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Samstag, 29. Oktober 2022

Sweeney, John - Der Killer im Kreml


3 von 5 Sternen


Interessante Zusammenschau, teilweise zu verschwörungstheoretisch

John Sweeney legt mit „Der Killer im Kreml“ ein Werk vor, in dem er den Aufstieg Putins und sein rücksichtsloses politisches Agieren nachzeichnet. Dabei geht Sweeney, der aktuell als freiberuflicher Kriegsberichterstatter in der Ukraine tätigt ist, auf zentrale Ereignisse ein und geht chronologisch vor.

 

So wird die familiäre Herkunft des russischen Präsidenten erörtert. Sweeney bringt hier auch eine höchst umstrittene Theorie ins Spiel, nach der Putin ein uneheliches Kind sei. Was man aber sicher weiß: Er stammt aus sehr ärmlichen Verhältnissen und musst sich schon in seiner Kindheit mit Stärke behaupten. 1975 trat Putin dann dem KGB bei, auch hier geht der Autor auf relevante Ereignisse in der Geheimdienstkarriere des späteren russischen Präsidenten ein. Sweeney „knöpft“ sich auch Putins Weltanschauung und seine verengte Sicht auf den Westen vor. Die wichtige Rolle, die Anatoli Sobtschak spielte, wird aufgezeigt. Putin unterhielt während seiner Zeit in Petersburg Kontakte zur Mafia, so Sweeney. Besonders brisant fand ich in diesem Zusammenhang die Ausführungen zur Strategie des „Kompromat“, bei der kompromittierendes Material über eine Zielperson gesammelt wird, die aus dem Weg geräumt werden soll (so z.B. gegenüber Skuratow, vgl. S. 72). Der Autor befeuert auch die These, dass die Moskauer Bombenanschläge von 1999 inszeniert gewesen seien, um einen Anlass für den zweiten Tschetschenien-Krieg zu haben. Am Beispiel der Kursk verdeutlicht Sweeney die Gleichschaltung der Medien in Russland. Eine weitere Verschwörungstheorie, die der Autor bedient: Der FSB habe hinter der Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater gesteckt.

 

Besonders lesenswert fand ich die Ausführungen zu Anna Politkowskaja, die schon früh prophezeite, in welche Richtung sich Russland womöglich entwickeln könnte, und zu Alexander Litwinenko, der in London mit Polonium 210 vergiftet worden ist. Auch das, was Sweeney zum Personenkult um Putin schreibt, ist aufschlussreich und interessant. Weitere relevante „Stationen“, die beleuchtet werden: Die Ermordung von Boris Nemzow, die Inhaftierung von Michail Chodorkowski, Abschuss der MH17 im Jahr 2014. Was der Autor ebenfalls nicht ausspart, sind Thesen zum Liebesleben des Präsidenten, zu möglichen Affären und zu unehelichen Kindern. Auch Annahmen über eine mögliche psychische Erkrankung oder über eine Krebserkrankung von Putin werden in den Raum gestellt.

 

Der Erzählton von Sweeney ist recht flapsig und sehr direkt. Der Leser bzw. die Leserin wird auf diese Weise unmittelbar mitgenommen. Und der Autor selbst schildert den Inhalt nicht teilnahmslos und mit emotionaler Distanz oder allzu sachlich, sondern es werden Betroffenheit und eine subjektive Gefühlsebene deutlich. Für ein Sachbuch ist das etwas ungewöhnlich. Schon auf den ersten Seiten ist klar, auf welcher Seite der Autor steht. Es geht Sweeney also nicht um objektive Berichterstattung. Angesichts des unmenschlichen Angriffskriegs Russlands unter der Führung Putins kann ich das aber durchaus nachvollziehen. Aber trotzdem hätte ich mir gewünscht, dass der Autor nicht zu sehr seiner Sensationslust nachgibt.

 

Manches war mir doch zu reißerisch und zu spekulativ. Einige Abschnitte wirkten auf mich zu wenig untermauert und zu wenig fundiert recherchiert. Stattdessen betreibt Sweeney rund herum um Putin eine gewisse Mythenbildung und fabuliert punktuell dann doch stark verschwörungstheoretisch, ohne stichhaltige Beweise anzuführen. Er beschränkt sich zu sehr auf Mutmaßungen und Indizien. Das hat mich nicht immer überzeugt und es hat mir auch nicht gut gefallen, auch wenn ich natürlich verstehen kann, dass man den Kriegsverbrecher Putin in ein schlechtes Licht rücken will, um sein Handeln überhaupt begreifen zu können! Natürlich wäre es aber auch unfassbar, wenn Sweeney mit all seinen Behauptungen tatsächlich Recht hätte.

 

Fazit

Die Darstellung von John Sweeney enthält viele interessante Informationen, auch vermag er mit seinem Schreibstil den Leser bzw. die Leserin zu fesseln. Stellenweise ist seine Zusammenschau über Putins Aufstieg aber doch arg verschwörungstheoretisch geraten. Deshalb vergebe ich auch nur 3 Sterne. Abschließend möchte ich noch den Wunsch äußern, dass weitere Bücher von Sweeney ins Deutsche übersetzt werden sollten. Die Lektüre seiner Reportagen zu Nordkorea oder zu Scientology würde mich ebenfalls interessieren.

Robotham, Michael - Schweige still


5 von 5 Sternen


Evie – eine „Wahrheits-Zauberin“

Der Psychothriller „Schweige still“ von Michael Robotham zeichnet sich in meinen Augen durch eine zentrale Stärke aus: Die Konzeption der Figur Evie Cormac, die in der Lage ist ihre Mitmenschen zu durchschauen und Lügen zu erkennen. Sie ist eine sogenannte „Wahrheits-Zauberin“. Und was ich besonders spannend finde. Diese Idee basiert auf einem realen Forschungsprojekt aus dem Jahr 2006 (vgl. engl. truth wizard).

 

Der Thriller macht auf mich einen psychologisch fundierten Eindruck und die Zeichnung von Evie ist absolut gelungen. Ich habe nun schon einige Thriller gelesen, aber ein solch interessanter Charakter ist mir selten bei der Lektüre begegnet. Evie, auch genannt „Angel Face“, hat ein besonderes Talent, doch aufgrund ihres durchlittenen Traumas (vgl. Klappentext) agiert sie launenhaft und nicht immer vorhersehbar. Mit ihrer besonderen Begabung verstört sie ihr Umfeld. Sie provoziert, testet Grenzen und sie ist durch ihre Erfahrungen mit Therapie psychologisch geschult. Sie ist ein unbequemer Geist und fühlt sich in der staatlichen Obhut wie in einem Gefängnis.

Neben Evie agiert mit Cyrus Haven, einem Psychologen, eine zweite facettenreich angelegte Figur in diesem Thriller. Besonders die Interaktion zwischen Cyrus und Evie ist gelungen, es entwickelt sich anfangs eine Art Psychoduell zwischen beiden, später dann wird Cyrus zu Evies Retter und zu einer wichtigen Bezugsperson für sie. Durch ihn kann befreit sich Evie aus der Amtsfürsorge und kann ein selbstbestimmtes Leben führen. Er nimmt sie als Pflegekind bei sich auf. Und auch das gemeinsame Zusammenleben und Zueinanderfinden wird gut erzählerisch entwickelt.

Cyrus und Evie sind unheimlich anziehende Figuren, die viel Reiz auf mich als Leser ausübten. Vor allem Evies Wunsch nach Selbstbestimmung ist so nachvollziehbar für mich! Gleichzeitig macht sie sich durch ihre emotionalen Ausbrüche selbst das Leben unnötig schwer. Sie trägt eine ungeheure Wut auf die Welt mit sich herum.

Als besonderes Highlight habe ich es immer empfunden, wenn Evies Weltwahrnehmung intensiver geschildert wird. Richtig Spaß gemacht hat mir das Buch an der Stelle, als sie in einem Casino pokert und die Bluffs ihrer Gegner ohne Probleme durchschauen kann.

 

Auch die erzählerische Gestaltung hat mir sehr gut gefallen. Durch die Ich-Perspektive sind wir sehr nah an den Figuren dran, wir tauchen tief ein in ihre Gedankenwelt, die auf mich durchdacht und plausibel wirkte. Absolut lobenswert! Und in der zweiten Hälfte des Buchs zieht die Spannung noch einmal spürbar an.

 

Das einzige, was ich an diesem Thriller kritisieren kann, ist der Umstand, dass ich mir gewünscht hätte, dass Jodie aufgrund ihres Talents noch mehr in die Ermittlungen von Cyrus einbezogen wird. Ich vermute, dass das in den Nachfolgebänden stärker der Fall sein wird. Ich werde diese Reihe auf jeden Fall weiter verfolgen.

 

Fazit

Ein Psychothriller, der seine Gattungsbezeichnung wirklich verdient. Die Figuren sind reizvoll konzipiert und fundiert psychologisch unterfüttert. Insbesondere Evie ist ein interessanter Charakter, der auch eine spannende Entwicklung durchläuft. Ich vergebe knappe 5 Sterne, weil die Spannung noch etwas höher hätte ausfallen können.

Freitag, 28. Oktober 2022

Falch, Malin - Nordlicht. Im Tal der Trolle


4 von 5 Sternen


Einstieg in die magische Welt von Jotundalen

Bei der Betrachtung des Covers zu „Nordlicht. Im Tal der Trolle“ von Malin Falch stellten sich bei mir und meinen Töchtern sofort Assoziationen zu der „Eiskönigin“ ein. Und ein Blick ins Buch offenbarte ebenfalls anmutige Zeichnungen im „Disney-Stil“. Visuell ist diese Graphic novel definitiv gelungen. Und auch die dahinterliegende Geschichte scheint Potential zu haben. Es geht magisch zu in diesem Buch (vgl. Klappentext). Man merkt dem Buch aber an, dass es sich um einen Auftakt zu einer Reihe handelt. Am Ende bleiben viele offenen Fragen und man möchte direkt weiterlesen und in diese Welt von Trollen, sprechenden Tieren, Seeungeheuern und Wikingern weiter eintauchen.

 

Figuren

Die Figuren in diesem Band sind gut ausgearbeitet. Wir haben die abenteuerlustige Sonja, die gerne auch einmal von zu Hause ausreißt und gegen ihre Mutter rebelliert. Daneben gibt es die etwas zu dominante Mutter und den mysteriösen Onkel Henrik, der eines Tages unangekündigt auf Sonjas Konfirmation auftaucht und ihr Zeichnungen mitbringt, die er auf seinen Reisen angefertigt hat. Er ist auch die treibende Kraft dafür, dass Sonja ebenfalls eine Sehnsucht danach verspürt, die Welt zu entdecken. Und nicht zuletzt gibt es, als Sonja in die Dimension von Jotundalen eintaucht, noch einige interessante magische Wesen, die sie kennenlernt. Allen voran Espen, der mich von seiner Konzeption stark an Peter Pan erinnert hat.

 

Illustrationen

Zeichnerisch halte ich diese Graphic novel für sehr gelungen. Allerdings muss ich zugeben, dass ich mit dieser Gattung bisher wenige Erfahrungen gesammelt habe. „Nordlicht“ ist meine erste Graphic novel, die ich rezensiere. Allerdings habe ich schon Comics bewertet (vgl. frühere Rezensionen zu He-Man etc.). Auf mich wirken die Illustrationen jedenfalls sehr anmutig und ansprechend, fast filmreif. Man fühlt sich direkt an Disney-Filme der jüngeren Zeit erinnert. Auch sind die Zeichnungen sehr strukturiert angeordnet, ich habe schon „chaotischere“ Comics gesehen. Bei der Betrachtung der Bilder kommt keine Unruhe auf, lediglich die Leserichtung ist in Einzelfällen nicht immer sofort eindeutig. Das hat mich aber nicht gestört. Besonders schön anzuschauen sind die seitenfüllenden, großformatigen Illustrationen sowie die Naturdarstellungen in Jotundalen. Die Darstellung der Licht- und Schatteneffekte gefallen mir. Ich glaube, die Optik hätte sogar noch mehr Wirkung entfaltet, wenn der Verlag dieses Buch nicht im Din-A-5-Format, sondern in einem etwas größeren Format herausgegeben hätte.

