3 von 5 Sternen
Eine Antwort
Die klassische Form einer Rezension wird der Streitschrift von Juliana
Goschler mit dem Titel „Sprachbildung für alle!“ nicht gerecht. Ich möchte hier
viel mehr eine Antwort auf den Text geben, auch um den Diskurs zu bereichern. Und
ich werde in diesem Zusammenhang einzelne Dinge aus den Kapiteln herausgreifen,
an denen ich mich inhaltlich „gerieben“ habe, die mich zum Widerspruch
herausforderten, zu denen ich eine andere Sichtweise habe oder wo ich etwas zu
bedenken geben will.
Nach der Lektüre dieser Streitschrift ist mir vor allem Folgendes an konkreten
Vorschlägen hängen geblieben: Lehrkräfte sollten stärker für
bildungssprachliche Elemente sensibilisiert werden und v.a. Fortbildungen sowie
eine verbesserte Lehrerausbildung sind das Mittel dazu. Und es sollten mehr
Ressourcen in die Bildungsinstitutionen investiert werden. Sprachbildung soll
nicht Privatsache sein, sondern Aufgabe von Bildungsinstitutionen (Einwand: Ist
sie das denn nicht schon längst? Gibt es etwa keine Sprachförderkurse und
Willkommensklassen an den Schulen?) . Goschler konstatiert, dass es in den
Bildungsinstitutionen an Zeit und an der entsprechenden Ausbildung des
Personals fehle und dass die personelle Ausstattung an den
Bildungsinstitutionen mangelhaft sei (vgl. S. 43). Das Bildungswesen sei
personell unterausgestattet und unterfinanziert (vgl. S. 45). Die Autorin sieht
in der Sprachbildung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und fordert letztlich
eine durchgängige Sprachbildung für alle, die sich durch alle Bildungs- und
Ausbildungswege hindurchzieht (vgl. S. 61-62).
Mir sind diese Forderungen und die Ausführungen in dieser
Streitschrift zu allgemein, zu plakativ und zu wenig konkret. Wie soll die Aus-
und Fortbildung konkret aussehen? Was ist von den einzelnen
Bildungseinrichtungen konkret zu leisten? So könnte doch z.B. die
Sprachwissenschaft auch schon einen wichtigen Teil zur Verbesserung der
Situation beitragen. Konkret gefragt: Wie kann z.B. die Linguistik den
Lehrbetrieb an den Bildungsinstitutionen von außen konkret unterstützen? Gibt
es linguistisch fundierte Übungsmaterialen für sprachsensiblen Unterricht, die
an den Schulen bereits eingesetzt werden? Sind diese Materialien auch an die
curricularen Vorgaben angepasst? Gibt es gewinnbringende Erkenntnisfortschritte
seitens der Linguistik hinsichtlich des Zweitsprach- und des
Schriftspracherwerbs, die man praktikabel für didaktische Zwecke
weiterentwickeln kann? Gibt es empirisch erprobte Förderkonzepte, die als
besonders erfolgreich evaluiert wurden? Wie kann das Training von Vertextung
für die verschiedenen Zielgruppen am besten umgesetzt werden? Was sind die
jeweiligen textuellen Kompetenzen, die Lernende für das jeweilige Alter
benötigen, um in den Bildungsinstitutionen erfolgreich zu sein? Und wie vollzieht
sich der textuelle Kompetenzausbau eines Lernenden bei den verschiedenen
Textsorten und Aufsätzen aus linguistischer Sicht (und wie lassen sich die
theoretischen Erkenntnisse wiederum auf die Praxis übertragen)? Und wie lassen
sich (linguistisch fundiert) diese textuellen Kompetenzen ggf. praktisch erweitern?
Gibt es Erkenntnisse darüber, was Seiteneinsteiger aus den verschiedenen
Herkunftsländern bereits an textuellen Vorkenntnissen mitbringen?
