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Montag, 27. Februar 2023

Dusse, Karsten - Das Kind in mir will achtsam morden


5 von 5 Sternen


Fruchtquetschie-Alarm


Im zweiten Teil der Achtsam-Morden-Reihe knüpft Karsten Dusse nahtlos an den ersten Band an, und zwar wortwörtlich. Die erste Seite startet da, wo die letzte Seite von Band 1 endete. Man erfährt direkt, was aus Boris wurde. Das fand ich schon einmal eine großartige Idee! Und auch sonst greift Dusse bei „Das Kind in mir will achtsam morden“ auf die Zutaten zurück, die auch schon beim ersten Teil wunderbar funktioniert haben (vgl. eine frühere Rezension). Es gibt jede Menge Situationen, in die man sich hervorragend hineinversetzen kann (z.B. in einem Restaurant nicht bedient zu werden und ewig zu warten). Wieder sprüht das Buch vor bösem (schwarzem) Humor. Und dieses Mal findet nicht nur das Thema „Achtsamkeit“ Berücksichtigung, sondern auch die Theorie des „inneren Kinds“, und das durchaus kenntnisreich und mit wertvollen Botschaften.

 

Wir begegnen allen Figuren aus Band 1 wieder und begleiten Björn dabei, wie er weiter seine Rolle als Mafia-Boss spielt. Dabei gerät er natürlich wieder in absurde und auch gefährliche Situationen, die er aber aufgrund seiner psychologischen Kenntnisse stets mit Gelassenheit angeht und bewältigt. Herrlich kurios (wie schon im ersten Teil)! Auch findet man wieder herrlich humorvolle Kontraste. Dieses Mal ist mir zu Beginn z.B. der Kontrast zwischen Gesagtem und Gedachtem aufgefallen, der jede Menge Witz erzeugt. Und natürlich lebt das Buch auch wieder von dem Kontrast, dass Björn sich einerseits als treusorgender Vater ins Zeug legt und andererseits als kaltblütiger Mafia-Boss agiert. Was auch aberwitzig daherkommt, ist der Umstand, wie Björn sich immer wieder vor sich selbst rechtfertigt, bei dem, was er so treibt. Selbstvorwürfe werden kleingeredet, sein Fehlverhalten wird von ihm selbst relativiert, immer unter Bezugnahme auf seine Kenntnisse zur frühkindlichen Sozialisation. Herrlich! Ein schlechtes Gewissen kennt er nicht.

 

Auch die Therapiegespräche sind sehr amüsant gestaltet worden. Es ist immer wieder zum Schießen, welche Lehren Björn aus dem Gelernten zieht. Ihm geht es vor allem darum, mit seiner Schuld zurechtzukommen und eine hilfreiche Strategie zu entwickeln, mit seinem gefährlichen Doppelleben umzugehen. Wunderbar grotesk! Die Therapieziele von ihm und von seinem Therapeuten könnten nicht weiter auseinanderliegen, das bemerkt allerdings nur der Leser. Und ob man es glaubt oder nicht, man nimmt aus diesem Buch tatsächlich sogar einiges Wissenswertes zum Thema Achtsamkeit mit (z.B. die Technik der Gedankenwanderung).

 

Die entscheidende Frage jedoch ist, ob der zweite Teil mit dem ersten mithalten kann. In meinen Augen ist das nur bedingt der Fall. Das liegt vermutlich daran, dass das Konzept aus Band 1 bereits bekannt ist und sich ein wenig abgenutzt hat. Und des Weiteren kam mir das Familienleben von Björn zu kurz, das im ersten Teil noch eine so tragende Rolle gespielt hat. Auch war der schwarze Humor nicht mehr ganz so genial und perfekt. Es gab schon einige (wenige!) Stellen, die nach meinem Gefühl dem Klamauk gefährlich nahe kamen. Das war im ersten Band noch überhaupt nicht so. Aber das ist natürlich Geschmackssache, anderen mögen das überhaupt nicht so empfunden haben.

 

Fazit

Der zweite Teil der „Achtsam-Morden-Reihe“ ist immer noch sehr gut, aber der erste Band war ein Stück besser. Dennoch bleibt es bei knappen fünf Sternen. Die Grundidee bleibt einfach genial und Dusses Schreibstil ist einfach großartig. Daran hat sich nichts geändert. Es ist natürlich schwer, das Niveau des perfekt umgesetzten ersten Bands zu halten. Ich bin unsicher, wann ich den dritten Teil lese. Ich glaube es ist besser, eine Pause zwischen der Lektüre der einzelnen Bände einzulegen, weil sich das zugrundeliegende Konzept zu schnell abnutzt. Das Buch ist auf jeden Fall etwas für Krimi-Freunde, die aber auch mit einer großen Portion schwarzem Humor umgehen können.

Sonntag, 26. Februar 2023

Goschler, Juliana - Sprachbildung für alle!

 


3 von 5 Sternen



Eine Antwort


Die klassische Form einer Rezension wird der Streitschrift von Juliana Goschler mit dem Titel „Sprachbildung für alle!“ nicht gerecht. Ich möchte hier viel mehr eine Antwort auf den Text geben, auch um den Diskurs zu bereichern. Und ich werde in diesem Zusammenhang einzelne Dinge aus den Kapiteln herausgreifen, an denen ich mich inhaltlich „gerieben“ habe, die mich zum Widerspruch herausforderten, zu denen ich eine andere Sichtweise habe oder wo ich etwas zu bedenken geben will.

 

Nach der Lektüre dieser Streitschrift ist mir vor allem Folgendes an konkreten Vorschlägen hängen geblieben: Lehrkräfte sollten stärker für bildungssprachliche Elemente sensibilisiert werden und v.a. Fortbildungen sowie eine verbesserte Lehrerausbildung sind das Mittel dazu. Und es sollten mehr Ressourcen in die Bildungsinstitutionen investiert werden. Sprachbildung soll nicht Privatsache sein, sondern Aufgabe von Bildungsinstitutionen (Einwand: Ist sie das denn nicht schon längst? Gibt es etwa keine Sprachförderkurse und Willkommensklassen an den Schulen?) . Goschler konstatiert, dass es in den Bildungsinstitutionen an Zeit und an der entsprechenden Ausbildung des Personals fehle und dass die personelle Ausstattung an den Bildungsinstitutionen mangelhaft sei (vgl. S. 43). Das Bildungswesen sei personell unterausgestattet und unterfinanziert (vgl. S. 45). Die Autorin sieht in der Sprachbildung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und fordert letztlich eine durchgängige Sprachbildung für alle, die sich durch alle Bildungs- und Ausbildungswege hindurchzieht (vgl. S. 61-62).

 

Mir sind diese Forderungen und die Ausführungen in dieser Streitschrift zu allgemein, zu plakativ und zu wenig konkret. Wie soll die Aus- und Fortbildung konkret aussehen? Was ist von den einzelnen Bildungseinrichtungen konkret zu leisten? So könnte doch z.B. die Sprachwissenschaft auch schon einen wichtigen Teil zur Verbesserung der Situation beitragen. Konkret gefragt: Wie kann z.B. die Linguistik den Lehrbetrieb an den Bildungsinstitutionen von außen konkret unterstützen? Gibt es linguistisch fundierte Übungsmaterialen für sprachsensiblen Unterricht, die an den Schulen bereits eingesetzt werden? Sind diese Materialien auch an die curricularen Vorgaben angepasst? Gibt es gewinnbringende Erkenntnisfortschritte seitens der Linguistik hinsichtlich des Zweitsprach- und des Schriftspracherwerbs, die man praktikabel für didaktische Zwecke weiterentwickeln kann? Gibt es empirisch erprobte Förderkonzepte, die als besonders erfolgreich evaluiert wurden? Wie kann das Training von Vertextung für die verschiedenen Zielgruppen am besten umgesetzt werden? Was sind die jeweiligen textuellen Kompetenzen, die Lernende für das jeweilige Alter benötigen, um in den Bildungsinstitutionen erfolgreich zu sein? Und wie vollzieht sich der textuelle Kompetenzausbau eines Lernenden bei den verschiedenen Textsorten und Aufsätzen aus linguistischer Sicht (und wie lassen sich die theoretischen Erkenntnisse wiederum auf die Praxis übertragen)? Und wie lassen sich (linguistisch fundiert) diese textuellen Kompetenzen ggf. praktisch erweitern? Gibt es Erkenntnisse darüber, was Seiteneinsteiger aus den verschiedenen Herkunftsländern bereits an textuellen Vorkenntnissen mitbringen?

 

Um einmal ein konkretes Beispiel zu bringen: Ein syrischer Flüchtling, der sich z.B. mündlich sehr gut ausdrücken kann, kommt als Seiteneinsteiger in die gymnasiale Oberstufe und scheitert dann im schriftsprachlichen Bereich an den geforderten Aufsatzformen (z.B. am Schreiben einer literarischen Erörterung). Wie kann ich diesem jungen Menschen gezielt helfen? Wie kann er sich in kurzer Zeit das textsortenspezifische Wissen zu einer Aufsatzform aneignen, wenn seine schulische Sozialisation in einem anderen Land stattgefunden hat? Vorteilhaft wäre es sicherlich auch, wenn die Schulen über eigene (fächerübergreifende) Schreibcurricula verfügten, aus denen die textsortenspezifischen Merkmale hervorgingen (damit eine gewisse Vergleichbarkeit entsteht). So wüsste jede Lehrkraft auch, welche Textsorte und welche Aufsatzform in welcher Klassenstufe und in welchem Fach zum Thema gemacht werden.

