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Mittwoch, 8. Februar 2023

Ulitzkaja, Ljudmila - Die Erinnerung nicht vergessen


5 von 5 Sternen


Ulitzkaja – privat, beeindruckend und scharfsinnig

 

In ihrem neuesten autobiographischen Band „Die Erinnerung nicht vergessen“ sind zahlreiche Essays zu verschiedenen Themen versammelt. Viel Raum nehmen vor allem persönliche Erinnerungen ein. Erinnerungen an das alte Moskau, in dem sie groß geworden ist und das sie vermisst. Erinnerungen an die eigene Familie, an Großeltern und Urgroßeltern. In Form einer intimen Selbstbeobachtung bewertet sie ihren eigenen Körper, den sie nun seit 77 Jahren kennt. Erst im Alter habe sie begriffen, wie sehr man den eigenen Körper achten und lieben müsse, so die Autorin. Ulitzkaja erinnert sich an zahlreiche Ereignisse aus ihrem Leben, an Weggefährten, Freunde und Liebschaften. Sogar am Beispiel von Kleidungsstücken führt sie ihr Weg immer wieder zurück in die Vergangenheit. Und anhand von Tagebucheinträgen begleiten wir sie bei der Beerdigung von Dima, einem befreundeten bildenden Künstler. Sie gewährt dem Leser unbefangen äußerst persönliche und private Einblicke in ihre Gedankenwelt und sie blickt auf ein erfahrungsreiches, beeindruckendes Leben zurück.

 

Außer den Erinnerungen umfasst der Band auch Essays zu gesellschaftspolitisch relevanten Themen. Diese stellen für mich persönlich das Highlight dieses Buchs dar. Ich habe sie mit Interesse gelesen. Vor allem die Darlegung zur Frage von Individuum und Staat, von Freiheit und Totalitarismus fand ich bereichernd. Sie hat mich zum Nachdenken angeregt. Das Grundprinzip eines Staates bestehe darin, dass jeder einzelne seine Freiheit opfere und dafür vom Staat Gegenleistungen erhalte. Der Staat sei das Ergebnis eines Gesellschaftsvertrags, der das Zusammenleben der Menschen regle. Jeder gebe einen Teil seiner persönlichen Rechte an den Staat ab. Der Staat wiederum vertrete die allgemeinen Interessen und garantiere die Einhaltung der Menschenrechte. Eine sehr idealtypische Sichtweise, wie ich finde. Und sie gilt doch v.a. für rechtsstaatlich organisierte Demokratien? Im Totalitarismus sind die persönlichen Rechte ja sehr stark eingeschränkt oder gar nicht vorhanden und die Einhaltung der Menschenrechte wird ja gerade in totalitären Staaten verletzt. Da kann man sich fragen, warum und wofür geben die Menschen in einem totalitären Staat eigentlich ihre persönlichen Rechte ab? Wie kann es eigentlich soweit kommen? Welche Mechanismen greifen hier? Und was gehört eigentlich alles zu diesen persönlichen Rechten (oder auch Pflichten)? Ulitzkaja verweist bei ihren Überlegungen auf den Philosophen Herbert Spencer (sehr interessant, kann ich hier aber nicht im Detail ausführen) und beschreibt den Totalitarismus während der Sowjetzeit. Für sie sei erst 1991 in Russland Freiheit zustande gekommen, allerdings aufgrund der Erfahrungen in der Sowjetzeit ohne freie Menschen und v.a. ohne Menschen, die die Freiheit aufrecht erhielten (ein feiner Unterschied, wie sie treffend herausstellt). Viel Raum nehmen auch Gedanken zum Stanley-Milgram-Experiment ein. Abschließend hält sie dann fest, dass die Freiheit eines Menschen genau dort beginne, wo er Verantwortung übernehme und Probleme löse, indem er eigene Vorstellungen entwickle, und nicht das übernehme, was ihm irgendwelche Autoritäten suggerierten. Mit dieser Einschätzung hat die Autorin Recht! Und genau daran scheitert in meinen Augen aktuell die russische Zivilgesellschaft (was natürlich auch daran liegt, dass von staatlicher Seite Angst verbreitet wird).

 

In einem weiteren Essay („Die Krise der sozialen Mythen“), den ich sehr lesenswert fand, entwirft die Autorin einen äußerst zukunftspessimistischen Blick auf die Welt und meint, das goldene Zeitalter der Menschheit sei vorbei. Sie fordert eine dramatische Veränderung unseres Denkens. Man müsse sich von nationalen und kollektiven Egoismen befreien. Das Modell der Konsumgesellschaft solle überdacht werden. Noch nie habe es ein solches Ausmaß an Verschwendung und Reichtum gegeben. Und noch nie habe es so viel Ungerechtigkeit gegeben. Sie schlägt u.a. vor, dass jeder einzelne sich selbst mehr beschränkt.

 

2021 wurden in der Russischen Föderation die Organisation „Memorial International“ und das Menschenrechtszentrum „Memorial“ aufgelöst. Ulitzkaja legt in einem weiteren Essay dar („Die Erinnerung nicht vergessen“), was das Anliegen dieser Organisationen gewesen ist, nämlich die Aufarbeitung der Vergangenheit. Ziel sollte sein, ehrliche und angstfreie Gespräche über die Fehler und die Verbrechen der Machthaber der Vergangenheit führen zu können. Auch über die schwache Zivilgesellschaft in Russland sollte diskutiert werden. Nach Ulitzkajas Auffassung liege die Ursache vieler Probleme in Russland an der fehlenden Erinnerungskultur. Mit der Entscheidung von 2021 werde deutlich, dass erneut eine „dunkle Zeit“ begonnen habe, so die Autorin.

 

Auch zum Krieg nimmt die Autorin mit aller Deutlichkeit Stellung. So schreibt sie: „Wir müssen diese minütlich eskalierenden Krieg stoppen und uns den propagandistischen Lügen entgegenstellen, die durch sämtliche Massenmedien auf unsere Bevölkerung einströmen“ (S. 176).

 

Fazit

Die Essays zu den persönlichen Erinnerungen nehmen deutlich mehr Raum ein als die Essays zu gesellschaftspolitischen Themen. Das fand ich etwas schade. Für mich gab es einige Highlights, die mich zum Nachdenken angeregt haben („Individuum und Totalitarismus“, „Die Krise der sozialen Mythen“ und „Die Erinnerung nicht vergessen“). Wer sich für die Autorin und ihre persönlichen, privaten Einblicke in ihr Leben und ihre Gefühls- und Gedankenwelt interessiert, der sollte dieses Buch auf jeden Fall lesen. Wer sich für ihre Meinung zu aktuellen politischen Themen interessiert, der kann hier ebenfalls fündig werden. Für mich war die Lektüre v.a. reizvoll, weil ich einen Einblick in die russische Mentalität erhalten wollte. Mich interessiert die Analyse der russischen Gesellschaft aus der Sicht eines Menschen, der dort aufgewachsen ist und dort lebt bzw. gelebt hat. Das ist noch einmal etwas anderes als ein Blick von einem Auslandskorrespondenten. Auch wünsche ich der Autorin sehr, dass sich ihr Wunsch, das Ende des Kriegsirrsinns noch zu erleben und in ihre Heimatstadt Moskau zurückzukehren (vgl. Vorwort), bald erfüllt. Ich vergebe 5 Sterne!

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