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Samstag, 11. Februar 2023

Fritsch, Rüdiger von - Zeitenwende. Putins Krieg und die Folgen


5 von 5 Sternen


Bestandsaufnahme des Angriffskriegs


Seit einiger Zeit beschäftige ich mich mit den Hintergründen des Russland-Ukraine-Kriegs (vgl. dazu frühere Rezensionen). Einige interessante Bücher, die ich auch als Lektüre weiterempfehlen kann, habe ich bereits ausfindig machen können, so z.B. Golineh Atais „Die Wahrheit ist der Feind“ oder Eltchaninoffs „In Putins Kopf“ sowie die Kriegstagebücher von Andrej Kurkow („Tagebuch einer Invasion“) oder von Sergej Gerassimow („Feuerpanorama“). Aktuell interessiert mich immer noch die Frage, ob der Konflikt tatsächlich nicht vorherzusehen war, und mich beschäftigt auch, warum die russische Zivilgesellschaft so schwach ist (vgl. dazu auch den Essay „Individuum und Totalitarismus“ von Ljudmila Ulitzkaja in ihrem Sammelband „Die Erinnerung nicht vergessen“). Aus diesen Gründen entschied ich mich für die Lektüre von „Zeitenwende“ von Rüdiger von Fritsch.

 

Der Autor war selbst 5 Jahre lang Botschafter in Russland. Seine Zeit in Moskau ging am 30.06.2019 zu Ende. Er ist Putin sogar einige Male begegnet und meint feststellen zu können, dass sich in den gemeinsamen Gesprächen immer wieder dessen Neigung gezeigt habe, von äußeren Anfeindungen, Verschwörungen und Bedrohungen auszugehen.

 

Teil 1 – „Wie der Krieg enden könnte – Szenarien“

Im ersten Teil seines Buchs beschäftigt sich der Autor vor allem mit der Frage, inwieweit der Krieg im Voraus vorherzusehen war. Eine Frage, die auch mich sehr beschäftigt. Doch bevor er genauer auf diese Frage eingeht, entwirft er zunächst vier Szenarien für ein mögliches Kriegsende. Szenario 1: Sieg der Ukraine. Dies sei zu erreichen durch eine Stagnation der Kampfhandlungen und eine zunehmende Ermüdung des russischen Angriffs. Dieses Szenario ist das wohl wünschenswerteste. Szenario 2: Sieg Russlands. Nach russischem Selbstverständnis sei ein solcher Sieg unabdingbar. Möglicherweise reiche Putin bereits eine Besetzung des Ostens und des Südens als Sieg zu verkaufen. Das Problem an diesem Szenario sei allerdings, so von Fritsch, dass die Rest-Ukraine in einem solchen Fall unter ständiger russischer Bedrohung stehe. Szenario 3: Ein Patt, ein Waffenstillstand, ein eingefrorener Konflikt. Dies bedeute eine instabile Situation. In diesem Szenario stehe die Ukraine unter ständigem Druck eines erneuten russischen Angriffs. Szenario 4: Eine weitere Eskalation des Konflikts. Hier spielt der Autor vor allem mit dem Gedanken an einen nuklearen Krieg. Doch er macht auch deutlich, dass Putin bereits andere Wege der Eskalation gefunden habe. So setze er Energie als Waffe ein. Das Ziel Russlands sei es, andere Länder zu destabilisieren und sie so für die russische Sache einzunehmen. Welches Szenario eintreten wird, steht noch in den Sternen. Denkbar ist ja auch eine Eskalation im Vorfeld eines ukrainischen oder russischen Siegs. Und in meinen Augen sollte man bei den verschiedenen Szenarien auch noch einbeziehen, was ein Sieg, ein Patt oder eine Niederlage für Russland bedeutet. Bleibt Putin an der Macht? Wer folgt ihm nach? Wie entwickelt sich die russische Zivilgesellschaft? Wird sie irgendwann endlich aufwachen? Wird das Militär weiter zu Putin halten? Auch das sind viele offene Fragen, die mich beschäftigen.