 

Textuelle Gestaltung und Altersempfehlung

Der Textanteil ist recht überschaubar, es wird nicht viel gesprochen. Das hat mich dann doch etwas gewundert, wird dieses Buch doch für Kinder ab 11 Jahren empfohlen.

Die Altersempfehlung von 11 Jahren halte ich für gerechtfertigt. So ist die Atmosphäre dieser Graphic novel doch insgesamt recht düster und beklemmend, was auch an dem schwarzen Seitenhintergrund liegt. V.a. die Auseinandersetzung von Espen mit den Wikingern sowie der Kampf der Wikinger mit einem Seeungeheuer sind etwas blutrünstig geraten. So sieht man z.B. eine abgeschlagene Hand auf einem der Bilder. Einige Abschnitte sind recht unheimlich gestaltet, vor allem diejenigen, die in der Nacht am Lagerfeuer spielen. Das sollte man bei der Auswahl dieser Lektüre beachten.

 

Kritik

Was ich schade fand, war die Tatsache, dass das Buch doch recht abrupt endet. Man würde gerne weiterlesen und mehr über Jotundalen erfahren. Vor allem wüsste ich gern mehr über Henrik und darüber, was er in Jotundalen getrieben hat. Die magische Welt wurde in diesem ersten Band gerade erst vorsichtig eingeführt, und gerade als man sich als Leser dort eingelebt hat und viele Fragen entstehen, endet die Graphic novel. Das ist schon schade. Aber es ist natürlich gleichzeitig auch ein gutes Zeichen, wenn das Buch Lust auf eine Fortsetzung macht.

 

Fazit

Malin Falch entwirft eine reizvolle Graphic novel, die vom Stil an Disney-Filme erinnert. Ich vergebe 4 Sterne. Warum nicht fünf? Einerseits finde ich, der Band hätte ruhig etwas textlastiger ausfallen können. Andererseits bin ich der Meinung, dass sich das Ende etwas abrupt ereignet. Sonst habe ich aber nichts zu bemängeln und finde dieses Buch gelungen.

Donnerstag, 27. Oktober 2022

Turner, A. K. - Wer mit den Toten spricht


4 von 5 Sternen


Rechtsmedizinerin mit Vorliebe für die Gothic-Kultur

Wer einen Kriminalroman lesen möchte, in dem die Figurenzeichnung und die Personenkonstellation überzeugen und der eine plausible, schlüssige, durchdachte Auflösung bereithält, der macht mit der Lektüre von A.K. Turners „Wer mit den Toten spricht“ nichts falsch. Es handelt sich um den zweiten Teil einer Reihe, der ohne Vorwissen des ersten Bands gelesen werden kann. Ich selbst bin auch ohne Vorkenntnisse gestartet und hatte keinerlei Verständnisschwierigkeiten. Das einzige, was man an dem als Thriller vermarkteten Werk bemängeln kann, ist der Umstand, dass die Spannungsintensität nicht so hoch ausfiel, wie von mir erhofft. Insgesamt liest sich das Buch aber äußerst flüssig.

 

Figuren

Besonders die Hauptfigur Cassie Raven, eine kompetente rechtsmedizinische Assistentin mit einer bewegten Vergangenheit in der Hausbesetzerszene, kann überzeugen. Schon auf den ersten Seiten wird gut deutlich, dass wir es mit einer empathischen und verständnisvollen Protagonistin zu tun haben. Sie kann mit Trauernden gut umgehen, hat ein Gespür für die Situation und verhält sich gegenüber den Angehörigen pietätvoll. Auch mit ihrer Großmutter geht sie äußerst fürsorglich um. In ihrer Freizeit verkehrt Cassie mit recht gebrochenen Charakteren aus der Subkultur. Sie selbst ist eine soziale Aufsteigerin. Bei der Ausübung ihres Jobs ist sie äußerst akribisch, leidenschaftliche und stark interessiert. Ich könnte mir vorstellen, dass sie in einem der nachfolgenden Bände selbst noch zur Pathologin wird. Darüber hinaus ist auch der unmittelbare Kollegenkreis von Cassie nach meinem Dafürhalten gut ausgearbeitet. Als Kontrastfigur haben wir zum einen ihren Kollegen Jason, der respektlos und mit wenig Anstand mit den Toten umgeht, an denen er eine Autopsie vornimmt. Zum anderen gibt es noch Dr. Curzon, den herablassenden Vorgesetzten, der Cassie kleinhalten will und formalistisch agiert, statt ihr Talent zu fördern. Kurzum: Ein gelungenes Setting, das in sich stimmig ist.

 

Rechtsmedizinische Darstellung

Die Darstellung der rechtsmedizinischen Arbeit ist ebenfalls gelungen. Man merkt, dass die Autorin einige Recherchen investiert hat. Es werden zahlreiche medizinische Fachbegriffe verwendet, Details bei der Beschreibung einer Autopsie werden nicht ausgespart. Stellenweise war mir die Darlegung aber schon auch etwas zu drastisch und zu direkt. Was mir auch nicht so zugesagt hat, war die doch etwas mystische Idee, dass Cassie eine Art übersinnliche Fähigkeit besitzt und die Toten reden hören kann. Hier war ich froh, dass dieses Handlungselement nicht zu häufig vorkam. Das hätte den Krimi in meinen Augen doch zu unrealistisch wirken lassen.  