 

Was in meinen Augen überhaupt nicht weiterhilft, sind nebulöse, vage Vorschläge von außen, wie die Bildungsinstitutionen ihren Aufgaben besser nachkommen können. Lehrkräfte und Erzieher:innen sollten stärker von den Expert:innen unterstützt werden, und zwar mit praxisbezogenen Hilfen vor Ort. Dafür kann es in meinen Augen hilfreich sein, wenn die Forscher:innen selbst (auch für längere Zeit einmal) an die Schulen gehen, dort hospitieren, selbst Unterrichtserfahrung sammeln, ihre eigenen Materialien selbst erproben und evaluieren und mit den Lehrkräften vor Ort ganz eng zusammenarbeiten. Dies fördert (nebenbei bemerkt) auch die Akzeptanz.

 

Die Lehrkräfte haben mit den tagtäglichen Herausforderungen schon genug zu tun, nach meinem Dafürhalten kann es jetzt nicht nur die Lösung sein, ihnen weitere Aufgaben aufzubürden (zumindest nicht ohne Entlastung an anderer Stelle), zumal sie sowieso schon für viele weitere Dinge zuständig sein sollen (Medienpädagogik, gesunde Ernährung etc.). Von den verschiedenen Nachwirkungen der Corona-Pandemie ganz zu schweigen. Und noch etwas: Sprachliche Bildung ist mit Sicherheit wichtig. Aber wenn ich eine Prioritätenliste erstellen müsste, so würden andere Dinge (z.B. das soziale Lernen) noch eine Vorrangstellung einnehmen.

 

In der Schule geht es in meinen Augen vorwiegend erst einmal darum, ein funktionierendes soziales Miteinander zu finden. Lehrkräfte oder Erzieher:innen sollten in erster Linie eine positive Beziehungsebene zu ihren Schüler:innen aufbauen können. Sie ist die Grundlage dafür, dass überhaupt fachliches Lernen möglich ist. Denn wie viel Sprachbildung ist möglich, wenn im Alltag hauptsächlich Konflikte gelöst werden müssen oder wenn es schon an Grundvoraussetzungen fehlt (z.B. sich gegenseitig zuhören etc.)? Vor dem fachlichen Lernen kommt das soziale Lernen. Bildungsinstitutionen haben in meinen Augen vor allem die Aufgabe, die ihnen anvertrauten Kinder zu gesellschaftsfähigen Menschen heranwachsen zu lassen und sie auf diesem Weg zu unterstützen und zu fördern, damit diese Verantwortung für sich und für andere übernehmen, damit sie Toleranz gegenüber sich selbst aber (vor allem) auch gegenüber anderen entwickeln, und das geht natürlich nur unter Einbezug des Elternhauses.

 

Und sind es nicht auch die Universitäten, die Verantwortung für fachliches Lernen auf die vorherige Bildungsinstitution „abschieben“? Kamen und kommen die Rufe nach wissenschaftspropädeutischer Vorbildung nicht aus der universitären Lehre? Sind z.B. Facharbeiten nicht auch aus diesem Grund eingeführt worden, damit Schüler:innen auf die wissenschaftliche Praxis angemessen vorbereitet werden? Was soll von den Schüler:innen denn noch alles geleistet werden? Sind nicht auch die Universitäten in der Pflicht, (selbst) Sprachbildung zu betreiben? In der Streitschrift liegt mir der Fokus zu sehr auf den Schulen. Eine stärkere Kritik am universitären Lehrbetrieb hätte der Streitschrift ebenfalls gut getan, da hätte die Autorin doch bestimmt auch noch einiges zu sagen können.

 

Zusätzlich möchte ich noch darauf hinweisen, dass es einige Thesen in dieser Streitschrift gab, mit denen ich überhaupt nicht einverstanden bin, weil sie viel zu pauschalisierend sind (hier nur ein Zitat als Beispiel: „Es wird z.B. in der Schule häufig einfach davon ausgegangen, dass die Schüler/-innen das, was die Lehrkräfte erklären und was in den Schulbüchern steht, sprachlich schon verstehen werden. […] Wenn Vermittlung scheitert, wird so gut wie nie ermittelt, ob es an fachlichen oder vielleicht nur am sprachlichen Verständnis gelegen haben könnte“, S. 11-12). Darauf möchte ich hier im Detail nicht eingehen, das würde den Rahmen sprengen. Es gibt noch weitere solcher Thesen. Ich möchte aber zu bedenken geben, dass mit gewissen Aussagen Vorurteile unnötig geschürt werden. Und ich habe mich schon gefragt, inwieweit manche Behauptungen, bei denen es sich vermutlich um Zuspitzungen handelt, überhaupt repräsentativ sind.

 

Auch möchte ich die Debatte abschließend noch um einen Aspekt erweitern: Nach meinem Empfinden entlässt die Autorin die Eltern zu sehr aus ihren elterlichen Pflichten. Goschler hat zwar Recht, dass viele Eltern aus verschiedenen Gründe zu Hause keine angemessene Sprachbildung leisten können und diese dann in den Bildungsinstitutionen stattfinden muss. Aber auch hier möchte ich darauf hinweisen, dass unabhängig von jeglicher sprachlichen (Vor-)Bildung in den Familien Grundvoraussetzungen erfolgreichen Lernens erst einmal erfüllt sein müssen. Beispiel: Ein Kind kommt stets mit wenigen oder ganz ohne Arbeitsmaterialien in die Schule. Müssen Eltern dann nicht in die Pflicht genommen werden? Wie sollen diese Kinder sonst dem Unterricht folgen und im Unterricht angemessen mitarbeiten können? Auch wenn ein Kind schon nicht mit den (auch, aber nicht nur) in der Familie vermittelten Verhaltensweisen wie Höflichkeit, Rücksichtnahme, Toleranz und Empathie in die Schule (oder in den Kindergarten) kommt, wie können die Bildungsinstitutionen (allein) dann dieses Defizit auffangen? Und das unabhängig von jeder sprachlichen (Vor-)Bildung. Auch hierauf benötigt es Antworten.

 

Fazit

Lobenswert ist, dass die Autorin eine wichtige Debatte anstoßen will. Das finde ich gut. Nicht so gut finde ich aber, dass die Ausführungen weitestgehend sehr allgemein gehalten sind und wenig konkrete Praxisbezüge aufweist. Vieles bleibt nebulös und vage. Da hätte ich mehr erwartet. Aus diesem Grund gebe ich auch nur 3 Sterne.  

Freitag, 24. Februar 2023

Kessel, Carola von - Erstleser: In der Natur (Reihe: Wieso? Weshalb? Warum?)

 


4 von 5 Sternen



Kinder-Sachbuch mit Leseaufgaben


Aus der Reihe „Wieso? Weshalb? Warum? Erstleser“ habe ich bereits das Buch „Ozeane“ genauer in den Blick genommen und rezensiert (vgl. eine frühere Rezension). Nun ist ein weiterer Titel aus dieser Reihe erschienen: „In der Natur“ von Carola von Kessel, illustriert von Astrid Vohwinkel.

 

Das Kinder-Sachbuch ist in vier Kapitel unterteilt, zu denen jeweils sogenannte Leserätsel im Anschluss gelöst werden müssen: 1. Kapitel „Was gehört alles zur Natur?“, 2. Kapitel „Welche Lebewesen gibt es?“, 3. Kapitel: „Wie vielseitig ist die Natur?“, 4. Kapitel: „Warum braucht die Natur unseren Schutz?“ Die Kapitelüberschriften sind also sehr offen formuliert, so dass man verschiedene Themen darunter subsumieren kann. Warum die Autorin bestimmte thematische Schwerpunkte so gesetzt hat, wie sie es getan hat, bleibt unklar. Aber daran muss man sich nicht stören. Man sollte sich einfach darauf einstellen, dass es viele Unterkapitel gibt, die teils mal mehr, teils mal weniger lose nebeneinanderstehen (Unterkapitel aus Kapitel 2: „Warum sind Pflanzen so wichtig?“, „Wovon ernähren sich Pflanzen?“, „Wie vermehren sie sich?“ „Welche Tiere leben an Land?“, „Welche Vögel gibt es?“, „Wer lebt im Wasser?“, „Welche Merkmale haben Pflanzenfresser?“, „Woran erkennst du Fleischfresser?“, „Wie vermehren sich Tiere?“). Alternativ dazu hätte man für jedes Oberkapitel auch einen klaren roten Faden entwickeln können.