Um einmal ein konkretes Beispiel zu bringen: Ein syrischer Flüchtling,
der sich z.B. mündlich sehr gut ausdrücken kann, kommt als Seiteneinsteiger in
die gymnasiale Oberstufe und scheitert dann im schriftsprachlichen Bereich an
den geforderten Aufsatzformen (z.B. am Schreiben einer literarischen
Erörterung). Wie kann ich diesem jungen Menschen gezielt helfen? Wie kann er
sich in kurzer Zeit das textsortenspezifische Wissen zu einer Aufsatzform aneignen,
wenn seine schulische Sozialisation in einem anderen Land stattgefunden hat? Vorteilhaft
wäre es sicherlich auch, wenn die Schulen über eigene (fächerübergreifende)
Schreibcurricula verfügten, aus denen die textsortenspezifischen Merkmale
hervorgingen (damit eine gewisse Vergleichbarkeit entsteht). So wüsste jede
Lehrkraft auch, welche Textsorte und welche Aufsatzform in welcher Klassenstufe
und in welchem Fach zum Thema gemacht werden.
Was in meinen Augen überhaupt nicht weiterhilft, sind nebulöse, vage
Vorschläge von außen, wie die Bildungsinstitutionen ihren Aufgaben besser
nachkommen können. Lehrkräfte und Erzieher:innen sollten stärker von den
Expert:innen unterstützt werden, und zwar mit praxisbezogenen Hilfen vor Ort.
Dafür kann es in meinen Augen hilfreich sein, wenn die Forscher:innen selbst
(auch für längere Zeit einmal) an die Schulen gehen, dort hospitieren, selbst
Unterrichtserfahrung sammeln, ihre eigenen Materialien selbst erproben und
evaluieren und mit den Lehrkräften vor Ort ganz eng zusammenarbeiten. Dies
fördert (nebenbei bemerkt) auch die Akzeptanz.
Die Lehrkräfte haben mit den tagtäglichen Herausforderungen schon genug
zu tun, nach meinem Dafürhalten kann es jetzt nicht nur die Lösung sein, ihnen
weitere Aufgaben aufzubürden (zumindest nicht ohne Entlastung an anderer
Stelle), zumal sie sowieso schon für viele weitere Dinge zuständig sein sollen
(Medienpädagogik, gesunde Ernährung etc.). Von den verschiedenen Nachwirkungen
der Corona-Pandemie ganz zu schweigen. Und noch etwas: Sprachliche Bildung ist
mit Sicherheit wichtig. Aber wenn ich eine Prioritätenliste erstellen müsste,
so würden andere Dinge (z.B. das soziale Lernen) noch eine Vorrangstellung
einnehmen.
In der Schule geht es in meinen Augen vorwiegend erst einmal darum,
ein funktionierendes soziales Miteinander zu finden. Lehrkräfte oder Erzieher:innen
sollten in erster Linie eine positive Beziehungsebene zu ihren Schüler:innen
aufbauen können. Sie ist die Grundlage dafür, dass überhaupt fachliches Lernen
möglich ist. Denn wie viel Sprachbildung ist möglich, wenn im Alltag hauptsächlich
Konflikte gelöst werden müssen oder wenn es schon an Grundvoraussetzungen fehlt
(z.B. sich gegenseitig zuhören etc.)? Vor dem fachlichen Lernen kommt das
soziale Lernen. Bildungsinstitutionen haben in meinen Augen vor allem die
Aufgabe, die ihnen anvertrauten Kinder zu gesellschaftsfähigen Menschen
heranwachsen zu lassen und sie auf diesem Weg zu unterstützen und zu fördern, damit
diese Verantwortung für sich und für andere übernehmen, damit sie Toleranz
gegenüber sich selbst aber (vor allem) auch gegenüber anderen entwickeln, und
das geht natürlich nur unter Einbezug des Elternhauses.