 

Inhaltliche Gestaltung

Inhaltlich werden im Wesentlichen zwei Handlungsstränge verfolgt. Auf der einen Seite bemüht sich Cassie darum, ihre eigene Familiengeschichte aufzuarbeiten und den Tod ihrer Mutter auf eigene Faust zu untersuchen. Dazu stellt sie Nachforschungen an und gerät selbst in Gefahr. Auf der anderen Seite geht es um die Rekonstruktion der Tatumstände eines Selbstmords. Hier stellt sich die zentrale Frage, warum sich das Opfer Bradley selbst umgebracht hat. Nach meinem Gefühl war die Handlung in der ersten Hälfte des Buchs etwas zu vorhersehbar, es war oft klar, was als Nächstes folgt, das hat sich dann aber in der zweiten Hälfte des Buchs gelegt. Insgesamt hätte das erzählerische Tempo nach meinem Geschmack gern höher ausfallen können. Aber das ist natürlich sehr subjektiv! Die Handlung wird geradlinig erzählt, sie ist also nicht auf verschiedenen Zeitebenen angesiedelt o.ä., es gibt auch keine größeren Abschweifungen. Die Anzahl der Perspektiven ist überschaubar.

 

Fazit

Ein Thriller mit einer starken Hauptfigur und einem gut durchdachten Figurentableau. Lediglich Tempo und Spannung hätten höher ausfallen können. Ich vergebe 4 Sterne.

Dienstag, 25. Oktober 2022

Eschbach, Andreas - Freiheitsgeld


5 von 5 Sternen


Interessante Dystopie mit vielen Denkanstößen

Was wäre, wenn in Deutschland eine Art bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt würde? Wie würde sich diese Einführung auf das gesellschaftliche Zusammenleben auswirken? Wie würde es die Bedeutung von Arbeit verändern? In diesem Spektrum von Fragen siedelt Andreas Eschbach seinen neuen dystopischen Roman „Freiheitsgeld“ an. Und die Zukunftsvision, die er dabei entwirft, kommt nicht sehr wünschenswert daher, sondern totalitär und stark kontrolliert. Steuerfahndungen spielen eine ebenso große Rolle wie abgeschottete, luxuriös ausgestattete Wohn-Oasen, in denen eine elitäre Schicht lebt.

Was Eschbach in meinen Augen gut gelingt, ist es, beim Leser/ bei der Leserin während der Lektüre viele offene Fragen zu erzeugen. Diese Offenheit animiert zum Weiterlesen. Es gibt viele interessante Figurenbeziehungen und auch recht komplex angelegte Personenkonstellationen, die man verfolgt und über die man mehr erfahren möchte. Da haben wir beispielsweise das junge Paar Lina und Valentin, die sich in einer der sogenannten Oasen einrichten möchten, dafür aber einen hohen Preis zahlen müssen. Wir haben den Altbundeskanzler Havelock, einen grimmigen alten Kauz mit einem guten Kern, der trotz seines hohen Alters noch sehr motiviert und ehrgeizig wirkt. Er möchte ein lang gehütetes Geheimnis lüften, und zwar zusammen mit seinem einstigen Widersacher, einem Journalisten namens Leventheim. Noch dazu haben wir den charismatischen Polizisten Ahmad Müller, der sich als geschickter und raffinierter Ermittler herausstellt, aber ein etwas „liebesturbulentes“ Privatleben aufweist. Und nicht zuletzt gibt es noch eine mysteriöse Familie, die aus der elitären Oase vertrieben wurde. Insgesamt also eine bunte Mischung, die durch Krimielemente bereichert wird.

Der Schreibstil ist ebenfalls flüssig, man kann der Handlung gut folgen. Jeder Handlungsstrang wird gut weiterentwickelt und nicht aus den Augen verloren, auch sind die verschiedenen Stränge vom Umfang gut ausbalanciert. Auch das Bild der Zukunft wird peu a peu erzeugt. Immer wieder gibt es Informationen, nicht zu gehäuft, so dass die Zukunftsvision mit der Zeit immer klarer wird. Das finde ich gut gemacht. Lediglich die Perspektivwechsel zwischen den Figuren ereignen sich manchmal etwas abrupt, so dass man sich bei der Lektüre auch einmal kurz orientieren muss. Das empfand ich stellenweise als etwas fordernd.

Besonders interessant wurde es nach meinem Dafürhalten immer dann, wenn es um das gesellschaftspolitisch relevante Thema „Freiheitsgeld“ ging. Häppchenweise werden dem Leser immer wieder Hintergründe dazu vermittelt. Vor- und Nachteile der Einführung werden gut deutlich. So wird z.B. auch die Frage diskutiert, ob ein Art bedingungsloses Grundeinkommen die Motivation zu arbeiten mindert oder aufrechterhält. Besonders interessant auch die Frage, inwieweit Arbeit als Sinnstiftung im Leben eines Menschen notwendig ist. Benötigt nicht jeder Mensch eine erfüllende Tätigkeit, um im Leben zufrieden zu sein? Kommt es zu einer gesellschaftlichen Stagnation, wenn die Erwerbsarbeit nicht mehr zwingend notwendig ist? Besonderes die Darlegung im letzten Viertel des Buchs fand ich sehr lesenswert.

Was ich ebenfalls gelungen fand, war der Umstand, dass Eschbach viele Ideen und Denkanstöße in sein Buch integriert (z.B. die Abschaffung der Schulpflicht). Zwar buchstabiert er nicht alles aus und Vieles bleibt doch recht vage, aber natürlich kann man auch nicht erwarten, dass alle Überlegungen tiefgründig wie in einem Sachbuch behandelt werden. Aber ich finde es gut, wenn ein Buch zum Nachdenken animiert. Auch die Problematisierung der veränderten Frauen- und Männerrollen hat mir gefallen.

Fazit: Eschbach entwirft eine interessante Zukunftsvision und wirft viele Fragen auf, die mich zum weiteren Nachdenken angeregt haben. Lediglich das Ende fand ich wenig hoffnungsvoll. Ich vergebe 4 Sterne.