 

Teil 2 - „Der Schatten der Geschichte“

Im zweiten Teil seines Buchs widmet sich der Autor den geschichtlichen Entwicklungen des Landes. Hier nimmt er zunächst einmal das „Putinsche System“ genauer in den Blick. Von Fritsch mach deutlich, dass die Bevölkerung Putin sehr dankbar dafür sei, dass es unter ihm keine Zeit der Umwälzung mehr gab (so wie es in den 90er Jahren der Fall war). Putin stehe für Stabilität und Ordnung. Das würden ihm die Menschen hoch anrechnen. Seit den 90ern sei es mit Russland wirtschaftlich stetig bergauf gegangen. Eine Zäsur habe sich im Wesentlichen 2011 und 2012 ereignet. Seit diesem Zeitpunkt seien autoritäre Züge immer mehr zutage getreten. Proteste seien massiv niedergeschlagen worden, der Staatsanteil an der Wirtschaft habe sich ständig vergrößert. Wer nicht linientreu gewesen sei, der sei zu einem ausländischen Agenten oder zu einer unerwünschten Organisation erklärt worden. Auch die Verfassungsreform aus dem Jahr 2020 sei ein weiterer Baustein der Autokratisierung gewesen. Sie eröffnete Putin die Möglichkeit bis 2036 an der Macht zu bleiben. Gleichzeitig habe sich an der Corona-Politik gezeigt, dass die Bürger durchaus der „Obrigkeit“ misstraut hätten. Angst und Propaganda sicherten die Macht, ebenso wie das Instrument der Bestechung. Politisch Verantwortliche würden durch Käuflichkeit und Erpressung linientreu gemacht. Was ich mir noch bei der Darlegung gewünscht hätte, wären mehr Beispiele gewesen. So hätte von Fritsch seine Thesen noch anschaulicher und nachvollziehbarer untermauern können. Golineh Atai geht mit ihrem Buch „Die Wahrheit ist der Feind“ mehr in die Tiefe. Was ich aber schätze: Von Fritsch findet klare Worte, es ist eine sehr klare Sprache, die er verwendet.

 

Weiterhin zeigt von Fritsch auf, dass sich Putin in den vergangen Jahren immer mehr mit der Vergangenheit des russischen Reichs beschäftigt habe. Wichtige Vorbilder für ihn seien Alexander III. und Peter, der Große. Zudem habe er über die Jahre auch die Nähe zur Kirche immer mehr forciert und sich orthodoxer Rhetorik bedient. Er spreche lieber über die tausendjährige Geschichte der alten Rus als über die ökonomischen und sozialen Probleme im Land.

 

Russland sei durch den Zusammenbruch der UdSSR verkleinert und schwach geworden. Es geriet in den 90er Jahren in heftige gesellschaftliche, wirtschaftliche und finanzielle Turbulenzen. Noch heute leide Russland darunter, so von Fritsch. In den letzten Jahren hätte Putin zudem Stalin als Sieger über den Hitler-Faschismus propagandistisch oft in den Vordergrund gerückt, vor allem um das nationale Selbstwertgefühl zu erhöhen. Eine geschichtliche Aufarbeitung der Verbrechen des Stalinismus sei in Russland bis heute ausgeblieben. Zunehmend hätte der Präsident seinen Blick auf die vergangene russische Größe gerichtet, statt darauf, Zukunftsperspektiven für sein Land zu entwickeln. Sehr differenziert geht der Autor auch noch auf die Frage der gefühlten Bedrohung durch die NATO ein. Ist Russland womöglich übervorteilt worden? Von Fritsch macht an vielen Beispielen deutlich, dass der Westen immer wieder auf Russland zugegangen sei. So sei z.B. die G7 im Jahr 1998 zur G8 erweitert worden. 2010 sei eine Modernisierungspartnerschaft zwischen der EU und Russland abgeschlossen worden. Nicht zuletzt seien viele Städtepartnerschaften und Hochschulkooperationen entstanden, 2001 sei der Petersburger Dialog ins Leben gerufen worden. Und von Fritsch führt noch weitere Beispiele an. Auch weist der Autor daraufhin, dass sich die NATO-Osterweiterung nicht aus der NATO heraus ergeben habe, sondern es sei der Wunsch der ostmitteleuropäischen Länder gewesen, der NATO beizutreten. Noch im Jahr 2004 habe Putin selbst erklärt, dass sich die Beziehung Russlands zur NATO positiv entwickle. Auch habe er hinsichtlich der NATO-Osterweiterung gesagt, dass er keine Sorge mit Blick auf die Sicherheit der Russischen Föderation hätte. Eskaliert sei die Situation erstmals im Jahr 2008, als die Ukraine und Georgien Zusagen erhielten, NATO-Mitglied zu werden. Nur durch den Einspruch Deutschlands seien daraus keine konkreten Perspektiven entwickelt worden. Letztlich sei an die Stelle des Dialogs zwischen Russland und dem Westen nun die Konfrontation getreten.

 

Teil 3 – „Der Weg in den Krieg“

Hier zeichnet der Autor die wesentlichen Ereignisse um die Annexion der Krim und um die Kämpfe im Donbass nach. Von Fritsch verdeutlicht, dass Russland sich selbst als Schutzmacht für alle ethnischen Russen ansieht. Die Annexion der Krim sei damit gerechtfertigt worden, dass man die Bewohner hätte schützen müssen. Russland habe die Vorstellung, dass die Ukraine kein richtiger Staat sei und die Ukrainer nicht in der Lage seien, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln. Die Tatsachen seien in der russischen Propaganda so verdreht worden, dass man den Irrglauben verbreitete, das ukrainische Volk sei an Wiedervereinigung mit Russland interessiert und werde von einer korrupten Regierung regiert, die sich von dem Westen in ein gefährliches geopolitisches Spiel habe hineinziehen lassen. Es ist tatsächlich für mich unglaublich, dass dieses Narrativ sich in Russland so verbreiten konnte, dass es niemand in Zweifel gezogen hat. Unfassbar! Interessant ist übrigens auch der Hinweis des Autors, dass die einzige freie Abstimmung über die Zugehörigkeit der Krim 1991 stattgefunden habe. Damals habe sich die Halbinsel dafür entschieden, zu Kiew und nicht zu Moskau gehören zu wollen.

 

Auch widmet sich der Autor dem Verhältnis der Ukraine zur EU. Er erläutert, dass die Ukraine sich aus der geopolitischen Einflusszone Russlands verabschieden wollte. Allerdings habe Janukowitsch auch auf Druck Moskaus die Assoziierung mit der EU nicht fortgesetzt. Daraufhin seien friedliche Proteste losgegangen, die sich immer weiter ausgebreitet hätten. Nach der Annexion der Krim reagierte der Westen mit der Verhängung von Sanktionen. Im Rückblick betrachtet, so der Autor, hätte man mit noch härteren Maßnahmen reagieren sollen. Russland habe sich seit 2014 konsequent verweigert, Verantwortung für das Geschehen in der Ukraine zu übernehmen. Russland habe stets geleugnet, Konfliktpartei zu sein. Moskau sei nicht ehrlich gewesen, so der Autor. Gleichzeitig sei die Entfremdung zwischen Russland und der Ukraine immer größer geworden, weil sich die Ukraine immer stärker in Richtung Westen orientierte. In Syrien habe sich gezeigt, dass Russland erstmals auch bewusst auf Söldnertruppen zurückgegriffen habe. Nicht zuletzt sei Syrien vermutlich bereits ein Übungsfeld zur Ertüchtigung der russischen Gruppen gewesen. Die russischen Streitkräfte, so von Fritsch, konnten in Syrien bereits Kampferfahrung sammeln. 86 000 Soldaten und 460 Generäle hätten in Syrien Gefechtserfahrung gesammelt. Gleichzeitig habe Russland nichts dafür getan, den Konflikt um die Krim und den Donbass zu lösen. Moskau habe weiterhin so getan, als sei es unbeteiligt und bezichtigte seinerseits die Ukraine, schuld zu sein. Von Fritsch vertritt die Meinung, dass man die Ukraine schon seit 2014 hätte entschlossener in die Lage versetzen müssen, sich gegen einen möglichen russischen Angriff zu verteidigen. Vermutlich, so die These des Autors, hätte Russland in einem solchen Fall von einem Angriff abgesehen. Gleichzeitig kann man sich aber doch umgekehrt sogar fragen, warum hat Russland nicht bereits 2014 stärker eskaliert? Warum gab sich Putin mit der Krim und dem Donbass zufrieden? Gab er damit nicht der Ukraine sogar die Chance, sich auf einen neuerlichen Angriff einzustellen und vorzubereiten? Theoretisch hätte er schon damals die gesamte Ukraine angreifen können. Vielleicht hätte er damit Erfolg gehabt? War er vielleicht doch zunächst an einer diplomatischen Lösung interessiert?

 

2019 kam Selenskyj an die Macht. Eines seiner Wahlversprechen sei gewesen, den Konflikt mit Russland mit anderer Entschlossenheit zu lösen. Doch Russland habe nicht aufgehört, die Ukraine weiter zu bezichtigen, an einer Beendigung des Konflikts nicht interessiert zu sein. Zunehmend sei die Legitimität der Regierung in Kiew durch Russland in Zweifel gezogen worden. Von Fritsch stellt auch Überlegungen dazu an, warum Putin den Zeitpunkt seines Angriffs so gewählt hat. Eine These, die er in den Raum stellt: Der ungeordnete, chaotische Rückzug aus Afghanistan hätte Putins Eindruck bestätigt, dass der Westen auf dem absteigenden Ast sei. Das ist natürlich eine Behauptung, die sich schwer beweisen lässt. Wer weiß schon, was Putin dazu bewegt hat, gerade im Februar 2022 seinen Angriffskrieg zu beginnen.

 

 

Teil 4 – „Die Folgen des Krieges“

Nach Ansicht des Autors sei Russlands Befürchtung, aus der Ukraine heraus, demnächst mit Raketen bedroht zu werden, lediglich ein Vorwand gewesen, das Nachbarland vorbeugend anzugreifen. Bis zum Überfall habe Putin stets den Eindruck erweckt, an einer diplomatischen Lösung interessiert zu sein. Die Weltöffentlichkeit sei von ihm in Sicherheit gewogen worden. Der Autor beschreibt sehr detailliert auch die Sanktionen, die dann als Reaktion des Westens über Russland verhängt worden sind. Dabei beschreibt er auch, welche Auswirkungen sie auf die Wirtschaft hatten. Die Analyse der Folgen des Krieges ist kenntnis- und umfangreich sowie differenziert. Besonders interessant fand ich die Ausführungen des Autors zur Mentalität des Sowjetmenschen. Diese Überlegungen kann man auch mit dem ausbleibenden zivilen Widerstand in Russland gut in Verbindung bringen (als gute Ergänzung empfehle ich hier den Essay „Individuum und Totalitarismus“ von Ulitzkaja). Der Sowjetmensch zeichne sich dadurch aus, dass er einerseits im Mythos vom großen, unbesiegbaren Vaterland und andererseits in der Realität eines von Entbehrungen und Widrigkeiten bestimmten Alltags lebe. Die über Jahrzehnte hinweg erlernte Überlebensstrategie sei die Folgende: Schweigen ist sicherer. Von Fritsch stellt auch die Überlegung an, ob es zu einem Aufstand im Landesinneren von Russland kommen könnte. Er weist allerdings darauf hin, dass viele Menschen in Russland der Demokratie mit Misstrauen begegneten (auch aufgrund der antiwestlichen Propaganda). Sie brächten Demokratie mit Dekadenz und Verfall in Beziehung. Sein Fazit lautet, dass wir gut beraten seien, uns darauf einzustellen, dass sich in Russland einstweilen nicht allzu viel ändern dürfte.

 

Fazit:  

Wer sich über Hintergründe zum Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine informieren möchte, der findet in diesem Buch viele wichtige Fakten. Als Ergänzung hierzu empfehle ich noch die beiden Sachbücher „Die Wahrheit ist der Feind“ von Golineh Atai und „In Putins Kopf“ von Michel Eltchaninoff. So erhält man einen guten Überblick über die Situation in Russland und in der Ukraine. Mein Ziel war es mehr darüber herauszufinden, ob der Krieg vorhersehbar war oder nicht. Auch von Fritsch macht sehr deutlich, dass man seit 2014 zu nachsichtig mit Russland gewesen sei. Viele Warnzeichen sind übersehen worden. Weiterhin hat mich interessiert, mehr Hintergründe über die schwache Zivilgesellschaft in Russland zu erfahren. Hier fand ich die Ausführungen zur Mentalität des Sowjetmenschen lesenswert. Allerdings hätte ich mir noch mehr Einblicke gewünscht.

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