Ulitzkaja – privat, beeindruckend und scharfsinnig
In ihrem neuesten autobiographischen Band „Die Erinnerung nicht
vergessen“ sind zahlreiche Essays zu verschiedenen Themen versammelt. Viel Raum
nehmen vor allem persönliche Erinnerungen ein. Erinnerungen an das alte Moskau,
in dem sie groß geworden ist und das sie vermisst. Erinnerungen an die eigene
Familie, an Großeltern und Urgroßeltern. In Form einer intimen
Selbstbeobachtung bewertet sie ihren eigenen Körper, den sie nun seit 77 Jahren
kennt. Erst im Alter habe sie begriffen, wie sehr man den eigenen Körper achten
und lieben müsse, so die Autorin. Ulitzkaja erinnert sich an zahlreiche
Ereignisse aus ihrem Leben, an Weggefährten, Freunde und Liebschaften. Sogar am
Beispiel von Kleidungsstücken führt sie ihr Weg immer wieder zurück in die
Vergangenheit. Und anhand von Tagebucheinträgen begleiten wir sie bei der
Beerdigung von Dima, einem befreundeten bildenden Künstler. Sie gewährt dem
Leser unbefangen äußerst persönliche und private Einblicke in ihre Gedankenwelt
und sie blickt auf ein erfahrungsreiches, beeindruckendes Leben zurück.
Außer den Erinnerungen umfasst der Band auch Essays zu
gesellschaftspolitisch relevanten Themen. Diese stellen für mich persönlich das
Highlight dieses Buchs dar. Ich habe sie mit Interesse gelesen. Vor allem die
Darlegung zur Frage von Individuum und Staat, von Freiheit und Totalitarismus
fand ich bereichernd. Sie hat mich zum Nachdenken angeregt. Das Grundprinzip
eines Staates bestehe darin, dass jeder einzelne seine Freiheit opfere und
dafür vom Staat Gegenleistungen erhalte. Der Staat sei das Ergebnis eines
Gesellschaftsvertrags, der das Zusammenleben der Menschen regle. Jeder gebe
einen Teil seiner persönlichen Rechte an den Staat ab. Der Staat wiederum
vertrete die allgemeinen Interessen und garantiere die Einhaltung der
Menschenrechte. Eine sehr idealtypische Sichtweise, wie ich finde. Und sie gilt
doch v.a. für rechtsstaatlich organisierte Demokratien? Im Totalitarismus sind
die persönlichen Rechte ja sehr stark eingeschränkt oder gar nicht vorhanden
und die Einhaltung der Menschenrechte wird ja gerade in totalitären Staaten
verletzt. Da kann man sich fragen, warum und wofür geben die Menschen in einem
totalitären Staat eigentlich ihre persönlichen Rechte ab? Wie kann es
eigentlich soweit kommen? Welche Mechanismen greifen hier? Und was gehört
eigentlich alles zu diesen persönlichen Rechten (oder auch Pflichten)? Ulitzkaja
verweist bei ihren Überlegungen auf den Philosophen Herbert Spencer (sehr
interessant, kann ich hier aber nicht im Detail ausführen) und beschreibt den
Totalitarismus während der Sowjetzeit. Für sie sei erst 1991 in Russland
Freiheit zustande gekommen, allerdings aufgrund der Erfahrungen in der
Sowjetzeit ohne freie Menschen und v.a. ohne Menschen, die die Freiheit
aufrecht erhielten (ein feiner Unterschied, wie sie treffend herausstellt).
Viel Raum nehmen auch Gedanken zum Stanley-Milgram-Experiment ein. Abschließend
hält sie dann fest, dass die Freiheit eines Menschen genau dort beginne, wo er
Verantwortung übernehme und Probleme löse, indem er eigene Vorstellungen
entwickle, und nicht das übernehme, was ihm irgendwelche Autoritäten
suggerierten. Mit dieser Einschätzung hat die Autorin Recht! Und genau daran
scheitert in meinen Augen aktuell die russische Zivilgesellschaft (was natürlich
auch daran liegt, dass von staatlicher Seite Angst verbreitet wird).
In einem weiteren Essay („Die Krise der sozialen Mythen“), den ich
sehr lesenswert fand, entwirft die Autorin einen äußerst
zukunftspessimistischen Blick auf die Welt und meint, das goldene Zeitalter der
Menschheit sei vorbei. Sie fordert eine dramatische Veränderung unseres
Denkens. Man müsse sich von nationalen und kollektiven Egoismen befreien. Das
Modell der Konsumgesellschaft solle überdacht werden. Noch nie habe es ein
solches Ausmaß an Verschwendung und Reichtum gegeben. Und noch nie habe es so
viel Ungerechtigkeit gegeben. Sie schlägt u.a. vor, dass jeder einzelne sich
selbst mehr beschränkt.
2021 wurden in der Russischen Föderation die Organisation „Memorial
International“ und das Menschenrechtszentrum „Memorial“ aufgelöst. Ulitzkaja
legt in einem weiteren Essay dar („Die Erinnerung nicht vergessen“), was das
Anliegen dieser Organisationen gewesen ist, nämlich die Aufarbeitung der
Vergangenheit. Ziel sollte sein, ehrliche und angstfreie Gespräche über die
Fehler und die Verbrechen der Machthaber der Vergangenheit führen zu können.
Auch über die schwache Zivilgesellschaft in Russland sollte diskutiert werden.
Nach Ulitzkajas Auffassung liege die Ursache vieler Probleme in Russland an der
fehlenden Erinnerungskultur. Mit der Entscheidung von 2021 werde deutlich, dass
erneut eine „dunkle Zeit“ begonnen habe, so die Autorin.
Auch zum Krieg nimmt die Autorin mit aller Deutlichkeit Stellung. So
schreibt sie: „Wir müssen diese minütlich eskalierenden Krieg stoppen und uns
den propagandistischen Lügen entgegenstellen, die durch sämtliche Massenmedien
auf unsere Bevölkerung einströmen“ (S. 176).
Fazit:
Die Essays zu den persönlichen Erinnerungen nehmen deutlich
mehr Raum ein als die Essays zu gesellschaftspolitischen Themen. Das fand ich
etwas schade. Für mich gab es einige Highlights, die mich zum Nachdenken
angeregt haben („Individuum und Totalitarismus“, „Die Krise der sozialen Mythen“
und „Die Erinnerung nicht vergessen“). Wer sich für die Autorin und ihre persönlichen,
privaten Einblicke in ihr Leben und ihre Gefühls- und Gedankenwelt
interessiert, der sollte dieses Buch auf jeden Fall lesen. Wer sich für ihre
Meinung zu aktuellen politischen Themen interessiert, der kann hier ebenfalls
fündig werden. Für mich war die Lektüre v.a. reizvoll, weil ich einen Einblick
in die russische Mentalität erhalten wollte. Mich interessiert die Analyse der
russischen Gesellschaft aus der Sicht eines Menschen, der dort aufgewachsen ist
und dort lebt bzw. gelebt hat. Das ist noch einmal etwas anderes als ein Blick
von einem Auslandskorrespondenten. Auch wünsche ich der Autorin sehr, dass sich
ihr Wunsch, das Ende des Kriegsirrsinns noch zu erleben und in ihre Heimatstadt
Moskau zurückzukehren (vgl. Vorwort), bald erfüllt. Ich vergebe 5 Sterne!
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