Dieses Blog durchsuchen

Sonntag, 26. Februar 2023

Goschler, Juliana - Sprachbildung für alle!

 


3 von 5 Sternen



Eine Antwort


Die klassische Form einer Rezension wird der Streitschrift von Juliana Goschler mit dem Titel „Sprachbildung für alle!“ nicht gerecht. Ich möchte hier viel mehr eine Antwort auf den Text geben, auch um den Diskurs zu bereichern. Und ich werde in diesem Zusammenhang einzelne Dinge aus den Kapiteln herausgreifen, an denen ich mich inhaltlich „gerieben“ habe, die mich zum Widerspruch herausforderten, zu denen ich eine andere Sichtweise habe oder wo ich etwas zu bedenken geben will.

 

Nach der Lektüre dieser Streitschrift ist mir vor allem Folgendes an konkreten Vorschlägen hängen geblieben: Lehrkräfte sollten stärker für bildungssprachliche Elemente sensibilisiert werden und v.a. Fortbildungen sowie eine verbesserte Lehrerausbildung sind das Mittel dazu. Und es sollten mehr Ressourcen in die Bildungsinstitutionen investiert werden. Sprachbildung soll nicht Privatsache sein, sondern Aufgabe von Bildungsinstitutionen (Einwand: Ist sie das denn nicht schon längst? Gibt es etwa keine Sprachförderkurse und Willkommensklassen an den Schulen?) . Goschler konstatiert, dass es in den Bildungsinstitutionen an Zeit und an der entsprechenden Ausbildung des Personals fehle und dass die personelle Ausstattung an den Bildungsinstitutionen mangelhaft sei (vgl. S. 43). Das Bildungswesen sei personell unterausgestattet und unterfinanziert (vgl. S. 45). Die Autorin sieht in der Sprachbildung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und fordert letztlich eine durchgängige Sprachbildung für alle, die sich durch alle Bildungs- und Ausbildungswege hindurchzieht (vgl. S. 61-62).

 

Mir sind diese Forderungen und die Ausführungen in dieser Streitschrift zu allgemein, zu plakativ und zu wenig konkret. Wie soll die Aus- und Fortbildung konkret aussehen? Was ist von den einzelnen Bildungseinrichtungen konkret zu leisten? So könnte doch z.B. die Sprachwissenschaft auch schon einen wichtigen Teil zur Verbesserung der Situation beitragen. Konkret gefragt: Wie kann z.B. die Linguistik den Lehrbetrieb an den Bildungsinstitutionen von außen konkret unterstützen? Gibt es linguistisch fundierte Übungsmaterialen für sprachsensiblen Unterricht, die an den Schulen bereits eingesetzt werden? Sind diese Materialien auch an die curricularen Vorgaben angepasst? Gibt es gewinnbringende Erkenntnisfortschritte seitens der Linguistik hinsichtlich des Zweitsprach- und des Schriftspracherwerbs, die man praktikabel für didaktische Zwecke weiterentwickeln kann? Gibt es empirisch erprobte Förderkonzepte, die als besonders erfolgreich evaluiert wurden? Wie kann das Training von Vertextung für die verschiedenen Zielgruppen am besten umgesetzt werden? Was sind die jeweiligen textuellen Kompetenzen, die Lernende für das jeweilige Alter benötigen, um in den Bildungsinstitutionen erfolgreich zu sein? Und wie vollzieht sich der textuelle Kompetenzausbau eines Lernenden bei den verschiedenen Textsorten und Aufsätzen aus linguistischer Sicht (und wie lassen sich die theoretischen Erkenntnisse wiederum auf die Praxis übertragen)? Und wie lassen sich (linguistisch fundiert) diese textuellen Kompetenzen ggf. praktisch erweitern? Gibt es Erkenntnisse darüber, was Seiteneinsteiger aus den verschiedenen Herkunftsländern bereits an textuellen Vorkenntnissen mitbringen?

 

Um einmal ein konkretes Beispiel zu bringen: Ein syrischer Flüchtling, der sich z.B. mündlich sehr gut ausdrücken kann, kommt als Seiteneinsteiger in die gymnasiale Oberstufe und scheitert dann im schriftsprachlichen Bereich an den geforderten Aufsatzformen (z.B. am Schreiben einer literarischen Erörterung). Wie kann ich diesem jungen Menschen gezielt helfen? Wie kann er sich in kurzer Zeit das textsortenspezifische Wissen zu einer Aufsatzform aneignen, wenn seine schulische Sozialisation in einem anderen Land stattgefunden hat? Vorteilhaft wäre es sicherlich auch, wenn die Schulen über eigene (fächerübergreifende) Schreibcurricula verfügten, aus denen die textsortenspezifischen Merkmale hervorgingen (damit eine gewisse Vergleichbarkeit entsteht). So wüsste jede Lehrkraft auch, welche Textsorte und welche Aufsatzform in welcher Klassenstufe und in welchem Fach zum Thema gemacht werden.

 

Was in meinen Augen überhaupt nicht weiterhilft, sind nebulöse, vage Vorschläge von außen, wie die Bildungsinstitutionen ihren Aufgaben besser nachkommen können. Lehrkräfte und Erzieher:innen sollten stärker von den Expert:innen unterstützt werden, und zwar mit praxisbezogenen Hilfen vor Ort. Dafür kann es in meinen Augen hilfreich sein, wenn die Forscher:innen selbst (auch für längere Zeit einmal) an die Schulen gehen, dort hospitieren, selbst Unterrichtserfahrung sammeln, ihre eigenen Materialien selbst erproben und evaluieren und mit den Lehrkräften vor Ort ganz eng zusammenarbeiten. Dies fördert (nebenbei bemerkt) auch die Akzeptanz.

