeutlich die Autorin, wie stark die russische Propaganda wirkt. Die mediale
Berichterstattung prägt die Sichtweise der Mutter auf die Geschehnisse in der
Ukraine. Sie plappert nach, was ihr im Fernsehen vorgegeben wird. Es kommt zum
Streit mit ihrer eigenen Mutter, ein Riss geht durch die Familie. Sicherlich
kein Einzelfall!
In
ihrer Reportage beschreibt die Autorin die Rekrutierungspraxis der Gruppe
russischer Freiwilliger im Donbass. Diese wird massiv über soziale Medien
gesteuert. Die Administratoren entsprechender Gruppen bleiben dabei anonym.
Neben der Online- Rekrutierung gibt es auch Rekrutierungsstellen in Rostov am
Don. Kostjutschenko begleitet eine Witwe auf der Suche nach ihrem gefallenen
Mann. Sie stoßen überall auf Widerstände.
Kapitel
10
Die
Autorin erinnert an den Terroranschlag in Beslan. Putin habe bei der
Geiselnahme einer Schule damals bereits sein wahres Gesicht gezeigt, so
Kostjutschenko. Die Liquidierung der Terroristen auf Kosten von Kinderleben sei
ihm wichtiger gewesen. Es habe nicht einmal den Versuch gegeben, mit den
Geiselnehmern zu verhandeln. 12 Jahre nach dem Anschlag nimmt die Autorin an
Feierlichkeiten zum Gedenken teil und stößt dabei auf massive Schikanen. Von
den Sicherheitskräften vor Ort wird ihr das Handy und ihr Notizheft abgenommen.
Protestierende Mütter, die skandieren, dass Putin ein Mörder sei, werden
abgeführt und in Gewahrsam genommen. Kostjutschenko führt Gespräche mit Opfern
von damals. Das Leid der Betroffenen, die Traumata, die schweren inneren und
äußeren Verletzungen – all das wird greifbar.
Kapitel
11
Die
Autorin erinnert an ermordete Investigativjournalisten, die kritisch über ihr
Land berichteten und zu Verfehlungen von Politikern recherchierten. Wollen
Journalisten unliebsame Dinge ans Tageslicht befördern, müssten sie um ihr
Leben fürchten. Am Beispiel eines Falls in Norilsk wird die Korruption
thematisiert. Die Verursachung einer Naturkatastrophe soll vertuscht werden. Durch
das Entweichen von Kraftstoff entsteht ein gewaltiger Umweltschaden, aber niemand
will dafür verantwortlich sein oder weiß etwas davon. Kostjutschenko macht
klar, dass es v.a. an Aufsichtsbehörden fehlt.
Kapitel
12
Hier wird ein Einblick in eine PNI gewährt, ein psychisch-neurologisches Institut für Erwachsene. Die schrecklichen Zustände und der triste, lieblos-monotone Tagesablauf werden geschildert. Wir lernen Patientenschicksale kennen. In der PNI landen alle Menschen mit psychischen und neurologischen Erkrankungen, um die sich die Angehörigen nicht mehr kümmern wollen. In dem Internat sind 436 Menschen untergebracht, 42 von ihnen sind mündig. Es wird deutlich, dass die Einrichtung personell unterausgestattet ist. Das ganze Leben spielt sich auf Kommando ab. Essen, schlafen, spazieren gehen, einnehmen von Medikamenten – das alles passiert auf Kommando. Wehrt man sich, macht den Mund auf oder widersetzt sich, erhält man direkt „die Spritze“ zur Beruhigung. Die Patienten sind dem medizinischen Personal hilflos ausgeliefert. In Notizheften wird festgehalten, wenn sie sich nach Ansicht des Personals unangemessen verhalten. Dann drohen schwerwiegende Konsequenzen. Per Gerichtsbeschluss können Menschen entmündigt werden, und das auch in Abwesenheit der Erkrankten. Eine entmündigte Person erhält einen Vormund und verliert wichtige (Menschen-)Rechte. Eine unmündige Person darf das Institut nicht mehr verlassen. Die Patient:innen werden nicht darüber informiert, welche Medikation sie erhalten. Es kommt auch zu Zwangsabtreibungen und Zwangssterilisationen. Ungefragt werden die Bewohner:innen des Instituts kahl rasiert. Die Rehabilitationsabteilung ist eine Farce. In zwanzig Jahren sind nur vier Menschen, in die Freiheit und Eigenverantwortung entlassen worden. Und die Kehrseite der Rehabilitation: Ständige unbezahlte Arbeit. Besonders heikel: Am Beispiel einer Patientin macht die Autorin deutlich, dass die Diagnosen nicht immer zutreffend sind!
Kapitel 13
Hier steht die Kriegsberichterstattung aus der Ukraine vom März 2022 im Vordergrund. Die Autorin ist vor Ort und interviewt Augenzeugen auf ukrainischer Seite. Berichte von erschütternder Brutalität des Krieges. Besonders ergreifend: Ein Bericht aus der Geburtsklinik von Mykolajiw. Bei einer Patientin fielen der Entbindungstermin und der Beginn des Krieges auf den gleichen Tag. Der Wunsch der jungen Eltern: Frieden und Ruhe für das Neugeborene.
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