Schami, Rafik - Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte


5 von 5 Sternen


Lob der mündlichen Erzählkunst

In dem Buch mit dem lustigen Titel „Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte“ von Rafik Schami wird deutlich, dass das mündliche Erzählen einen hohen Stellenwert in der arabischen Kultur besitzt. Die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, den Zuhörer/ die Zuhörerin fesseln zu können, sich in Gesprächen durchzusetzen wird schon in der Kindheit eingeübt. Es handelt sich um eine Kulturtechnik, der große Bedeutung beigemessen wird. Und die Ausbildung der Erzählkunst wird dabei von vielen Einflussfaktoren bestimmt. Davon zeugt der Inhalt der verschiedenen Geschichten, die in diesem Band versammelt sind. Die Lektüre verdeutlicht, dass das Schweigen in der arabischen Welt als Unhöflichkeit und negative Eigenschaft angesehen wird.

Direkt in der ersten Erzählung geht es um eine liebevolle Großvater-Enkel-Beziehung. Der Großvater nimmt seinen Enkel mit auf den Flohmarkt, auf dem eine Frau ihren Mann verkauft, weil dieser keine Geschichten zu erzählen weiß und zu viel schweigt. Es geht also um das Thema der Kommunikation in einer Ehe und darum, dass die Fähigkeit des Erzählens auch in zwischenmenschlichen Beziehungen eine wichtige Rolle spielt. Der Erzählton ist humorvoll und lustig-satirisch.

In einer weiteren Erzählung werden wir mit den Erinnerungen des Erzählers an seine Kindheit in der Stadt Damaskus und an das Murmelspiel konfrontiert. Die Atmosphäre der Straßen in Damaskus und das Leben dort werden gut eingefangen. Der Stil ist anekdotenhaft, Hintergründe zum Murmelspiel werden ebenso eingeflochten wie allgemein-philosophische Überlegungen. Der Erzähler schweift immer wieder ab, kehrt aber zu seinem roten Faden zurück. Ein Beispiel für gelungenes Erzählen!

In weiteren Erzählungen kommen die Begeisterung des Erzählers für Geschichten aus 1001 Nacht zum Ausdruck, die im Radio gesendet werden, und auch Reflexionen zur Bedeutung von Märchen für Kinder spielen eine Rolle. Kenntnisreich setzt sich der Erzähler mit der literarischen Gattung der Märchen und ihrer Verbreitung in den unterschiedlichen Kulturen auseinander. Und auch Sprichworte, nach denen Araber nach Aussage des Erzählers süchtig seien, werden in diesem Zusammenhang in einer weiteren Erzählung thematisiert. Als sehr amüsant habe ich die Beispiele für sogenannte „Dschinn-Geschichten“ empfunden, die eine Besonderheit arabischer Erzähltradition darstellen und sehr derb sowie zotenhaft daherkommen („Der Pechvogel und sein wundersamer Furz“).

Nicht zuletzt enthält das Werk eine interessante Antrittsvorlesung zum Verhältnis von Wort und Schrift aus dem Jahr 2010, die der Autor im Rahmen seiner Brüder Grimm Professur in Kassel gehalten hat. In diesem Zusammenhang fand ich besonders die Ausführungen interessant, dass Autor:innen arabischer Länder den starken Einfluss mündlicher Erzählkunst oft in ihren Werken beibehalten.

Fazit

Insgesamt hat mir die Lektüre dieses schmalen Büchleins unheimlich gut gefallen, ich habe oft geschmunzelt und viel dazugelernt. Was mich lediglich etwas verwirrt hat: Die Instanz des Erzählers und des Autors verschwimmen bei der Lektüre etwas. Häufiger habe ich mich gefragt, ob Rafik Schami eigene Erfahrungen schildert oder ob es sich um einen fiktiven Erzähler handelt, der spricht. Mich hätte noch interessiert, welche Inhalte womöglich autobiographisch geprägt sind. Nichtsdestotrotz vergebe ich 5 Sterne.

Sonntag, 23. Oktober 2022

Nilsson, Ulf - Kommissar Gordon. Der erste Fall


4 von 5 Sternen


„Halt! Im Namen des Gesetzes“

Bei dem Kinderbuch „Kommissar Gordon. Der erste Fall“ von Ulf Nilsson, illustriert von Gitte Spee, handelt es sich um einen gelungenen Kinder-Krimi mit einem humorvollen Sprachton, der in einer Tierwelt angesiedelt ist. Es ist der Auftakt zu einer Reihe, die im Moritzverlag erschienen ist. Bei dem ersten Fall steht ein Eichhörnchen im Zentrum, dem seine Nüsse gestohlen worden sind. Kommissar Gordon, die Hauptfigur des Buchs, widmet sich der Aufklärung des Falls und sucht den „Großdieb“. Spannung wird dann natürlich ganz klassisch dadurch erzeugt, dass man nicht weiß wer der Täter ist. Gordon heckt einen Plan aus, um den Dieb dingfest zu machen. Die jungen Zuhörer werden mit diesem Buch also bereits an die Textsorte „Krimi“ mit seinen typischen Merkmalen herangeführt. Das finde ich gut!

Auffällig: Die Charaktere werden liebevoll und mit einem Augenzwinkern dargestellt. Kommissar Gordon beispielsweise wird zwar auf der einen Seite wenig respekteinflößend dargestellt, entpuppt sich aber auch als jemand mit viel Erfahrung und einer guten Beobachtungsgabe. Er ist ein hervorragender Spurenleser. Bei seinen Schlussfolgerungen ist er nicht auf den Kopf gefallen, lediglich manchmal etwas vorschnell. Als amüsant habe ich empfunden, was der Kommissar in seine Berichte hineinschreibt. Doch trotz seiner vielen Talente wirkt Kommissar Gordon auch etwas tölpelhaft und verfressen. Vor allem seine Vorliebe für Muffins kommt an vielen Stellen auf amüsante Art und Weise zum Ausdruck („Es ist gut zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Muffins zu haben“). Auch die Tätigkeit des Stempelns und das große Schlafbedürfnis des Kommissars nehmen in der Geschichte viel Raum ein.