 

Die Lehrkräfte haben mit den tagtäglichen Herausforderungen schon genug zu tun, nach meinem Dafürhalten kann es jetzt nicht nur die Lösung sein, ihnen weitere Aufgaben aufzubürden (zumindest nicht ohne Entlastung an anderer Stelle), zumal sie sowieso schon für viele weitere Dinge zuständig sein sollen (Medienpädagogik, gesunde Ernährung etc.). Von den verschiedenen Nachwirkungen der Corona-Pandemie ganz zu schweigen. Und noch etwas: Sprachliche Bildung ist mit Sicherheit wichtig. Aber wenn ich eine Prioritätenliste erstellen müsste, so würden andere Dinge (z.B. das soziale Lernen) noch eine Vorrangstellung einnehmen.

 

In der Schule geht es in meinen Augen vorwiegend erst einmal darum, ein funktionierendes soziales Miteinander zu finden. Lehrkräfte oder Erzieher:innen sollten in erster Linie eine positive Beziehungsebene zu ihren Schüler:innen aufbauen können. Sie ist die Grundlage dafür, dass überhaupt fachliches Lernen möglich ist. Denn wie viel Sprachbildung ist möglich, wenn im Alltag hauptsächlich Konflikte gelöst werden müssen oder wenn es schon an Grundvoraussetzungen fehlt (z.B. sich gegenseitig zuhören etc.)? Vor dem fachlichen Lernen kommt das soziale Lernen. Bildungsinstitutionen haben in meinen Augen vor allem die Aufgabe, die ihnen anvertrauten Kinder zu gesellschaftsfähigen Menschen heranwachsen zu lassen und sie auf diesem Weg zu unterstützen und zu fördern, damit diese Verantwortung für sich und für andere übernehmen, damit sie Toleranz gegenüber sich selbst aber (vor allem) auch gegenüber anderen entwickeln, und das geht natürlich nur unter Einbezug des Elternhauses.

 

Und sind es nicht auch die Universitäten, die Verantwortung für fachliches Lernen auf die vorherige Bildungsinstitution „abschieben“? Kamen und kommen die Rufe nach wissenschaftspropädeutischer Vorbildung nicht aus der universitären Lehre? Sind z.B. Facharbeiten nicht auch aus diesem Grund eingeführt worden, damit Schüler:innen auf die wissenschaftliche Praxis angemessen vorbereitet werden? Was soll von den Schüler:innen denn noch alles geleistet werden? Sind nicht auch die Universitäten in der Pflicht, (selbst) Sprachbildung zu betreiben? In der Streitschrift liegt mir der Fokus zu sehr auf den Schulen. Eine stärkere Kritik am universitären Lehrbetrieb hätte der Streitschrift ebenfalls gut getan, da hätte die Autorin doch bestimmt auch noch einiges zu sagen können.

 

Zusätzlich möchte ich noch darauf hinweisen, dass es einige Thesen in dieser Streitschrift gab, mit denen ich überhaupt nicht einverstanden bin, weil sie viel zu pauschalisierend sind (hier nur ein Zitat als Beispiel: „Es wird z.B. in der Schule häufig einfach davon ausgegangen, dass die Schüler/-innen das, was die Lehrkräfte erklären und was in den Schulbüchern steht, sprachlich schon verstehen werden. […] Wenn Vermittlung scheitert, wird so gut wie nie ermittelt, ob es an fachlichen oder vielleicht nur am sprachlichen Verständnis gelegen haben könnte“, S. 11-12). Darauf möchte ich hier im Detail nicht eingehen, das würde den Rahmen sprengen. Es gibt noch weitere solcher Thesen. Ich möchte aber zu bedenken geben, dass mit gewissen Aussagen Vorurteile unnötig geschürt werden. Und ich habe mich schon gefragt, inwieweit manche Behauptungen, bei denen es sich vermutlich um Zuspitzungen handelt, überhaupt repräsentativ sind.

 

Auch möchte ich die Debatte abschließend noch um einen Aspekt erweitern: Nach meinem Empfinden entlässt die Autorin die Eltern zu sehr aus ihren elterlichen Pflichten. Goschler hat zwar Recht, dass viele Eltern aus verschiedenen Gründe zu Hause keine angemessene Sprachbildung leisten können und diese dann in den Bildungsinstitutionen stattfinden muss. Aber auch hier möchte ich darauf hinweisen, dass unabhängig von jeglicher sprachlichen (Vor-)Bildung in den Familien Grundvoraussetzungen erfolgreichen Lernens erst einmal erfüllt sein müssen. Beispiel: Ein Kind kommt stets mit wenigen oder ganz ohne Arbeitsmaterialien in die Schule. Müssen Eltern dann nicht in die Pflicht genommen werden? Wie sollen diese Kinder sonst dem Unterricht folgen und im Unterricht angemessen mitarbeiten können? Auch wenn ein Kind schon nicht mit den (auch, aber nicht nur) in der Familie vermittelten Verhaltensweisen wie Höflichkeit, Rücksichtnahme, Toleranz und Empathie in die Schule (oder in den Kindergarten) kommt, wie können die Bildungsinstitutionen (allein) dann dieses Defizit auffangen? Und das unabhängig von jeder sprachlichen (Vor-)Bildung. Auch hierauf benötigt es Antworten.

 

Fazit

Lobenswert ist, dass die Autorin eine wichtige Debatte anstoßen will. Das finde ich gut. Nicht so gut finde ich aber, dass die Ausführungen weitestgehend sehr allgemein gehalten sind und wenig konkrete Praxisbezüge aufweist. Vieles bleibt nebulös und vage. Da hätte ich mehr erwartet. Aus diesem Grund gebe ich auch nur 3 Sterne.  

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen