Bestandsaufnahme des Angriffskriegs
Seit einiger Zeit beschäftige ich mich mit den Hintergründen des
Russland-Ukraine-Kriegs (vgl. dazu frühere Rezensionen). Einige interessante
Bücher, die ich auch als Lektüre weiterempfehlen kann, habe ich bereits
ausfindig machen können, so z.B. Golineh Atais „Die Wahrheit ist der Feind“
oder Eltchaninoffs „In Putins Kopf“ sowie die Kriegstagebücher von Andrej
Kurkow („Tagebuch einer Invasion“) oder von Sergej Gerassimow
(„Feuerpanorama“). Aktuell interessiert mich immer noch die Frage, ob der
Konflikt tatsächlich nicht vorherzusehen war, und mich beschäftigt auch, warum
die russische Zivilgesellschaft so schwach ist (vgl. dazu auch den Essay „Individuum
und Totalitarismus“ von Ljudmila Ulitzkaja in ihrem Sammelband „Die Erinnerung
nicht vergessen“). Aus diesen Gründen entschied ich mich für die Lektüre von
„Zeitenwende“ von Rüdiger von Fritsch.
Der Autor war selbst 5 Jahre lang Botschafter in Russland. Seine Zeit
in Moskau ging am 30.06.2019 zu Ende. Er ist Putin sogar einige Male begegnet
und meint feststellen zu können, dass sich in den gemeinsamen Gesprächen immer
wieder dessen Neigung gezeigt habe, von äußeren Anfeindungen, Verschwörungen
und Bedrohungen auszugehen.
Teil 1 – „Wie der Krieg enden könnte – Szenarien“
Im ersten Teil seines Buchs beschäftigt sich der Autor vor allem mit
der Frage, inwieweit der Krieg im Voraus vorherzusehen war. Eine Frage, die
auch mich sehr beschäftigt. Doch bevor er genauer auf diese Frage eingeht,
entwirft er zunächst vier Szenarien für ein mögliches Kriegsende. Szenario 1:
Sieg der Ukraine. Dies sei zu erreichen durch eine Stagnation der
Kampfhandlungen und eine zunehmende Ermüdung des russischen Angriffs. Dieses
Szenario ist das wohl wünschenswerteste. Szenario 2: Sieg Russlands. Nach
russischem Selbstverständnis sei ein solcher Sieg unabdingbar. Möglicherweise
reiche Putin bereits eine Besetzung des Ostens und des Südens als Sieg zu
verkaufen. Das Problem an diesem Szenario sei allerdings, so von Fritsch, dass
die Rest-Ukraine in einem solchen Fall unter ständiger russischer Bedrohung
stehe. Szenario 3: Ein Patt, ein Waffenstillstand, ein eingefrorener Konflikt.
Dies bedeute eine instabile Situation. In diesem Szenario stehe die Ukraine
unter ständigem Druck eines erneuten russischen Angriffs. Szenario 4: Eine
weitere Eskalation des Konflikts. Hier spielt der Autor vor allem mit dem
Gedanken an einen nuklearen Krieg. Doch er macht auch deutlich, dass Putin
bereits andere Wege der Eskalation gefunden habe. So setze er Energie als Waffe
ein. Das Ziel Russlands sei es, andere Länder zu destabilisieren und sie so für
die russische Sache einzunehmen. Welches Szenario eintreten wird, steht noch in
den Sternen. Denkbar ist ja auch eine Eskalation im Vorfeld eines ukrainischen
oder russischen Siegs. Und in meinen Augen sollte man bei den verschiedenen
Szenarien auch noch einbeziehen, was ein Sieg, ein Patt oder eine Niederlage
für Russland bedeutet. Bleibt Putin an der Macht? Wer folgt ihm nach? Wie
entwickelt sich die russische Zivilgesellschaft? Wird sie irgendwann endlich
aufwachen? Wird das Militär weiter zu Putin halten? Auch das sind viele offene
Fragen, die mich beschäftigen.
Teil 2 - „Der Schatten der Geschichte“
Im zweiten Teil seines Buchs widmet sich der Autor den geschichtlichen
Entwicklungen des Landes. Hier nimmt er zunächst einmal das „Putinsche System“
genauer in den Blick. Von Fritsch mach deutlich, dass die Bevölkerung Putin
sehr dankbar dafür sei, dass es unter ihm keine Zeit der Umwälzung mehr gab (so
wie es in den 90er Jahren der Fall war). Putin stehe für Stabilität und
Ordnung. Das würden ihm die Menschen hoch anrechnen. Seit den 90ern sei es mit
Russland wirtschaftlich stetig bergauf gegangen. Eine Zäsur habe sich im
Wesentlichen 2011 und 2012 ereignet. Seit diesem Zeitpunkt seien autoritäre
Züge immer mehr zutage getreten. Proteste seien massiv niedergeschlagen worden,
der Staatsanteil an der Wirtschaft habe sich ständig vergrößert. Wer nicht
linientreu gewesen sei, der sei zu einem ausländischen Agenten oder zu einer
unerwünschten Organisation erklärt worden. Auch die Verfassungsreform aus dem
Jahr 2020 sei ein weiterer Baustein der Autokratisierung gewesen. Sie eröffnete
Putin die Möglichkeit bis 2036 an der Macht zu bleiben. Gleichzeitig habe sich
an der Corona-Politik gezeigt, dass die Bürger durchaus der „Obrigkeit“
misstraut hätten. Angst und Propaganda sicherten die Macht, ebenso wie das
Instrument der Bestechung. Politisch Verantwortliche würden durch Käuflichkeit
und Erpressung linientreu gemacht. Was ich mir noch bei der Darlegung gewünscht
hätte, wären mehr Beispiele gewesen. So hätte von Fritsch seine Thesen noch
anschaulicher und nachvollziehbarer untermauern können. Golineh Atai geht mit
ihrem Buch „Die Wahrheit ist der Feind“ mehr in die Tiefe. Was ich aber
schätze: Von Fritsch findet klare Worte, es ist eine sehr klare Sprache, die er
verwendet.
Weiterhin zeigt von Fritsch auf, dass sich Putin in den vergangen
Jahren immer mehr mit der Vergangenheit des russischen Reichs beschäftigt habe.
Wichtige Vorbilder für ihn seien Alexander III. und Peter, der Große. Zudem
habe er über die Jahre auch die Nähe zur Kirche immer mehr forciert und sich orthodoxer
Rhetorik bedient. Er spreche lieber über die tausendjährige Geschichte der
alten Rus als über die ökonomischen und sozialen Probleme im Land.
Russland sei durch den Zusammenbruch der UdSSR verkleinert und schwach
geworden. Es geriet in den 90er Jahren in heftige gesellschaftliche,
wirtschaftliche und finanzielle Turbulenzen. Noch heute leide Russland
darunter, so von Fritsch. In den letzten Jahren hätte Putin zudem Stalin als
Sieger über den Hitler-Faschismus propagandistisch oft in den Vordergrund
gerückt, vor allem um das nationale Selbstwertgefühl zu erhöhen. Eine
geschichtliche Aufarbeitung der Verbrechen des Stalinismus sei in Russland bis
heute ausgeblieben. Zunehmend hätte der Präsident seinen Blick auf die
vergangene russische Größe gerichtet, statt darauf, Zukunftsperspektiven für
sein Land zu entwickeln. Sehr differenziert geht der Autor auch noch auf die
Frage der gefühlten Bedrohung durch die NATO ein. Ist Russland womöglich
übervorteilt worden? Von Fritsch macht an vielen Beispielen deutlich, dass der
Westen immer wieder auf Russland zugegangen sei. So sei z.B. die G7 im Jahr
1998 zur G8 erweitert worden. 2010 sei eine Modernisierungspartnerschaft
zwischen der EU und Russland abgeschlossen worden. Nicht zuletzt seien viele
Städtepartnerschaften und Hochschulkooperationen entstanden, 2001 sei der
Petersburger Dialog ins Leben gerufen worden. Und von Fritsch führt noch
weitere Beispiele an. Auch weist der Autor daraufhin, dass sich die
NATO-Osterweiterung nicht aus der NATO heraus ergeben habe, sondern es sei der
Wunsch der ostmitteleuropäischen Länder gewesen, der NATO beizutreten. Noch im
Jahr 2004 habe Putin selbst erklärt, dass sich die Beziehung Russlands zur NATO
positiv entwickle. Auch habe er hinsichtlich der NATO-Osterweiterung gesagt,
dass er keine Sorge mit Blick auf die Sicherheit der Russischen Föderation
hätte. Eskaliert sei die Situation erstmals im Jahr 2008, als die Ukraine und
Georgien Zusagen erhielten, NATO-Mitglied zu werden. Nur durch den Einspruch
Deutschlands seien daraus keine konkreten Perspektiven entwickelt worden.