Der Sprachton ist humorvoll. So weist das Buch nicht nur kreative Sprachspiele in Form von Buchstabenvertauschungen bei Wortverbindungen auf („Schreckliche Diebe“ wird zu „dreckliche Schiebe“ etc.), auch die Interaktionen zwischen Gordon und seiner Assistentin Buffy, einer Maus, sind lustig gestaltet worden. An vielen Stellen im Text werden verallgemeinernde Aussagen verwendet, die zum Schmunzeln einladen. Durch die stetige Wiederholung bestimmter, feststehender Äußerungen werden während der Lektüre „running gags“ erzeugt. Das hat mir gut gefallen!

Kritische Leser könnten bemängeln, dass in diesem Kinderbuch die Polizeiarbeit nicht ernsthaft genug dargestellt wird, aber mich hat das nicht gestört. Man darf den Inhalt nicht zu ernst nehmen. Es handelt sich um Satire! Das einzige, was ich kritisch anmerken möchte, sind die Illustrationen. Diese finde ich zu schlicht. Hier sehe ich Verbesserungspotential.

Fazit: 

Ein humorvoller und spannender Kinder-Krimi, angesiedelt in der Tierwelt, mit einer liebevoll und satirisch gezeichneten Hauptfigur. Die jungen Zuhörer:innen bzw. Leser:innen werden hier bereits an die typischen Elemente eines Krimis herangeführt. Lediglich die Illustrationen hätten nach meinem Geschmack ausgefallener und schmuckvoller ausfallen können.

Freitag, 21. Oktober 2022

Khani, Behzad Karim - Hund, Wolf, Schakal

 


4 von 5 Sternen



Kriminelles Leben in Neukölln

 

Inhalt
Ich habe dieses Buch in der Erwartung gelesen, dass darin ähnliche Inhalte behandelt werden, wie ich sie von Abbas Khider kenne, dessen literarisches Gesamtwerk mir sehr gut gefällt (vgl. dazu frühere Rezensionen). Doch Behzad Karim Khani beleuchtet eine ganz andere Welt: Die Welt der Kriminellen im arabisch dominierten Neukölln (vgl. Klappentext). Im Zentrum der Handlung steht die Hauptfigur Saam und seine Entwicklungsgeschichte hin zu einem Verbrecher. Die Beschreibung der Zustände im Heimatland, dem Iran, spielt nur zu Beginn des Romans eine Rolle und reicht nicht an das Werk von Abbas Khider heran, der deutlich mehr in die Tiefe geht, wenn es um die Darlegung des anderen Kulturkreises geht. In „Hund Wolf Schakal“ geht es dafür um etwas anderes. Und für mich wird die Geschichte um Saam auch erst dann interessant, als er nach seiner Flucht in Deutschland ankommt und in Neukölln ein neues Leben beginnt. Seine Bekanntschaft mit Heydar, einem Libanesen, wird ihm zum Verhängnis. Er gerät auf die schiefe Bahn und wird zu einem gefürchteten Schläger und Gangster. Die Schilderung dieses Entwicklungsprozesses ist direkt und hart. Zartbesaitete Leser:innen sollten lieber zu einem anderen Buch greifen. Der Autor ist schonungslos in seiner Darstellung, der Umgangston der Protagonisten miteinander ist rau und vulgär.

Was dem Autor in meinen Augen v.a. gut gelingt, ist die Darstellung der Parallelwelt, in der Saam sich bewegt, und zwar mit all ihren Stereotypen und Moralvorstellungen. (Clan-)Kriminalität und Gewalt ist allgegenwärtig. Bei den handelnden Figuren handelt es sich um gebrochene Charaktere, die von Traumata geprägt sind. Erschreckend ist insbesondere, mit welcher Brutalität und Rücksichtslosigkeit Heydar agiert und damit Saams weiteren Lebensweg negativ beeinflusst, der sich ihn zum Vorbild nimmt. Das kriminelle Verhalten der Figuren wird sehr detailliert und authentisch beschrieben, es wirkt sehr realistisch. Interessant sind auch die Regeln dieser Parallelwelt: Es geht um Stolz und Respekt, es geht darum, sich zu behaupten und stark zu sein, Löwe zu sein, nicht Hyäne. Im Viertel geht es hierarchisch zu, es geht um Machterhalt. Die Figuren müssen ihre Stärke beweisen und sie bewahren. Das alles wird sehr gut dargestellt!

Dem Autor gelingt es in meinen Augen unheimlich gut, sich in die Gedankenwelt seiner Figuren hineinzuversetzen. Und für den Leser bzw. die Leserin wirken diese Gedankenwelten unheimlich befremdlich, teils abstoßend, nicht nachvollziehbar.

 

Sprache

Die sprachliche Gestaltung des Werks ist gelungen. Der Stil gefällt mir unheimlich gut. Schon auf den ersten Seiten wird deutlich, dass auf eine bildhafte Sprache zurückgegriffen wird. Hinzu kommen kurze, knappe, oft asyndetisch gereihte Satzkonstruktionen. Insgesamt eine auffällig varianten-, abwechslungsreiche und bunte Syntax. Viele Aufzählungen, die teils über mehrere Zeilen gehen sowie abgehackte, teils verblose Sätze, Parallelismen und kreative Vergleichskonstruktionen (z.B. „Ab dem dritten Tag wurde der Niederschlag zum Schicksal wie ein unbezahlter Heroindealer“, S.24 oder „Seine Gedanken waren wie die Insekten ins Saams Glas“, S. 25). Der Autor demonstriert einen einfallsreichen Umgang mit Sprache und erzeugt damit nach meinem Gefühl ein hohes Maß an Dynamik, Impulsivität und Emotionalität.