 

Der Umfang des Lesetextes kommt Erstlesern ab Klasse 2 gut entgegen. Was mir gefällt, ist der Umstand, dass hin und wieder auch einmal bildungssprachliche Wörter in den Text integriert werden („Wetterlage“, „Klima“, „Nachtfalter“, „Abfallstoffe“, „Kohlendioxid“, „Fotosynthese“ etc.). So wird der Wortschatz der Erstleser gut erweitert.

 

Nun noch ein paar Bemerkungen zu den Aufgaben: Im Anschluss an das erste Kapitel findet man ein Buchstabenlabyrinth sowie eine Wort-Bild-Zuordnungsübung. Beides also Übungen auf Wortebene (zu leicht für Zweitklässler!). Nach Kapitel zwei soll ein Kreuzworträtsel gelöst werden (gut!). Darüber hinaus soll der Anfangsbuchstabe eines Wortes korrekt geschrieben und die Anzahl der Silben soll erkannt werden (zu einfach für Zweitklässler und der Anfangsbuchstabe bei dem Wort „Pflaume“ kann für Irritationen sorgen! Bei den Lösungen auf S.60 fehlen übrigens die Wörter). Im Zusammenhang mit dem dritten Kapitel sollen dann Wortelemente miteinander verbunden werden und ein Gitterrätsel gelöst werden. Das sind erneut Übungen, die nur auf der Wortebene angesiedelt sind (das ist wenig herausfordernd!). Und bei Kapitel 4 sollen dann Wörter aus einer Schlange von Buchstaben identifiziert werden und es gibt ein Silbenrätsel (wieder einmal Wortebene!). Kurzum: Im Anschluss an die Kapitel fehlen Übungen, die den Inhalt der Texte angemessen nachbereiten und es fehlen weitestgehend herausfordernde Leseverstehensaufgaben. Ausnahmen sind aber der multiple-choice-Test auf S. 58-59 und das Leselotto auf S. 65 (eine Text-Bild-Zuordnungsübung). Immerhin! Eine Alternative zu den vielen Übungen auf Wortebene wären solche auf Satz- und Textebene.

 

Fazit

Ich bin von der Reihe „Wieso? Weshalb? Warum? Erstleser“ nicht zu 100% überzeugt, vor allem die vielen Aufgabenformate auf Wortebene sind für Zweitklässler wirklich sehr leicht zu lösen. Dafür punktet der Band mit schönen, altersgerechten Sachtexten zum Themenbereich „Natur“, in denen nicht zu gehäuft, aber hin und wieder auch bildungssprachlicher Wortschatz zu finden ist. Auch die beiden Seiten zum Stickern sind motivierend. Gelungene Übungen sind der Multiple-Choice-Test und das Leselotto. Ich vergebe 4 Sterne und wünsche mir für die Zukunft herausforderndere Aufgaben im Anschluss an die Oberkapitel.

Benecke, Mark - Kannibal Jagdrausch


4 von 5 Sternen


Faszination des Grauens


Der Autor Mark Benecke ist eine schillernde Persönlichkeit. Er ist Kriminalbiologe und Spezialist für forensische Entomologie und hat schon mehrere populärwissenschaftliche Bücher verfasst. Zudem kennt man ihn aus den Medien. Als Sachverständiger kennt er sich gut aus mit den dunklen Seiten der Kriminalistik. Nun hat er seinen zweiten Krimi vorgelegt, mit dem Titel „Kannibal Jagdrausch“ (zum Verständnis ist die Kenntnis von Band 1 aber nicht nötig). Und wie zu erwarten, wird es recht unappetitlich. Benecke entwirft auf knapp 200 Seiten eine fiktive Geschichte um einen Tötungsdelikt, bei dem der ultimative Tabubruch zum Thema gemacht wird: Kannibalismus. Der Krimi ist also schon eher etwas für Hartgesottene.


Was dem Krimi Aufmerksamkeit sichern dürfte, sind also im Wesentlichen zwei Dinge: 1. Er ist von einem absoluten Fachmann geschrieben worden, 2. Ein grausamer Tabubruch wird zum Thema gemacht. Hinzu kommt noch eine sehr spannende Erzählweise. Das hätte ich im Vorfeld gar nicht erwartet. Aber Benecke kann wirklich packend erzählen. Und dennoch sind die verwendeten Krimi-Zutaten so erst einmal nichts Besonderes: Ermittlerteam, Ermittlungsarbeit, Beweisaufnahme etc. Das alles kommt recht gewöhnlich daher und unterscheidet sich nicht von vielen anderen Krimis, die ich kenne. Da hätte ich tatsächlich mehr erwartet.

Dafür emotionalisiert der Krimi sehr. Das Grauen und Entsetzen sowie der Ekel schwingen permanent mit. Darauf sollte man sich schon gefasst machen, wenn man dieses Buch liest. Stellenweise wird sich diesem Thema auch recht sachlich angenähert, wenn bei den Ermittlungen kürzere Exkurse in die Kulturgeschichte eingeflochten werden. Auch verzichtet der Autor (leider) nicht darauf, den Lesern einen Einblick in entsprechende Foren zu geben. Jeder muss für sich entscheiden, ob er so etwas wirklich lesen möchte. Das Grauen entsteht in erster Linie durch die Bilder, die im Kopf entstehen, die Taten selbst werden (Gott sei Dank!) nicht blutrünstig im Detail dargestellt.

Außergewöhnlich ist auch, dass das Buch gerade einmal 200 Seiten umfasst. Durch die Kompaktheit ist das Erzähltempo entsprechend hoch und es gibt keine langatmigen Passagen. Daran könnten sich andere spannungsliterarische Werke durchaus ein Beispiel nehmen. Was mir insgesamt zu kurz kam, waren (psychologische) Erklärungen dafür, wie eine solche Neigung überhaupt entstehen kann.


Fazit

Ein Krimi, der einen beim Lesen in emotionale Anspannung versetzt und auch Ekel auslöst. Was anderes war wohl bei Mark Benecke, dem Herrn der Maden, nicht zu erwarten. Bei der begangenen Tat wird der ultimative Tabubruch zum Thema gemacht: Kannibalismus. Ein Werk, das nicht für jeden geeignet sein dürfte. An der Erzählweise gibt es aber nichts auszusetzen, die Krimielemente kommen aber zugleich recht gewöhnlich daher. Ich vergebe 4 Sterne.

Dienstag, 21. Februar 2023

Birnbacher, Birgit - Wovon wir leben


4 von 5 Sternen


Lebenskrisen


In Ihrem Werk „Wovon wir leben“ lotet Birgit Birnbacher aus, was mit Menschen passiert, die in die Arbeits- und Perspektivlosigkeit rutschen. Im Zentrum steht Julia, die den Krankenschwesterberuf erlernt hat, die aufgrund eines Behandlungsfehlers aus dem Beruf ausscheidet und nun wieder zeitweilig in ihrem (recht tristen) Elternhaus unterkommt. Seit dem tragischen Fehler, den sie begangen hat, leidet sie unter einer eingeschränkten Lungenfunktion. In ihrem Heimatdorf lernt sie den Städter Oskar kennen, der aufgrund eines Herzinfarkts nicht mehr berufstätig ist und nun für ein Jahr von einer Art Grundeinkommen lebt, das er gewonnen hat. Er ist ebenfalls auf der Suche nach einer neuen Lebensaufgabe. Beide nähern sich einander zaghaft an, eine vorsichtige romantische Beziehung zwischen Nähe und Distanz entsteht.

 

Was in meinen Augen hervorragend gelungen ist und was diesen Roman auszeichnet, ist die Darstellung des dörflichen Lebens und die des Bruchs zwischen der Eltern-Kind-Generation am Beispiel von Julia. Oskar bleibt mir insgesamt etwas zu blass. Die geschilderte Atmosphäre ist trist, das Miteinander ist von Distanz geprägt. Ungesagtes steht im Raum, Konfrontationslosigkeit und Gesprächslosigkeit zeichnet Julia und ihren Vater aus. Gleichzeitig treten die Engstirnigkeit und die Monotonie des dörflichen Alltags gut zutage: Das Getratsche sowie die Vorurteile übereinander, die distanzierte Gemeinschaft. All das wird gut deutlich. Man spricht wenig miteinander in diesem Dorf. Kein Ort, an dem man gern leben möchte.

 

Am Beispiel von Julia wird zudem gut deutlich, was es heißt, wenn man aus einer Arbeiterfamilie stammt. Sie bewegt sich zwischen Selbstverpflichtung sowie Selbstaufgabe und Selbstverwirklichung. In Ihrer Familie werden patriarchalische Strukturen sichtbar. Es fehlt an Empathie. Problemgespräche werden nicht geführt, man kümmert sich kaum umeinander, interessiert sich kaum füreinander. Als Familienmitglied hat man sich zusammenzureißen und zu funktionieren. Pflichtbewusstsein ist das wichtigste. Gibt es Streit, so wird er einfach ausgesessen. Und die Frauen haben mit ihren eigenen Bedürfnissen hinter denen des Vaters zurückzutreten. Und als Leser stellt man sich fortlaufend die Frage, was wird aus Julia? Wird sie ihren Weg finden? Und welche Rolle wird Oskar dabei spielen?

