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Dienstag, 21. Februar 2023

Birnbacher, Birgit - Wovon wir leben


4 von 5 Sternen


Lebenskrisen


In Ihrem Werk „Wovon wir leben“ lotet Birgit Birnbacher aus, was mit Menschen passiert, die in die Arbeits- und Perspektivlosigkeit rutschen. Im Zentrum steht Julia, die den Krankenschwesterberuf erlernt hat, die aufgrund eines Behandlungsfehlers aus dem Beruf ausscheidet und nun wieder zeitweilig in ihrem (recht tristen) Elternhaus unterkommt. Seit dem tragischen Fehler, den sie begangen hat, leidet sie unter einer eingeschränkten Lungenfunktion. In ihrem Heimatdorf lernt sie den Städter Oskar kennen, der aufgrund eines Herzinfarkts nicht mehr berufstätig ist und nun für ein Jahr von einer Art Grundeinkommen lebt, das er gewonnen hat. Er ist ebenfalls auf der Suche nach einer neuen Lebensaufgabe. Beide nähern sich einander zaghaft an, eine vorsichtige romantische Beziehung zwischen Nähe und Distanz entsteht.

 

Was in meinen Augen hervorragend gelungen ist und was diesen Roman auszeichnet, ist die Darstellung des dörflichen Lebens und die des Bruchs zwischen der Eltern-Kind-Generation am Beispiel von Julia. Oskar bleibt mir insgesamt etwas zu blass. Die geschilderte Atmosphäre ist trist, das Miteinander ist von Distanz geprägt. Ungesagtes steht im Raum, Konfrontationslosigkeit und Gesprächslosigkeit zeichnet Julia und ihren Vater aus. Gleichzeitig treten die Engstirnigkeit und die Monotonie des dörflichen Alltags gut zutage: Das Getratsche sowie die Vorurteile übereinander, die distanzierte Gemeinschaft. All das wird gut deutlich. Man spricht wenig miteinander in diesem Dorf. Kein Ort, an dem man gern leben möchte.

 

Am Beispiel von Julia wird zudem gut deutlich, was es heißt, wenn man aus einer Arbeiterfamilie stammt. Sie bewegt sich zwischen Selbstverpflichtung sowie Selbstaufgabe und Selbstverwirklichung. In Ihrer Familie werden patriarchalische Strukturen sichtbar. Es fehlt an Empathie. Problemgespräche werden nicht geführt, man kümmert sich kaum umeinander, interessiert sich kaum füreinander. Als Familienmitglied hat man sich zusammenzureißen und zu funktionieren. Pflichtbewusstsein ist das wichtigste. Gibt es Streit, so wird er einfach ausgesessen. Und die Frauen haben mit ihren eigenen Bedürfnissen hinter denen des Vaters zurückzutreten. Und als Leser stellt man sich fortlaufend die Frage, was wird aus Julia? Wird sie ihren Weg finden? Und welche Rolle wird Oskar dabei spielen?

 

Fazit

Ein Roman, der vor allem die Zwischenmenschlichkeiten in einer krisenhaften Situation thematisiert. Mit viel Feingespür werden das dörfliche Leben und das Zusammenleben von Vater und Tochter atmosphärisch eingefangen. Feine Beobachtungen zur Kommunikationslosigkeit und zu den herrschenden Strukturen werden angestellt. Der Roman ist in meinen Augen für solche Leser geeignet, die sich für die feinen Zwischentöne im menschlichen Miteinander interessieren. Ich vergebe 4 Sterne, weil ich mir von der Figur Oskar noch mehr erhofft hätte. Er bleibt mir zu blass.


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