 

Fazit

Eine harte und schonungslose Lektüre, die Einblick in eine kriminelle Parallelwelt eröffnet. Die Darstellung wirkt authentisch und realistisch, der Autor kann sich gut in die Gedankenwelt seiner Figuren hineinversetzen. Sprachlich überzeugt das Werk durch eine variantenreiche und kreative Gestaltung. Letztlich hat mir das Werk bis zu einem gewissen Punkt sehr gut gefallen, allerdings hat es auf den letzten 100 Seiten in meinen Augen an Qualität verloren. Ich war nicht mehr so gefesselt wie zu Beginn. Das kann bei anderen Leser:innen aber ganz anders sein. Ich vergebe 4 Sterne!

Donnerstag, 20. Oktober 2022

Carlsen Verlag - Meine schönsten Weihnachtsmärchen


4 von 5 Sternen


Abwechslungsreiche Anthologie mit gelungener Märchenauswahl

Das Märchenbuch „Meine schönsten Weihnachtsmärchen“, herausgegeben vom Carlsen-Verlag und illustriert von Kai Würbs, ist in meinen Augen eine gelungene Anthologie, die sich auf variantenreiche Weise mit dem Thema „Weihnachten“ beschäftigt und inhaltlich über die klassischen Märchen von Jacob und Wilhelm Grimm hinausgeht. So findet man auch Märchen von Hans Christian Andersen, Luise Büchner, Charles Dickens, Uwe Prieser sowie Sophie Reinheimer u.a. darin. 


Inhalt und Konzept

Das Buch enthält 24 Märchen und ist so gestaltet, dass man jeden Tag ein weihnachtliches Märchen vorlesen kann. Dabei werden teilweise auch interessante Hintergrundinformationen vermittelt, so z.B. darüber, wie der Adventskranz oder der Adventskalender entstanden sind. In einigen Märchen wird auch das Christkind als Figur thematisiert und bekommt damit mehr „Kontur“. Das finde ich gelungen, weil ja in der kindlichen Vorstellungswelt das „Christkind“, der „Weihnachtsmann“ und der „Nikolaus“ als Charaktere doch sehr miteinander verschwimmen. 

Was mir auch gut gefallen hat: Die Anthologie umfasst nicht nur die klassischen Märchen der Brüder Grimm, sondern enthält auch Kunstmärchen. Hier geht die Märchensammlung also über das, was in insbesondere in Schulbüchern in Klasse 5 häufig angeboten wird, hinaus. In der Schule werden ja vor allem Grimms Märchen und ihre Merkmale behandelt und dienen auch als Anlass, selbst Märchen zu schreiben. Diese Märchensammlung ist also auch eine gute Ergänzung zum Schulunterricht.

Als besondere erzählerische Highlights habe ich solche Geschichten empfunden, bei denen aus der Sicht von Gegenständen berichtet wird: so bei „Eisblumen“ von Sophie Reinheimer, bei „Der Tannenbaum“ von Hans Christian Andersen sowie bei „Der kleine Tannenbaum“ von Manfred Kyber. Während Reinheimer das Geschehen aus der Perspektive von Möbeln beschreibt, wird in den „Tannenbaum-Geschichten“ aus der Sicht des Baums geschildert, was an Weihnachten mit ihm und seiner Umgebung passiert. Das fördert in meinen Augen nicht nur die kindliche Empathie, also das „Sich-in-andere-hineinversetzen“, sondern kann sogar kreativer Anlass sein, sich selbst ähnliche Geschichten zu überlegen. 


Bebilderung

Die Bebilderung ist nach meinem Dafürhalten lobenswert. Was mir besonders gut gefallen hat, ist der Umstand, dass viele großformatige Bilder vorkommen (immerhin 30 Bilder, die mindestens eine ganze Seite umfassen, bei insgesamt 206 Seiten). Lediglich das Bild auf S. 33 ist durch den Druck, so scheint es mir, arg dunkel geraten. Insgesamt aber sind die Bilder textunterstützend, farbenprächtig und die Farbgebung ist kräftig und sättigend. Die Illustrationen von Kai Würbs haben bei mir einen positiven Eindruck hinterlassen


Kritikpunkte

Der Umfang der Märchen ist recht unterschiedlich und reicht von gerade einmal drei Seiten bis hin zu 14 Seiten. Wünschenswert wäre es in meinen Augen gewesen, die Textlänge stärker anzugleichen, damit die abendliche Vorlesezeit jeden Abend ungefähr identisch ist. 

Ich hätte es interessant gefunden, wenn jedes Märchen auch noch ein Erscheinungsjahr als Angabe erhalten hätte. Auch hätte ich bei den Grimm Märchen gut gefunden, wenn in einem Nachwort kurz darauf hingewiesen worden wäre, um welche Fassung es sich handelt. Einige der Grimm Märchen wirkten auf mich doch sehr stark gekürzt, ohne dass die Kürzung kenntlich gemacht wurde. 

Manche Wörter sind etwas veraltet und auch aus der Zeit gefallen. Sie sind für Kinder nicht sofort verständlich. Diese kann man während der Lektüre natürlich erklären, aber eine Art „Wörterliste mit Erläuterung“ im Anhang hätte ich hilfreich gefunden. 

Hin und wieder schleicht sich doch einmal der eine oder andere kleine Fehler ein, ich habe einen Tippfehler („Feuerstahl“ statt „Feuerstrahl“, S. 141) sowie einen Grammatikfehler („Es war einmal Schuster“, S. 95) entdeckt. Betrachtet auf die Gesamtzahl der Seiten dieses Buchs, sind diese kleinen Ungenauigkeiten aber zu verschmerzen. 


Fazit

Eine bunte Mischung von Weihnachtsmärchen unterschiedlicher Autoren, die inhaltlich gut ausgewählt worden sind. Alles rund herum um das Themengebiet „Weihnachten“ und „Winter“ wird variantenreich abgedeckt. Viele großformatige Bilder mit kräftiger Farbgebung runden den positiven Gesamteindruck ab. Ich hätte mir lediglich noch mehr Hintergrundinformationen zu den einzelnen Texten gewünscht, z.B. Erscheinungsjahr. Ich vergebe insgesamt 4 Sterne, weil ich doch noch einige wenige Verbesserungsmöglichkeiten sehe. 



Richter, Jutta - Annabella Klimperauge. Geschichten aus dem Kinderzimmer



4 von 5 Sternen


Abenteuer mit lebendigen Kuscheltieren

Das Motiv der „sprechenden Tiere“ findet man bereits in Fabeln oder Märchen. Man denke nur an die Bremer Stadmusikanten. Abgewandelt davon findet man in Kinderbüchern und auch -filmen das Motiv der „lebendigen Kuscheltiere“, die ein geheimes Leben führen und oft nur mit ausgewählten Personen interagieren können (z.B. Toy Story). In einer früheren Rezension habe ich bereits das Werk „Die Stoffis“ von Sabine Städing genauer betrachtet, in dem es darum geht, dass alte, ausrangierte Stofftiere ausgesetzt werden und sich auf die Suche nach einem neuen Zuhause begeben. Ein sehr empfehlenswertes Kinderbuch (vgl. eine frühere Rezension). Durch eine Empfehlung bin ich nun auf das Kinderbuch „Annabella Klimperauge. Geschichten aus dem Kinderzimmer“ von Jutta Richter aufmerksam geworden, in dem Kuscheltiere ebenfalls eine tragende Rolle spielen. Ich beziehe mich in meiner Rezension auf die Originalausgabe vom Bertelsmann Verlag aus dem Jahr 1989. Es kann sein, dass jüngere Auflagen bereits eine Überarbeitung erfahren haben, von der ich keine Kenntnis habe.

 

Inhalt

In Lenas Regal wohnen die Puppe Annabella Klimperauge, Leo der Stofflöwe und der kleine Klaus Teddy. Und gemeinsam erleben sie viele Abenteuer, die allesamt kindgerecht gestaltet worden sind und der Lebenswelt der jungen Zuhörer:innen entsprechen. So erleben sie gemeinsam eine Neujahrsnacht mit Feuerwerk, veranstalten ein Picknick, bei dem der kleine Teddy Klaus aus Versehen verloren geht. Beim Baumhausbau werden sie von einem Unwetter überrascht. Es wird Geburtstag gefeiert und es wird die Schule besucht. Als Lena im Herbst einen Drachen steigen lässt, verfängt sich Leo unversehens in der Schnur und droht verloren zu gehen. Auch Weihnachten wird gefeiert, aber nicht so besinnlich, wie man es vermuten könnte: Die Stofftiere fürchten, dass ein neues Plüschtier die Aufmerksamkeit von Lena völlig in Besitz nehmen wird. Deshalb reißen sie aus. Wird Lena sie suchen und finden?

 

Kurzer Vergleich zu den „Stoffis“ von Sabine Städing

Interessant ist, dass man dieses Buch an vielen Stellen mit dem Werk „Die Stoffis“ in Bezug setzen kann, man erkennt deutliche Unterschiede, aber auch einige Parallelen. Dabei liegen zwischen dem Erscheinen von „Annabella Klimperauge“ und den „Stoffis“ bereits über 30 Jahre. Aber dennoch ein paar wenige Sätze dazu: Im ersten Band von den „Stoffis“ erfahren wir nichts zur Vorgeschichte der Kuscheltiere und auch nichts über ihre Besitzer. Das ist bei „Annabella Klimperauge“ anders. Hier erleben wir, wie Lena mit ihren drei Kuscheltieren gemeinsame Unternehmungen bestreitet. Ein Aussortieren kommt für sie nicht in Frage. Dennoch spielt die Angst der Kuscheltiere, ausgesetzt oder durch ein neues Kuscheltier ersetzt zu werden ebenfalls eine große Rolle. Es entstehen interessante Leerstellen, die 30 Jahre später bei Städing dann wieder aufgegriffen werden. Das nur am Rande. Letztlich ist es gut, dass Bücher mit einem solchen Inhalt, hervorragend an die Lebenswelt von Kindern anknüpfen. Denn jedes Kind spielt mit Kuscheltieren und haucht ihnen im Rollenspiel Leben ein.

 

Bebilderung

Abschließend noch ein paar Bemerkungen zur Bebilderung: Diese hätte nach meinem Dafürhalten einheitlicher gestaltet werden können. Es gibt sowohl schwarz-weiße als auch farbige Bilder. Eine durchgängige farbige Gestaltung hätte ich besser gefunden. Auch sind die Bilder in ihrer Größe sehr unterschiedliche gestaltet worden. Man findet sehr, sehr kleine Bilder (z.B. S. 34, S. 49, S. 64, S. 65), dann aber auch wieder großflächige Bilder, die eine mindestens eine Seite umfassen (11 Bilder auf 71 Seiten). Auch hätten es insgesamt mehr Bilder sein können. So gibt es textlastige Doppelseiten ganz ohne Illustration. Grundsätzlich sind die Bilder aber textunterstützend und vor allem die Emotionen der Kuscheltiere kommen durch die gezeichneten Gesichtsausdrücke gut und zur Situation passend zum Ausdruck.

 

Fazit

Ein durchdacht konzipiertes Kinderbuch, das viele lebensweltrelevante Themen aufgreift, die Kuscheltiere sind schöne Identifikationsfiguren und das Buch bietet auch einige Sprechanlässe, um mit dem Kind während der Lektüre ins Gespräch zu kommen. Lediglich bei der Bebilderung sehe ich noch Verbesserungspotential. Den Wortschatz habe ich mir nicht im Detail angeschaut, aber ich bin über keine Stelle gestolpert. Ich vergebe 4 Sterne!