 

Fazit

Ein Roman, der vor allem die Zwischenmenschlichkeiten in einer krisenhaften Situation thematisiert. Mit viel Feingespür werden das dörfliche Leben und das Zusammenleben von Vater und Tochter atmosphärisch eingefangen. Feine Beobachtungen zur Kommunikationslosigkeit und zu den herrschenden Strukturen werden angestellt. Der Roman ist in meinen Augen für solche Leser geeignet, die sich für die feinen Zwischentöne im menschlichen Miteinander interessieren. Ich vergebe 4 Sterne, weil ich mir von der Figur Oskar noch mehr erhofft hätte. Er bleibt mir zu blass.


Montag, 20. Februar 2023

Coelho, Joseph und Allison Colpoys - Wenn die ganze Welt...


4 von 5 Sternen


Verlust des Großvaters


Nachdem ich das einfühlsame Buch „Großvaters Walnuss“ (vor)gelesen habe, wollte ich noch ein weiteres Kinderbuch zu den Themen „Trauer“ und „Tod/ Verlust“ lesen. Ich entschied mich für die Lektüre von „Wenn die ganze Welt…“ von Joseph Coelhe und Allison Colpoys aus dem Insel-Verlag.

 

Was direkt ins Auge sticht, ist der Umstand, dass das Buch sehr farbenfroh daherkommt. Dies steht in direktem Kontrast zu dem traurigen Thema. Betrachtet man die Bilder, kommt aber keine Trauer auf. Es werden die schönen, bunten Gefühle zum Ausdruck gebracht, die die Enkelin für ihren Opa hat. Das Traurige wird übermalt.

 

Wir begleiten Großvater und Enkelin durch die Jahreszeiten Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Und beide machen etwas zusammen, sie gehen Hand in Hand und entdecken die Natur im Frühling. Sie bauen gemeinsam eine Autorennbahn. Der Großvater schenkt seiner Enkelin ein Malbuch, in das sie all ihre Träume hineinmalen kann. Und im Winter spielen sie zusammen mit selbstgemachtem Spielzeug. Eine innige Beziehung zwischen beiden wird deutlich.

 

Doch dann ist eines Tages der Sessel des Großvaters leer. Der Tod wird nicht direkt thematisiert, sondern bleibt etwas Abstraktes. Auf der entsprechenden Seite heißt es „Aber manche Geschichten sind ganz still“. Darüber sollte man dann mit dem Nachwuchs auf jeden Fall ins Gespräch kommen. Und auf dem Sessel liegt ein neues Malbuch. Eines, in das die Enkelin all ihre Erinnerungen an den Opa festhalten kann. Es wird deutlich, dass der Verlust der nahestehenden Bezugsperson die bunten Farben nicht verdrängt. Sie bleiben erhalten und die Erinnerungen an die gemeinsame Zeit und die gemeinsamen Aktivitäten spenden Trost, um über den Verlust hinwegzukommen.

 

Dieses Buch geht also sehr einfühlsam und hoffnungsfroh mit dem Thema um, die Trauer über den Tod kann man nur an den traurigen Gesichtern der Figuren erkennen. Der Großvater wirkt auch bis zum Tod auf den Bildern völlig normal. In „Großvaters Walnuss“ wird deutlicher dargestellt, dass es dem Opa mit der Zeit schlechter geht. Aber die Grundidee in beiden Büchern ist sehr ähnlich: Die Erinnerungen an die geliebte Person bleiben bestehen.

 

Fazit

Ein Buch, das die Themen „Tod“ und „Trauer“ einfühlsam thematisiert. Eines Tages bleibt der Sessel des Großvaters leer und zurück bleibt ein Malbuch, in das die Enkelin Erinnerungen an ihren Großvater hineinmalen kann. Die Botschaft ist hoffnungsfroh. Und durch die Farbwahl wirkt das Buch sogar fröhlich und bunt, trotz des traurigen Vorkommnisses. Auf diese Weise werden die positiven Gefühle der Enkelin für ihren Opa verdeutlicht. Die Trauer wird einfach übermalt. Hätte ich allerdings die Wahl zwischen „Großvaters Walnuss“ und „Wenn die ganze Welt…“, so würde ich „Großvaters Walnuss“ als Buch bevorzugen, um die entsprechenden Themen zu besprechen. Ich gebe 4 Sterne. 

Freitag, 17. Februar 2023

Sabbag, Britta - Die Dinoschule. Rettet Sauritius!


2 von 5 Sternen


Qualitätsverlust


Den Auftakt zur Reihe „Die Dinoschule“ (Band 1: „Betreten für Eltern verboten“) habe ich damals mit 4 Sternen bewertet (vgl. eine frühere Rezension). Natürlich war ich auch neugierig auf die Fortsetzung, dieses Mal mit dem Titel „Rettet Sauritius!“ Und es stellt sich die Frage, kann die Reihe ihr Niveau halten? Lohnt sich das Vorlesen von Band 2?

 

Klare Antwort: Ich fand ich den Einstiegsband besser. Und das hat mehrere Gründe. 1. Man findet nicht ohne Probleme in den zweiten Band hinein. Wissen aus dem ersten Band wird vorausgesetzt. Vor allem die vielen Namen (hierzu zählen vor allem auch die Spitznamen der Dinosaurier und der Lehrkräfte aus der Schule) sind am Anfang etwas schwierig zuzuordnen. Wir mussten bei der Lektüre immer einmal wieder das Cover betrachten, um uns klar zu machen, welcher Saurier mit welchem Namen nun zu welchem Protagonisten gehört. Vielleicht wäre eine Art vorentlastende Überblicks-Doppelseite zu den Charakteren, wie man sie ja inzwischen bei vielen Kinderbüchern findet, eine Lösung für das Problem? 2. Die inhaltliche Schwerpunktsetzung ist nicht klar. Geht es jetzt um die Rettung von Sauritius? Sollen die Dinosaurier versteckt werden? Geht es um das Wiederfinden von Jack Sattle? Oder geht es doch nur um einen Schatz? Irgendwie ist das alles nicht so ganz klar. Am Anfang gibt er erst einmal eine recht sprunghafte, turbulente Versteckaktion, der man aufgrund der vielen Szenen- und Sprecherwechsel nicht so gut folgen kann, wie es für ein sehr gutes Kinderbuch sein sollte. Meine jungen Zuhörerinnen fragten mich vor allem zu Beginn des Buchs: Worum geht es da eigentlich? Kein gutes Zeichen, würde ich sagen. Vielleicht ein Zeichen von Überfrachtung? Einen klaren roten Faden und eine gelungene inhaltliche Gestaltung hat das Buch in meinen Augen, als es um Jack Sattle geht (ab Seite 46). 3. Der Sprachstil ist in meinen Augen ebenfalls in meinen Augen verbesserungswürdig. Man merkt beim Vorlesen, dass der Text nicht immer so richtig flüssig lesbar ist. Es gibt schon ab und zu mal ungelenke Konstruktionen, wo man auch mal stolpert. Auch finde ich den überwiegend lässig-flapsig-umgangssprachlichen Erzählstil nicht so toll. Das habe ich schon in Band 1 bemängelt. Ich bin davon einfach kein Freund, das mag anderen anders gehen. Man kann natürlich auch umgekehrt sagen, dass Kinder auch einen saloppen Sprachinput benötigen. Aber den erhalten sie ja zumeist sowieso schon im Alltag. 4. Die Charakterzeichnung ist nicht so gelungen wie im ersten Band. Da konnte man die drei Freunde noch gut voneinander unterscheiden und jeder hatte seine Eigenheiten. Dieses Mal sticht eigentlich nur Freddy heraus, und zwar wird er als ängstlich und verfressen dargestellt. Das bietet nicht sehr viel Identifikationspotential. Die Charaktere sind stärker austauschbar geworden. Wo ist die starke Onea geblieben?

 

Fazit

Der erste Band der Dinoschule hat mir eindeutig besser gefallen. Man muss sich zu Beginn erst einmal orientieren, Vorwissen aus Band 1 wird vorausgesetzt. Die Charakterzeichnung ist nicht so gut wie in Band 1 und bietet auch nicht viel Identifikationspotential. Der Lebensweltbezug ist auch nicht mehr so klar erkennbar, denn die Schule spielt kaum mehr eine Rolle. Der Sprachstil überzeugt mich ebenfalls nicht. Nicht zuletzt hätte dem Buch eine klarere inhaltliche Schwerpunktsetzung gut getan. Aufgrund der vielen Kritikpunkte sind das 2 Sterne.

Mühle, Jörg - Als Papas Haare Ferien machten


5 von 5 Sternen


Wenn Papas Haare sich verdünnisieren...


Möchte man als Vater (natürlich auch als Mutter) seinen Nachwuchs mit einer amüsanten Geschichte zum eigenen (dann fremden) Haarverlust erheitern, so greife man zum Kinderbuch „Als Papas Haare Ferien machten“ von Jörg Mühle. Ich garantiere ein humorvolles Vorlesen.

 

Eines Morgens steht der Vater vor dem Spiegel und die Haare beschließen, endlich etwas zu erleben und etwas von der Welt zu sehen. Also springen sie vom Kopf und der Vater bemüht sich darum, die ausreißerischen Haare wieder einzufangen. Ob es ihm gelingt, möge jeder selbst herausfinden.

 

Der Witz der Geschichte besteht dann natürlich darin, dass die Haare einen eigenen Willen haben und personifiziert werden („Seine Haare waren mit ihm im Kindergarten gewesen und dann auch in der Schule. Sie hatten mit ihm lesen, schreiben, rechnen gelernt. Zusammen kletterten sie auf Bäume, lernten Fahrrad fahren und schwimmen. Übernachten zum ersten Mal bei Freunden. Wenn Papa mal nicht weiterwusste, durfte er seine Harre raufen. Hatte Papa Angst, standen sie zu Berge“, S. 30-31). Der Vater spricht mit seinen Haaren, als seien diese lebendig. Herrlich!

 

Der Erzählton kommt sehr erheiternd daher, kreative Sprachspiele und lustige Sprachbilder sowie humorvolle Situationsbeschreibungen kommen nicht zu kurz. Und die jungen Zuhörer haben Spaß daran, mitzuerleben, was Papa sich so alles einfallen lässt, um die Haare zu verfolgen und wieder einzufangen. Es kommt zu einer wilden Verfolgungsjagd.

 

Zu den Bildern: Diese sind zwar recht schlicht, was sie aber auszeichnet ist die Darstellung der Haare. Diese werden als einfache Striche gezeichnet. Und man sieht dann bald auf jeder Seite Haare, weil überall Striche zu sehen sind (so z.B. die Fahrbahnmarkierungen einer Straße oder Grashalme auf einer Wiese). Eine simple, aber zugleich geniale Idee. Denn der Nachwuchs meint dann, die Haare auf den Bildern entdeckt zu haben. Doch dann stellt sich heraus, dass sie es doch nicht sind.

 

Fazit

Ein kurzweiliges Buch mit einer genialen Ausgangsidee. Es gibt viel zu lachen. Das einzige, was schade war: Das Buch ist recht dünn, die Geschichte dementsprechend kurz. Sie war viel zu schnell vorbei. Wir hätten gern noch weitergelacht. Aber dafür ziehen wir keinen Stern ab. 5 Sterne von uns!

Dusse, Karsten - Achtsam morden (Band 1)


5 von 5 Sternen


Kindergartenplatz first


Bei „Achtsam morden“ von Karsten Dusse handelt es sich um den Auftakt zu einer sehr erfolgreichen Reihe, der ich bisher keine Aufmerksamkeit geschenkt habe. Zeit, diese Wissenslücke zu schließen. Mich interessiert nämlich mal wieder die Frage, warum dieses Buch so erfolgreich ist. In meinen Augen liegt das an drei Dingen: 1. In den Themen Lebenskrise (innere Leere, äußere Zwänge) und turbulenter Familienalltag findet sich wohl jeder Leser wieder, 2. Eine gute Portion (schwarzer) Humor, der aber nie zu sehr in Richtung Klamauk abdriftet und 3. Der kenntnisreiche und durchaus wertvolle Einbezug des Themas „Achtsamkeit“, von dem wohl jeder gestresste Arbeitnehmer bereits etwas gehört hat.

 

Das Buch ist einfach unheimlich gut, da ziehe ich meinen Hut vor dem Autor. Denn neben diesen drei genannten Zutaten, gibt es noch viele weitere Aspekte, die dieses Buch abrunden und lesenswert machen. Der Einblick in das Mafiawesen und der Klient Dragan gehören auf jeden Fall auch dazu, ebenso die Suche nach dem Kindergartenplatz (herrlich und so treffend!) oder die Telefonate mit Peter, dem befreundeten Polizisten. Auch passt dieses Werk in keine Genre-Schublade, es ist Krimi und Unterhaltung zugleich. Es nimmt sich selbst nicht zu ernst, enthält aber zugleich wertvolle Botschaften zum Thema Selbstfürsorge (vor allem die Texte zu Beginn der Kapitel sind klasse). Allerdings erzeugt die Verquickung von Achtsamkeit und Kriminalität natürlich einen komischen Effekt, der den Leser oft nur schmunzeln oder den Kopf schütteln lässt.

 

Der Humor entsteht vor allem durch Kontraste: Auf der einen Seite, haben wir den gestressten und achtsamkeitsliebenden Familienvater, der zugleich auch noch ein Ehemann ist, der an sich arbeitet. Und auf der anderen Seite haben wir den skrupellosen Anwalt mit verschobenem Wertesystem, der sehr menschenverachtend, kaltblütig und rücksichtslos daherkommt. Völlig ohne Gewissensbisse lässt er sich auf einen Mafiaboss als Klienten ein, setzt sich für dessen Belange ein, und versucht aber gleichzeitig seine private Lebenskrise zu bewältigen. Herrlich absurd!

 

Die beschriebenen Situationen sind so grotesk, der Erzählton ist zudem so humorvoll, dass man die geschilderte Brutalität als Leser gar nicht richtig wahrnimmt. Die selbstfürsorglichen Handlungen und Gedanken des Hauptprotagonisten einerseits und die Brutalität andererseits, ergeben einen weiteren Kontrast, der Skurrilität erzeugt. Hinzu kommen die Achtsamkeitssprüche am Kapitelanfang, die sehr passend zu den Kapitelinhalten gewählt sind. Man hat das Gefühl, der Anwalt stolpert von einem Missgeschick ins nächste und dennoch wirken seine Handlungen sehr durchdacht und geplant. Und die Gelassenheit des Protagonisten passt oft nicht zur Dramatik der geschilderten Situation. Das sind weitere schöne Kontraste!

 

Nach meinem Empfinden ist die Grenze des guten Geschmacks an keiner Stelle zu sehr verletzt worden. Es gibt zwar einige heftige Szenen, diese werden aber durch die Skurrilität der Beschreibung und den amüsanten Erzählton wieder lesbar gemacht. Und darin besteht ja gerade die Kunst, wenn man ein solches Buch schreibt. Den schwarzen Humor in dieser Perfektion zu beherrschen, ist eine große schriftstellerische Leistung. Klasse!

 

Fazit

Die Verquickung von Problemen des Familienalltags und Mafiaproblemen ist nicht nur eine kreative Idee, sie wird auch noch sehr vergnüglich umgesetzt. Dusse beherrscht schwarzen Humor und erzeugt mit Hilfe von grotesken Kontrasten viel Komik. Im Laufer Handlung wird Björns Situation immer verfahrener und als Leser will man natürlich wissen, wie er sich aus seiner ausweglosen Lage befreien wird. Das Werk beinhaltet noch dazu unheimlich viele kreative, lustige Ideen. Ein wahres Feuerwerk! Ich bin einfach begeistert, solche Bücher findet man selten. Klare 5 Sterne!

Dienstag, 14. Februar 2023

Grolik, Markus - Inspektor Salamander. Tatort Schrottplatz.


4 von 5 Sternen




Detektivgeschichte mit interessantem Layout


Detektivgeschichten sind ein beliebtes Kinderbuch-Genre. Braucht es da noch Inspektor Salamander? Ja, denn das Buch von Markus Grolik hebt sich durch ein ungewöhnliches Layout von vielen anderen Detektivgeschichten ab. Der eingängige Fließtext ist weiß hinterlegt und wird in großformatige Bilder eingebettet. Ergänzt wird der Fließtext dann um comichafte Elemente in Form von Sprechblasen. Das hebt „Inspektor Salamander. Tatort Schrottplatz“ schon einmal von anderen Detektivgeschichten ab, die ich kenne.

 

Lobenswert sind vor allem die Illustrationen, die mit viel Liebe zum Detail gestaltet worden sind und die Umgebung des Schrottplatzes sehr passend atmosphärisch einfangen. Sie passen auch wunderbar zum Text. Das Buch wartet mit sehr vielfältigen Abbildungen auf, die für Abwechslung sorgen. Und der Comicstil sorgt für Dynamik. Auf den Bildern gibt es viel zu entdecken. Durch das Layout ist die Text-Bildquote hoch, denn pro Text auf einer Seite kommen viele Bilder. Das sorgt für Aufmerksamkeit beim Nachwuchs.

 

Auch der Erzählton ist sehr passend gewählt. Der typische Detektiv-Sprech wird deutlich. Man stellt sich beim Vorlesen eine rauchige Stimme vor. Auch der Fall ist durchdacht. Inspektor Salamander und sein Assistent Spider-Manni müssen den Fall lösen, was aus dem ausgetrockneten Tümpel geworden ist. Dafür müssen sie Hinweisen nachgehen und Zeugen vernehmen. Es kommen also die klassischen Detektivgeschichten-Merkmale vor, und das auf kindgerechte und humorvolle Art und Weise. Das Buch weist einige kreative, lustige Ideen auf (z.B. die Chicken-Queen). Auch die im Text genannten Lieder kann man wunderbar aufgreifen, um sie dem eigenen Nachwuchs vorzuspielen, sofern sie diese nicht kennen („Wo ist die Kokosnuss?“ und „Nessun dorma“). Lediglich bei einigen Anspielungen sehe ich Verständnisschwierigkeiten bei jüngeren Zuhörern (Stichwort: King Kong und Bieber Justin).