Und sind es nicht auch die Universitäten, die Verantwortung für
fachliches Lernen auf die vorherige Bildungsinstitution „abschieben“? Kamen und
kommen die Rufe nach wissenschaftspropädeutischer Vorbildung nicht aus der
universitären Lehre? Sind z.B. Facharbeiten nicht auch aus diesem Grund
eingeführt worden, damit Schüler:innen auf die wissenschaftliche Praxis
angemessen vorbereitet werden? Was soll von den Schüler:innen denn noch alles
geleistet werden? Sind nicht auch die Universitäten in der Pflicht, (selbst)
Sprachbildung zu betreiben? In der Streitschrift liegt mir der Fokus zu sehr
auf den Schulen. Eine stärkere Kritik am universitären Lehrbetrieb hätte der
Streitschrift ebenfalls gut getan, da hätte die Autorin doch bestimmt auch noch
einiges zu sagen können.
Zusätzlich möchte ich noch darauf hinweisen, dass es einige Thesen in
dieser Streitschrift gab, mit denen ich überhaupt nicht einverstanden bin, weil
sie viel zu pauschalisierend sind (hier nur ein Zitat als Beispiel: „Es wird
z.B. in der Schule häufig einfach davon ausgegangen, dass die Schüler/-innen
das, was die Lehrkräfte erklären und was in den Schulbüchern steht, sprachlich
schon verstehen werden. […] Wenn Vermittlung scheitert, wird so gut wie nie
ermittelt, ob es an fachlichen oder vielleicht nur am sprachlichen Verständnis
gelegen haben könnte“, S. 11-12). Darauf möchte ich hier im Detail nicht
eingehen, das würde den Rahmen sprengen. Es gibt noch weitere solcher Thesen. Ich
möchte aber zu bedenken geben, dass mit gewissen Aussagen Vorurteile unnötig
geschürt werden. Und ich habe mich schon gefragt, inwieweit manche
Behauptungen, bei denen es sich vermutlich um Zuspitzungen handelt, überhaupt
repräsentativ sind.
Auch möchte ich die Debatte abschließend noch um einen Aspekt
erweitern: Nach meinem Empfinden entlässt die Autorin die Eltern zu sehr aus
ihren elterlichen Pflichten. Goschler hat zwar Recht, dass viele Eltern aus
verschiedenen Gründe zu Hause keine angemessene Sprachbildung leisten können
und diese dann in den Bildungsinstitutionen stattfinden muss. Aber auch hier
möchte ich darauf hinweisen, dass unabhängig von jeglicher sprachlichen
(Vor-)Bildung in den Familien Grundvoraussetzungen erfolgreichen Lernens erst
einmal erfüllt sein müssen. Beispiel: Ein Kind kommt stets mit wenigen oder
ganz ohne Arbeitsmaterialien in die Schule. Müssen Eltern dann nicht in die
Pflicht genommen werden? Wie sollen diese Kinder sonst dem Unterricht folgen
und im Unterricht angemessen mitarbeiten können? Auch wenn ein Kind schon nicht
mit den (auch, aber nicht nur) in der Familie vermittelten Verhaltensweisen wie
Höflichkeit, Rücksichtnahme, Toleranz und Empathie in die Schule (oder in den
Kindergarten) kommt, wie können die Bildungsinstitutionen (allein) dann dieses
Defizit auffangen? Und das unabhängig von jeder sprachlichen (Vor-)Bildung.
Auch hierauf benötigt es Antworten.
Fazit:
Lobenswert ist, dass die Autorin eine wichtige Debatte anstoßen will. Das finde ich gut. Nicht so gut finde ich aber, dass die Ausführungen weitestgehend sehr allgemein gehalten sind und wenig konkrete Praxisbezüge aufweist. Vieles bleibt nebulös und vage. Da hätte ich mehr erwartet. Aus diesem Grund gebe ich auch nur 3 Sterne.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen