Lebenskrisen
In Ihrem Werk „Wovon wir leben“ lotet Birgit Birnbacher aus, was mit
Menschen passiert, die in die Arbeits- und Perspektivlosigkeit rutschen. Im
Zentrum steht Julia, die den Krankenschwesterberuf erlernt hat, die aufgrund
eines Behandlungsfehlers aus dem Beruf ausscheidet und nun wieder zeitweilig in
ihrem (recht tristen) Elternhaus unterkommt. Seit dem tragischen Fehler, den
sie begangen hat, leidet sie unter einer eingeschränkten Lungenfunktion. In
ihrem Heimatdorf lernt sie den Städter Oskar kennen, der aufgrund eines
Herzinfarkts nicht mehr berufstätig ist und nun für ein Jahr von einer Art
Grundeinkommen lebt, das er gewonnen hat. Er ist ebenfalls auf der Suche nach
einer neuen Lebensaufgabe. Beide nähern sich einander zaghaft an, eine
vorsichtige romantische Beziehung zwischen Nähe und Distanz entsteht.
Was in meinen Augen hervorragend gelungen ist und was diesen Roman
auszeichnet, ist die Darstellung des dörflichen Lebens und die des Bruchs
zwischen der Eltern-Kind-Generation am Beispiel von Julia. Oskar bleibt mir
insgesamt etwas zu blass. Die geschilderte Atmosphäre ist trist, das
Miteinander ist von Distanz geprägt. Ungesagtes steht im Raum,
Konfrontationslosigkeit und Gesprächslosigkeit zeichnet Julia und ihren Vater aus.
Gleichzeitig treten die Engstirnigkeit und die Monotonie des dörflichen Alltags
gut zutage: Das Getratsche sowie die Vorurteile übereinander, die distanzierte Gemeinschaft.
All das wird gut deutlich. Man spricht wenig miteinander in diesem Dorf. Kein
Ort, an dem man gern leben möchte.
Am Beispiel von Julia wird zudem gut deutlich, was es heißt, wenn man
aus einer Arbeiterfamilie stammt. Sie bewegt sich zwischen Selbstverpflichtung
sowie Selbstaufgabe und Selbstverwirklichung. In Ihrer Familie werden
patriarchalische Strukturen sichtbar. Es fehlt an Empathie. Problemgespräche
werden nicht geführt, man kümmert sich kaum umeinander, interessiert sich kaum
füreinander. Als Familienmitglied hat man sich zusammenzureißen und zu
funktionieren. Pflichtbewusstsein ist das wichtigste. Gibt es Streit, so wird
er einfach ausgesessen. Und die Frauen haben mit ihren eigenen Bedürfnissen
hinter denen des Vaters zurückzutreten. Und als Leser stellt man sich
fortlaufend die Frage, was wird aus Julia? Wird sie ihren Weg finden? Und
welche Rolle wird Oskar dabei spielen?
Fazit:
Ein Roman, der vor allem die Zwischenmenschlichkeiten in einer
krisenhaften Situation thematisiert. Mit viel Feingespür werden das dörfliche
Leben und das Zusammenleben von Vater und Tochter atmosphärisch eingefangen. Feine
Beobachtungen zur Kommunikationslosigkeit und zu den herrschenden Strukturen werden
angestellt. Der Roman ist in meinen Augen für solche Leser geeignet, die sich
für die feinen Zwischentöne im menschlichen Miteinander interessieren. Ich
vergebe 4 Sterne, weil ich mir von der Figur Oskar noch mehr erhofft hätte. Er bleibt
mir zu blass.
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