 

Es gibt nur einen Aspekt, den ich verbesserungswürdig finde: Man weiß beim Vorlesen nicht genau, wann und ob man die Sprechblasen lesen soll. Vor dem Fließtext? Nach dem Fließtext? Zwischen dem Fließtext? Das sorgte bei mir manchmal für etwas Verwirrung, denn manchmal muss man die Sprechblasen auch mitlesen, weil sie einen inhaltlichen Übergang zwischen zwei Fließtextelementen bilden (vgl. z.B. S. 23). Meist klappt es aber, nur den weiß hinterlegten Text zu lesen und die Sprechblasen dann erst im Nachgang oder bei Bedarf. Handelt es sich bei den Zuhörern um Schulkinder, so können diese die Sprechblasen begleitend zum Vorlesen auch mitlesen.

 

Fazit

Eine Detektivgeschichte mit einer interessanten Layout-Gestaltung. Die Bilder sind mit viel Liebe zum Detail gestaltet worden. Der Comicstil sorgt für Abwechslung und erregt Aufmerksamkeit. Der Erzählton passt wunderbar zu einer Detektivgeschichte und der Autor hat auch einige kreative, teils humorvolle Ideen. Das einzige, was manchmal für etwas Verwirrung sorgt: Wann liest man die Sprechblasen? Deshalb vergebe ich 4 von 5 Sternen.

Montag, 13. Februar 2023

Paquette, Ammi-Joan - Großvaters Walnuss


5 von 5 Sternen



Einfühlsam, bewegend, kindgerecht


Der Tod gehört zum Leben dazu und Kinder interessieren sich nach meiner Erfahrung auch für dieses traurige Thema. Natürlich müssen die Eltern selbst entscheiden, wie sie dieses Thema angehen und mit ihrem Nachwuchs besprechen. Manchmal sind es ja auch Trauerfälle in der eigenen Familie, die das Thema dann umso wichtiger erscheinen lassen. Wie dem auch sei, das vorliegende Kinderbuch mit dem Titel „Großvaters Walnuss“  von Ammi-Joan Paquette, schön illustriert von Felicita Sala, ist auf jeden Fall ein Buch, das ganz behutsam mit diesem Thema umgeht und es den vorlesenden Eltern auch selbst überlässt, wie ausführlich und vertieft sie das Kapitel „Tod“ thematisieren wollen.

 

Ich will in dieser Rezension zu Beginn direkt zum Kern der Sache kommen, denn das wird für die meisten Eltern von Interesse sein: Wie wird der Tod dargestellt? Ist es kindergerecht? Im Buch selbst wird der Tod des Großvaters nur auf metaphorischer Ebene angesprochen („Danach wurden die Tage sehr kalt und sehr dunkel. Emilia hielt ihren Großvater fest, solange sie nur konnte. Dann verabschiedete sie sich von ihm“).  Auf dem entsprechenden Bild ist dann das Haus von Emilia zusammen mit Nachbarhäusern in Vogelperspektive zu sehen. Sie schaut aus dem Fenster, Rauch steigt auf, der Himmel ist dunkel. Auf der Straße in einiger Entfernung fährt zudem ein Auto, das man wohl als Teil eines Leichenwagens interpretieren könnte (Die Front des Autos ist nicht erkennbar).

 

Nicht jedes Kind wird verstehen, was mit Abschied nehmen gemeint ist. Und jede Familie muss für sich selbst beantworten, ob das Kind bei einem Trauerfall von dem Sterbenden Abschied nimmt (und wenn ja, auf welche Weise) oder ob Kinder nicht mit diesem Thema konfrontiert werden sollen. Manchmal ist es ja auch gar nicht mehr möglich, Abschied zu nehmen. All dies kann man mit seinem Nachwuchs ja situationsgerecht besprechen. Ich finde die Lösung, die die Autorin hier gewählt hat, auf jeden Fall pietätvoll und angemessen.

 

Nun zum Rest des Kinderbuchs: Mich überzeugt vor allem die sehr durchdachte Bebilderung und der einfühlsame Text dazu. Die zentrale Botschaft des Buchs ist die Folgende: Auch wenn jemand geht, bleibt die Erinnerung an diesen Menschen lebendig. Und die Erinnerung kann von Generation zu Generation weitergegeben werden. Die Autorin hat sich bei der Thematisierung des Lebenskreislaufs für eine sehr treffende Symbolik entschieden: Ein Baum wird gepflanzt. Der Großvater (der selbst auch eine Migrationsgeschichte aufweist, Stichwort: Interkulturalität) schenkt seiner Enkelin eine Walnuss und er bringt ihr bei, wie man einen Walnussbaum pflanzt.

 

Und die Symbolik kommt auf den Bildern wunderbar zum Ausdruck. So wie der vom Großvater in jungen Jahren gepflanzte Baum gedeiht, so wächst auch der Großvater heran. Im hohen Alter ist aus der Walnuss ein mächtiger, knorriger Baum geworden. Und in unmittelbarer Nachbarschaft dazu steht der Baum, den die Mutter von Emilia gepflanzt hat, geschützt und überdacht von dem noch älteren Baum. Gleichzeitig ist im hohen Alter dann der umgekehrte Prozess beobachtbar: Während Emilias Pflänzchen wächst, wird der Großvater immer gebrechlicher und schwächer. Und nach dem Tod des Opas kann sich Emilia durch den Baum immer an ihn erinnern. Und sie nimmt sich vor, wenn sie groß ist, ihrem eigenen Kind dann eine Walnuss zu schenken. Sehr einfühlsam und gleichzeitig auch hoffnungsfroh. Ein Teil des geliebten Menschen bleibt immer erhalten.

 

Fazit

Dieses Kinderbuch thematisiert das traurige und schwierige Thema „Tod“ in meinen Augen kindgerecht und einfühlsam. Das Buch ist sehr bewegend. Die gewählte Symbolik ist durchdacht und passend. Die Botschaft ist letztlich hoffnungsfroh: Auch wenn ein geliebter Mensch stirbt, bleiben die Erinnerungen an ihn lebendig. Ich empfehle das Buch allen Eltern weiter, die mit ihren Kindern das Thema auf tröstende und pietätvolle Art und Weise besprechen möchten. 5 Sterne von mir!

Von Bülow, Johann - Roxy


3 von 5 Sternen


Da wäre mehr drin gewesen…


Oft liest man in Rezensionen zu Büchern, den Satz „Potential bleibt ungenutzt“ oder „der Roman bleibt unter seinen Möglichkeiten“. In meinen Augen trifft dieser Satz (leider) auch sehr gut auf den Debutroman „Roxy“ von Johann von Bülow zu. Ich will gerne begründen, warum ich das so sehe.

 

Der Roman ist in fünf Teile gegliedert, und leider wird das Buch erst ab dem vierten Teil erst so richtig interessant. Carolin ist eine reizvolle Figur mit viel Potential. Gerade ihre geschilderten Erfahrungen mit der Therapie und ihr Aufenthalt in der Klinik sind gute Ansatzpunkte. Sie ist eine Figur mit Ecken und Kanten. Und die angedachte Rivalität von Roy und Marc ist doch eine gute Ausgangsidee. Eine Dreiecksbeziehung bietet immer reichlich Konfliktpotential. Leider kommt diese Rivalität zwischen den beiden aber in meinen Augen viel zu kurz. Insgesamt wirkten Roy und Marc einfach zu glatt auf mich. Auch wenn der Einblick in das Schauspielerdasein durchaus interessant ist. Aber insgesamt wäre da mehr drin gewesen!

 

Und es gibt noch etwas, das mich beim Lesen gestört hat. Zu großen Teilen wird die Handlung in Form eines Erzählerberichts geschildert, und das sehr detailliert und ausufernd sowie ereignislos. Ich empfand diesen Erzählstil als ermüdend. Aus Marcs Leben reiht sich Episode an Episode und als Leser weiß man viel zu lange nicht, worauf das Ganze hinausläuft. Mir war die Handlung zu ziellos, ich hatte so gut wie keine offenen Fragen im Kopf, die ich beantwortet wissen wollte. Das wirkt sich bei mir negativ auf die Lesemotivation aus. Ich habe das Buch ziemlich unbeteiligt gelesen, der Funke wollte leider einfach nicht überspringen. Auch hier wäre mehr drin gewesen!

 

Abschließend noch ein Wunsch: Auf den ersten Seiten blitzt feiner Humor durch. Die Beschreibung der Großmama ist gut gelungen und lustig gestaltet. Leider verliert sich dieser Humor allerdings auf den nachfolgenden Seiten. Dabei hätte ein lockerer Erzählton dem Roman gut getan, stellenweise wurde es mir schon zu philosophisch, der Autor wirft an vielen Stellen immer einmal wieder Fragen in den Raum, über die man als Leser dann nachdenken kann. Auch hier wäre in meinen Augen mehr drin gewesen!