Letztlich sei an die Stelle des Dialogs zwischen Russland und dem Westen nun
die Konfrontation getreten.
Teil 3 – „Der Weg in den Krieg“
Hier zeichnet der Autor die wesentlichen Ereignisse um die Annexion
der Krim und um die Kämpfe im Donbass nach. Von Fritsch verdeutlicht, dass
Russland sich selbst als Schutzmacht für alle ethnischen Russen ansieht. Die
Annexion der Krim sei damit gerechtfertigt worden, dass man die Bewohner hätte
schützen müssen. Russland habe die Vorstellung, dass die Ukraine kein richtiger
Staat sei und die Ukrainer nicht in der Lage seien, ihre Angelegenheiten selbst
zu regeln. Die Tatsachen seien in der russischen Propaganda so verdreht worden,
dass man den Irrglauben verbreitete, das ukrainische Volk sei an
Wiedervereinigung mit Russland interessiert und werde von einer korrupten
Regierung regiert, die sich von dem Westen in ein gefährliches geopolitisches
Spiel habe hineinziehen lassen. Es ist tatsächlich für mich unglaublich, dass
dieses Narrativ sich in Russland so verbreiten konnte, dass es niemand in
Zweifel gezogen hat. Unfassbar! Interessant ist übrigens auch der Hinweis des
Autors, dass die einzige freie Abstimmung über die Zugehörigkeit der Krim 1991
stattgefunden habe. Damals habe sich die Halbinsel dafür entschieden, zu Kiew
und nicht zu Moskau gehören zu wollen.
Auch widmet sich der Autor dem Verhältnis der Ukraine zur EU. Er
erläutert, dass die Ukraine sich aus der geopolitischen Einflusszone Russlands
verabschieden wollte. Allerdings habe Janukowitsch auch auf Druck Moskaus die
Assoziierung mit der EU nicht fortgesetzt. Daraufhin seien friedliche Proteste
losgegangen, die sich immer weiter ausgebreitet hätten. Nach der Annexion der
Krim reagierte der Westen mit der Verhängung von Sanktionen. Im Rückblick
betrachtet, so der Autor, hätte man mit noch härteren Maßnahmen reagieren
sollen. Russland habe sich seit 2014 konsequent verweigert, Verantwortung für
das Geschehen in der Ukraine zu übernehmen. Russland habe stets geleugnet, Konfliktpartei
zu sein. Moskau sei nicht ehrlich gewesen, so der Autor. Gleichzeitig sei die
Entfremdung zwischen Russland und der Ukraine immer größer geworden, weil sich
die Ukraine immer stärker in Richtung Westen orientierte. In Syrien habe sich
gezeigt, dass Russland erstmals auch bewusst auf Söldnertruppen zurückgegriffen
habe. Nicht zuletzt sei Syrien vermutlich bereits ein Übungsfeld zur
Ertüchtigung der russischen Gruppen gewesen. Die russischen Streitkräfte, so
von Fritsch, konnten in Syrien bereits Kampferfahrung sammeln. 86 000 Soldaten
und 460 Generäle hätten in Syrien Gefechtserfahrung gesammelt. Gleichzeitig
habe Russland nichts dafür getan, den Konflikt um die Krim und den Donbass zu
lösen. Moskau habe weiterhin so getan, als sei es unbeteiligt und bezichtigte
seinerseits die Ukraine, schuld zu sein. Von Fritsch vertritt die Meinung, dass
man die Ukraine schon seit 2014 hätte entschlossener in die Lage versetzen
müssen, sich gegen einen möglichen russischen Angriff zu verteidigen.
Vermutlich, so die These des Autors, hätte Russland in einem solchen Fall von
einem Angriff abgesehen. Gleichzeitig kann man sich aber doch umgekehrt sogar
fragen, warum hat Russland nicht bereits 2014 stärker eskaliert? Warum gab sich
Putin mit der Krim und dem Donbass zufrieden? Gab er damit nicht der Ukraine
sogar die Chance, sich auf einen neuerlichen Angriff einzustellen und
vorzubereiten? Theoretisch hätte er schon damals die gesamte Ukraine angreifen
können. Vielleicht hätte er damit Erfolg gehabt? War er vielleicht doch
zunächst an einer diplomatischen Lösung interessiert?