 

Und noch ein Gedankenspiel: Zwischenzeitlich habe ich mich sogar gefragt, ob man das Buch evtl. dem Genre der Popliteratur zuordnen kann. Einige Merkmale dieses Genres finden sich durchaus auch bei „Roxy“. Ich habe diesen Gedanken dann aber schnell wieder verworfen. Dafür kommt das Werk einfach zu ernst und zu wenig subversiv daher. Gleichzeitig habe ich mich gefragt, ob es „Roxy“ vielleicht sogar gut getan hätte, noch mehr popliterarische Elemente zu integrieren. Dazu kann sich jeder Leser selbst ein Urteil bilden.

 

Fazit: 

Es gibt Bücher, da will der Funke zwischen Leser und Buch einfach nicht überspringen. Dann passt es leider einfach nicht. Für mich hätten die Charaktere mehr Ecken und Kanten aufweisen sollen, die eigentliche Handlung um Carolin startet viel zu spät, die angedachte Rivalität zwischen Marc und Roy kommt mir zu wenig zum Ausdruck. Mir war auch lange nicht klar, worauf die Handlung hinausläuft. Hier wäre einfach mehr drin gewesen. Auch habe ich den Humor von den Anfangsseiten im weiteren Handlungsverlauf vermisst. Ich vergebe knappe 3 Sterne!

Samstag, 11. Februar 2023

Fritsch, Rüdiger von - Zeitenwende. Putins Krieg und die Folgen


5 von 5 Sternen


Bestandsaufnahme des Angriffskriegs


Seit einiger Zeit beschäftige ich mich mit den Hintergründen des Russland-Ukraine-Kriegs (vgl. dazu frühere Rezensionen). Einige interessante Bücher, die ich auch als Lektüre weiterempfehlen kann, habe ich bereits ausfindig machen können, so z.B. Golineh Atais „Die Wahrheit ist der Feind“ oder Eltchaninoffs „In Putins Kopf“ sowie die Kriegstagebücher von Andrej Kurkow („Tagebuch einer Invasion“) oder von Sergej Gerassimow („Feuerpanorama“). Aktuell interessiert mich immer noch die Frage, ob der Konflikt tatsächlich nicht vorherzusehen war, und mich beschäftigt auch, warum die russische Zivilgesellschaft so schwach ist (vgl. dazu auch den Essay „Individuum und Totalitarismus“ von Ljudmila Ulitzkaja in ihrem Sammelband „Die Erinnerung nicht vergessen“). Aus diesen Gründen entschied ich mich für die Lektüre von „Zeitenwende“ von Rüdiger von Fritsch.

 

Der Autor war selbst 5 Jahre lang Botschafter in Russland. Seine Zeit in Moskau ging am 30.06.2019 zu Ende. Er ist Putin sogar einige Male begegnet und meint feststellen zu können, dass sich in den gemeinsamen Gesprächen immer wieder dessen Neigung gezeigt habe, von äußeren Anfeindungen, Verschwörungen und Bedrohungen auszugehen.

 

Teil 1 – „Wie der Krieg enden könnte – Szenarien“

Im ersten Teil seines Buchs beschäftigt sich der Autor vor allem mit der Frage, inwieweit der Krieg im Voraus vorherzusehen war. Eine Frage, die auch mich sehr beschäftigt. Doch bevor er genauer auf diese Frage eingeht, entwirft er zunächst vier Szenarien für ein mögliches Kriegsende. Szenario 1: Sieg der Ukraine. Dies sei zu erreichen durch eine Stagnation der Kampfhandlungen und eine zunehmende Ermüdung des russischen Angriffs. Dieses Szenario ist das wohl wünschenswerteste. Szenario 2: Sieg Russlands. Nach russischem Selbstverständnis sei ein solcher Sieg unabdingbar. Möglicherweise reiche Putin bereits eine Besetzung des Ostens und des Südens als Sieg zu verkaufen. Das Problem an diesem Szenario sei allerdings, so von Fritsch, dass die Rest-Ukraine in einem solchen Fall unter ständiger russischer Bedrohung stehe. Szenario 3: Ein Patt, ein Waffenstillstand, ein eingefrorener Konflikt. Dies bedeute eine instabile Situation. In diesem Szenario stehe die Ukraine unter ständigem Druck eines erneuten russischen Angriffs. Szenario 4: Eine weitere Eskalation des Konflikts. Hier spielt der Autor vor allem mit dem Gedanken an einen nuklearen Krieg. Doch er macht auch deutlich, dass Putin bereits andere Wege der Eskalation gefunden habe. So setze er Energie als Waffe ein. Das Ziel Russlands sei es, andere Länder zu destabilisieren und sie so für die russische Sache einzunehmen. Welches Szenario eintreten wird, steht noch in den Sternen. Denkbar ist ja auch eine Eskalation im Vorfeld eines ukrainischen oder russischen Siegs. Und in meinen Augen sollte man bei den verschiedenen Szenarien auch noch einbeziehen, was ein Sieg, ein Patt oder eine Niederlage für Russland bedeutet. Bleibt Putin an der Macht? Wer folgt ihm nach? Wie entwickelt sich die russische Zivilgesellschaft? Wird sie irgendwann endlich aufwachen? Wird das Militär weiter zu Putin halten? Auch das sind viele offene Fragen, die mich beschäftigen.

 

Teil 2 - „Der Schatten der Geschichte“

Im zweiten Teil seines Buchs widmet sich der Autor den geschichtlichen Entwicklungen des Landes. Hier nimmt er zunächst einmal das „Putinsche System“ genauer in den Blick. Von Fritsch mach deutlich, dass die Bevölkerung Putin sehr dankbar dafür sei, dass es unter ihm keine Zeit der Umwälzung mehr gab (so wie es in den 90er Jahren der Fall war). Putin stehe für Stabilität und Ordnung. Das würden ihm die Menschen hoch anrechnen. Seit den 90ern sei es mit Russland wirtschaftlich stetig bergauf gegangen. Eine Zäsur habe sich im Wesentlichen 2011 und 2012 ereignet. Seit diesem Zeitpunkt seien autoritäre Züge immer mehr zutage getreten. Proteste seien massiv niedergeschlagen worden, der Staatsanteil an der Wirtschaft habe sich ständig vergrößert. Wer nicht linientreu gewesen sei, der sei zu einem ausländischen Agenten oder zu einer unerwünschten Organisation erklärt worden. Auch die Verfassungsreform aus dem Jahr 2020 sei ein weiterer Baustein der Autokratisierung gewesen. Sie eröffnete Putin die Möglichkeit bis 2036 an der Macht zu bleiben. Gleichzeitig habe sich an der Corona-Politik gezeigt, dass die Bürger durchaus der „Obrigkeit“ misstraut hätten. Angst und Propaganda sicherten die Macht, ebenso wie das Instrument der Bestechung. Politisch Verantwortliche würden durch Käuflichkeit und Erpressung linientreu gemacht. Was ich mir noch bei der Darlegung gewünscht hätte, wären mehr Beispiele gewesen. So hätte von Fritsch seine Thesen noch anschaulicher und nachvollziehbarer untermauern können. Golineh Atai geht mit ihrem Buch „Die Wahrheit ist der Feind“ mehr in die Tiefe. Was ich aber schätze: Von Fritsch findet klare Worte, es ist eine sehr klare Sprache, die er verwendet.

 

Weiterhin zeigt von Fritsch auf, dass sich Putin in den vergangen Jahren immer mehr mit der Vergangenheit des russischen Reichs beschäftigt habe. Wichtige Vorbilder für ihn seien Alexander III. und Peter, der Große. Zudem habe er über die Jahre auch die Nähe zur Kirche immer mehr forciert und sich orthodoxer Rhetorik bedient. Er spreche lieber über die tausendjährige Geschichte der alten Rus als über die ökonomischen und sozialen Probleme im Land.

 

Russland sei durch den Zusammenbruch der UdSSR verkleinert und schwach geworden. Es geriet in den 90er Jahren in heftige gesellschaftliche, wirtschaftliche und finanzielle Turbulenzen. Noch heute leide Russland darunter, so von Fritsch. In den letzten Jahren hätte Putin zudem Stalin als Sieger über den Hitler-Faschismus propagandistisch oft in den Vordergrund gerückt, vor allem um das nationale Selbstwertgefühl zu erhöhen. Eine geschichtliche Aufarbeitung der Verbrechen des Stalinismus sei in Russland bis heute ausgeblieben. Zunehmend hätte der Präsident seinen Blick auf die vergangene russische Größe gerichtet, statt darauf, Zukunftsperspektiven für sein Land zu entwickeln. Sehr differenziert geht der Autor auch noch auf die Frage der gefühlten Bedrohung durch die NATO ein. Ist Russland womöglich übervorteilt worden? Von Fritsch macht an vielen Beispielen deutlich, dass der Westen immer wieder auf Russland zugegangen sei. So sei z.B. die G7 im Jahr 1998 zur G8 erweitert worden. 2010 sei eine Modernisierungspartnerschaft zwischen der EU und Russland abgeschlossen worden. Nicht zuletzt seien viele Städtepartnerschaften und Hochschulkooperationen entstanden, 2001 sei der Petersburger Dialog ins Leben gerufen worden. Und von Fritsch führt noch weitere Beispiele an. Auch weist der Autor daraufhin, dass sich die NATO-Osterweiterung nicht aus der NATO heraus ergeben habe, sondern es sei der Wunsch der ostmitteleuropäischen Länder gewesen, der NATO beizutreten. Noch im Jahr 2004 habe Putin selbst erklärt, dass sich die Beziehung Russlands zur NATO positiv entwickle. Auch habe er hinsichtlich der NATO-Osterweiterung gesagt, dass er keine Sorge mit Blick auf die Sicherheit der Russischen Föderation hätte. Eskaliert sei die Situation erstmals im Jahr 2008, als die Ukraine und Georgien Zusagen erhielten, NATO-Mitglied zu werden. Nur durch den Einspruch Deutschlands seien daraus keine konkreten Perspektiven entwickelt worden. Letztlich sei an die Stelle des Dialogs zwischen Russland und dem Westen nun die Konfrontation getreten.

 

Teil 3 – „Der Weg in den Krieg“

Hier zeichnet der Autor die wesentlichen Ereignisse um die Annexion der Krim und um die Kämpfe im Donbass nach. Von Fritsch verdeutlicht, dass Russland sich selbst als Schutzmacht für alle ethnischen Russen ansieht. Die Annexion der Krim sei damit gerechtfertigt worden, dass man die Bewohner hätte schützen müssen. Russland habe die Vorstellung, dass die Ukraine kein richtiger Staat sei und die Ukrainer nicht in der Lage seien, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Die Tatsachen seien in der russischen Propaganda so verdreht worden, dass man den Irrglauben verbreitete, das ukrainische Volk sei an Wiedervereinigung mit Russland interessiert und werde von einer korrupten Regierung regiert, die sich von dem Westen in ein gefährliches geopolitisches Spiel habe hineinziehen lassen. Es ist tatsächlich für mich unglaublich, dass dieses Narrativ sich in Russland so verbreiten konnte, dass es niemand in Zweifel gezogen hat. Unfassbar! Interessant ist übrigens auch der Hinweis des Autors, dass die einzige freie Abstimmung über die Zugehörigkeit der Krim 1991 stattgefunden habe. Damals habe sich die Halbinsel dafür entschieden, zu Kiew und nicht zu Moskau gehören zu wollen.

 

Auch widmet sich der Autor dem Verhältnis der Ukraine zur EU. Er erläutert, dass die Ukraine sich aus der geopolitischen Einflusszone Russlands verabschieden wollte. Allerdings habe Janukowitsch auch auf Druck Moskaus die Assoziierung mit der EU nicht fortgesetzt. Daraufhin seien friedliche Proteste losgegangen, die sich immer weiter ausgebreitet hätten. Nach der Annexion der Krim reagierte der Westen mit der Verhängung von Sanktionen. Im Rückblick betrachtet, so der Autor, hätte man mit noch härteren Maßnahmen reagieren sollen. Russland habe sich seit 2014 konsequent verweigert, Verantwortung für das Geschehen in der Ukraine zu übernehmen. Russland habe stets geleugnet, Konfliktpartei zu sein. Moskau sei nicht ehrlich gewesen, so der Autor. Gleichzeitig sei die Entfremdung zwischen Russland und der Ukraine immer größer geworden, weil sich die Ukraine immer stärker in Richtung Westen orientierte. In Syrien habe sich gezeigt, dass Russland erstmals auch bewusst auf Söldnertruppen zurückgegriffen habe. Nicht zuletzt sei Syrien vermutlich bereits ein Übungsfeld zur Ertüchtigung der russischen Gruppen gewesen. Die russischen Streitkräfte, so von Fritsch, konnten in Syrien bereits Kampferfahrung sammeln. 86 000 Soldaten und 460 Generäle hätten in Syrien Gefechtserfahrung gesammelt. Gleichzeitig habe Russland nichts dafür getan, den Konflikt um die Krim und den Donbass zu lösen. Moskau habe weiterhin so getan, als sei es unbeteiligt und bezichtigte seinerseits die Ukraine, schuld zu sein. Von Fritsch vertritt die Meinung, dass man die Ukraine schon seit 2014 hätte entschlossener in die Lage versetzen müssen, sich gegen einen möglichen russischen Angriff zu verteidigen. Vermutlich, so die These des Autors, hätte Russland in einem solchen Fall von einem Angriff abgesehen. Gleichzeitig kann man sich aber doch umgekehrt sogar fragen, warum hat Russland nicht bereits 2014 stärker eskaliert? Warum gab sich Putin mit der Krim und dem Donbass zufrieden? Gab er damit nicht der Ukraine sogar die Chance, sich auf einen neuerlichen Angriff einzustellen und vorzubereiten? Theoretisch hätte er schon damals die gesamte Ukraine angreifen können. Vielleicht hätte er damit Erfolg gehabt? War er vielleicht doch zunächst an einer diplomatischen Lösung interessiert?

 

2019 kam Selenskyj an die Macht. Eines seiner Wahlversprechen sei gewesen, den Konflikt mit Russland mit anderer Entschlossenheit zu lösen. Doch Russland habe nicht aufgehört, die Ukraine weiter zu bezichtigen, an einer Beendigung des Konflikts nicht interessiert zu sein. Zunehmend sei die Legitimität der Regierung in Kiew durch Russland in Zweifel gezogen worden. Von Fritsch stellt auch Überlegungen dazu an, warum Putin den Zeitpunkt seines Angriffs so gewählt hat. Eine These, die er in den Raum stellt: Der ungeordnete, chaotische Rückzug aus Afghanistan hätte Putins Eindruck bestätigt, dass der Westen auf dem absteigenden Ast sei. Das ist natürlich eine Behauptung, die sich schwer beweisen lässt. Wer weiß schon, was Putin dazu bewegt hat, gerade im Februar 2022 seinen Angriffskrieg zu beginnen.

 

 

Teil 4 – „Die Folgen des Krieges“

Nach Ansicht des Autors sei Russlands Befürchtung, aus der Ukraine heraus, demnächst mit Raketen bedroht zu werden, lediglich ein Vorwand gewesen, das Nachbarland vorbeugend anzugreifen. Bis zum Überfall habe Putin stets den Eindruck erweckt, an einer diplomatischen Lösung interessiert zu sein. Die Weltöffentlichkeit sei von ihm in Sicherheit gewogen worden. Der Autor beschreibt sehr detailliert auch die Sanktionen, die dann als Reaktion des Westens über Russland verhängt worden sind. Dabei beschreibt er auch, welche Auswirkungen sie auf die Wirtschaft hatten. Die Analyse der Folgen des Krieges ist kenntnis- und umfangreich sowie differenziert. Besonders interessant fand ich die Ausführungen des Autors zur Mentalität des Sowjetmenschen. Diese Überlegungen kann man auch mit dem ausbleibenden zivilen Widerstand in Russland gut in Verbindung bringen (als gute Ergänzung empfehle ich hier den Essay „Individuum und Totalitarismus“ von Ulitzkaja). Der Sowjetmensch zeichne sich dadurch aus, dass er einerseits im Mythos vom großen, unbesiegbaren Vaterland und andererseits in der Realität eines von Entbehrungen und Widrigkeiten bestimmten Alltags lebe. Die über Jahrzehnte hinweg erlernte Überlebensstrategie sei die Folgende: Schweigen ist sicherer. Von Fritsch stellt auch die Überlegung an, ob es zu einem Aufstand im Landesinneren von Russland kommen könnte. Er weist allerdings darauf hin, dass viele Menschen in Russland der Demokratie mit Misstrauen begegneten (auch aufgrund der antiwestlichen Propaganda). Sie brächten Demokratie mit Dekadenz und Verfall in Beziehung. Sein Fazit lautet, dass wir gut beraten seien, uns darauf einzustellen, dass sich in Russland einstweilen nicht allzu viel ändern dürfte.

 

Fazit:  

Wer sich über Hintergründe zum Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine informieren möchte, der findet in diesem Buch viele wichtige Fakten. Als Ergänzung hierzu empfehle ich noch die beiden Sachbücher „Die Wahrheit ist der Feind“ von Golineh Atai und „In Putins Kopf“ von Michel Eltchaninoff. So erhält man einen guten Überblick über die Situation in Russland und in der Ukraine. Mein Ziel war es mehr darüber herauszufinden, ob der Krieg vorhersehbar war oder nicht. Auch von Fritsch macht sehr deutlich, dass man seit 2014 zu nachsichtig mit Russland gewesen sei. Viele Warnzeichen sind übersehen worden. Weiterhin hat mich interessiert, mehr Hintergründe über die schwache Zivilgesellschaft in Russland zu erfahren. Hier fand ich die Ausführungen zur Mentalität des Sowjetmenschen lesenswert. Allerdings hätte ich mir noch mehr Einblicke gewünscht.