2019 kam Selenskyj an die Macht. Eines seiner Wahlversprechen sei
gewesen, den Konflikt mit Russland mit anderer Entschlossenheit zu lösen. Doch
Russland habe nicht aufgehört, die Ukraine weiter zu bezichtigen, an einer
Beendigung des Konflikts nicht interessiert zu sein. Zunehmend sei die
Legitimität der Regierung in Kiew durch Russland in Zweifel gezogen worden. Von
Fritsch stellt auch Überlegungen dazu an, warum Putin den Zeitpunkt seines Angriffs
so gewählt hat. Eine These, die er in den Raum stellt: Der ungeordnete,
chaotische Rückzug aus Afghanistan hätte Putins Eindruck bestätigt, dass der
Westen auf dem absteigenden Ast sei. Das ist natürlich eine Behauptung, die
sich schwer beweisen lässt. Wer weiß schon, was Putin dazu bewegt hat, gerade
im Februar 2022 seinen Angriffskrieg zu beginnen.
Teil 4 – „Die Folgen des Krieges“
Nach Ansicht des Autors sei Russlands Befürchtung, aus der Ukraine
heraus, demnächst mit Raketen bedroht zu werden, lediglich ein Vorwand gewesen,
das Nachbarland vorbeugend anzugreifen. Bis zum Überfall habe Putin stets den
Eindruck erweckt, an einer diplomatischen Lösung interessiert zu sein. Die
Weltöffentlichkeit sei von ihm in Sicherheit gewogen worden. Der Autor beschreibt
sehr detailliert auch die Sanktionen, die dann als Reaktion des Westens über
Russland verhängt worden sind. Dabei beschreibt er auch, welche Auswirkungen
sie auf die Wirtschaft hatten. Die Analyse der Folgen des Krieges ist kenntnis-
und umfangreich sowie differenziert. Besonders interessant fand ich die
Ausführungen des Autors zur Mentalität des Sowjetmenschen. Diese Überlegungen
kann man auch mit dem ausbleibenden zivilen Widerstand in Russland gut in
Verbindung bringen (als gute Ergänzung empfehle ich hier den Essay „Individuum
und Totalitarismus“ von Ulitzkaja). Der Sowjetmensch zeichne sich dadurch aus,
dass er einerseits im Mythos vom großen, unbesiegbaren Vaterland und
andererseits in der Realität eines von Entbehrungen und Widrigkeiten bestimmten
Alltags lebe. Die über Jahrzehnte hinweg erlernte Überlebensstrategie sei die
Folgende: Schweigen ist sicherer. Von Fritsch stellt auch die Überlegung an, ob
es zu einem Aufstand im Landesinneren von Russland kommen könnte. Er weist
allerdings darauf hin, dass viele Menschen in Russland der Demokratie mit
Misstrauen begegneten (auch aufgrund der antiwestlichen Propaganda). Sie
brächten Demokratie mit Dekadenz und Verfall in Beziehung. Sein Fazit lautet,
dass wir gut beraten seien, uns darauf einzustellen, dass sich in Russland
einstweilen nicht allzu viel ändern dürfte.
Fazit:
Wer sich über
Hintergründe zum Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine informieren möchte,
der findet in diesem Buch viele wichtige Fakten. Als Ergänzung hierzu empfehle
ich noch die beiden Sachbücher „Die Wahrheit ist der Feind“ von Golineh Atai
und „In Putins Kopf“ von Michel Eltchaninoff. So erhält man einen guten
Überblick über die Situation in Russland und in der Ukraine. Mein Ziel war es
mehr darüber herauszufinden, ob der Krieg vorhersehbar war oder nicht. Auch von
Fritsch macht sehr deutlich, dass man seit 2014 zu nachsichtig mit Russland
gewesen sei. Viele Warnzeichen sind übersehen worden. Weiterhin hat mich
interessiert, mehr Hintergründe über die schwache Zivilgesellschaft in Russland
zu erfahren. Hier fand ich die Ausführungen zur Mentalität des Sowjetmenschen
lesenswert. Allerdings hätte ich mir noch mehr Einblicke gewünscht.
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