Erstens kommt es anders, und zweitens…
Der
Roman „Zwischen Welten“ von Juli Zeh und Simon Urban stand über 30 Wochen in
der Spiegel-Bestsellerliste (Stand: 08/23) und wurde mir noch dazu zur Lektüre
empfohlen. Grund genug, mir das Werk einmal genauer anzuschauen. Und so viel
vorweg: Es ist ein interessantes Beziehungsverhältnis zwischen den
Protagonisten Stefan und Theresa, das die beiden Autoren entworfen haben. Ein
Verhältnis, bei dem beide Charaktere in schwierigen Lebensphasen stecken und
sich gegenseitig offenherzig und schonungslos die Meinung über die Lebenswelt
des jeweils anderen mitteilen (in diesem Zusammenhang wird auch viel über
gesellschaftspolitische Themen gestritten). Stefan und Theresa sind dabei auch
hart im Umgang miteinander, echte Freunde eben, die sich schon seit ihrer
gemeinsamen WG-Zeit aus Studienzeiten kennen. Sie schenken sich nichts, es geht
hoch her, die Emotionen kochen des Öfteren hoch, die Nerven liegen blank. Und
die Schilderung der Entwicklung ihrer Beziehung zueinander ist das, was den
Roman in meinen Augen ausmacht. Ein tolles Buch, das ich nicht aus der Hand
legen konnte und das in der geschickt gestalteten Figurenrede sicherlich auch
den aktuellen Zeitgeist oft treffend wiedergibt.
Nachdem
Stefan und Theresa längere Zeit nichts voneinander gehört haben, treten sie
wieder in schriftlichen Kontakt. Sie kennen sich noch aus dem Studium, doch
ihre Lebensläufe haben völlig unterschiedliche Richtungen genommen. In
regelmäßigen E-Mails und Whats-App-Nachrichten gewähren beide dem jeweils anderen
einen Einblick in ihre aktuelle Lebenssituation. Stefan (ledig, Single, keine
Kinder) ist Kulturchef bei einer Zeitung namens „BOTE“ und berichtet seiner
ehemaligen Kommilitonin von den Streitigkeiten bei Redaktionssitzungen. Theresa
(verheiratet, zwei Kinder) gehört ein Bauernhof, den sie nach dem Tod ihres
Vaters übernommen hat. Sie hat ihr Germanistik-Studium aus diesem Grund
abgebrochen.
Die
Lebenswelten beider Figuren könnten unterschiedlicher nicht sein. Und die
Urteile übereinander fallen harsch aus. Vor allem die Whats-App-Nachrichten
haben oft einen konfrontativ-aggressiven Grundton. Für Theresa ist Stefan ein
Großstadt-Intellektueller, der keine Ahnung vom wahren Leben hat und in einem
Elfenbeinturm existiert. Des Öfteren bemüht sie sich darum, ihn auf den Boden
der Tatsachen zurückzuholen und berichtet von ihrem harten Alltag als
Landwirtin. Stefan beschreibt Theresa seinerseits am Beispiel der Arbeit im
Redaktionsteam die aufgeheizte Atmosphäre bei seinem Arbeitgeber. Doch Theresa
nimmt Stefan und seine Probleme nicht richtig ernst. Sie amüsiert sich über
sein Theoretisieren. Sie ist eine Frau der Praxis, steht mit beiden Beinen im
Leben und hat täglich praxisnahe Alltagsprobleme zu lösen, die der Beruf eines
Landwirts mit sich bringt. Ihre Lebenswelt ist nicht so „verkopft“ wie die von
Stefan. Sie packt an, sie leistet und findet kaum Zeit, sich hochtrabende
Gedanken zu machen. Sie ist eine Kämpferin. Trotz finanzieller Schwierigkeiten
und am Rande der Existenz gibt sie nicht auf und hält den Betrieb am Laufen.
Wenn Mitarbeiter gesundheitlich ausfallen, fängt sie deren Arbeit zusätzlich
mit auf. Sie setzt sich unermüdlich für Verbesserungen ein und fühlt sich von
der Politik allein gelassen.
Im
Laufe des E-Mails Kontakts kommen sich Stefan und Theresa mal näher, mal
distanzieren sie sich wieder voneinander. Zwischenzeitlich blitzen auch immer
einmal wieder Gefühle auf, die Stefan für Theresa hat. Stefan hadert mit der
gemeinsamen Vergangenheit. Er versteht z.B. nicht, warum seine ehemalige
WG-Mitbewohnerin wortlos verschwunden ist, um den Hof zu übernehmen, und ihn
nicht um Hilfe gebeten hat. Und was auch immer wieder während des
Schriftverkehrs deutlich wird: Beide streiten über gesellschaftspolitisch
relevante Themen und äußern dabei unterschiedliche Ansichten. So diskutieren
sie z.B. über das Gendern. Und oft debattieren Theresa und Stefan
leidenschaftlich, so dass die Fetzen fliegen. Theresa erscheint dabei häufig als
die Pragmatikerin, Stefan hingegen ist der Analytiker. Sie – bodenständig in
der Praxis. Er – intellektuell am Schreibtisch. Theresas Vorwurf: Stefan lebe
in einer Blase, die mit der Realität wenig zu tun habe. Er kümmere sich zu sehr
um die Lösung von Problemen auf Meta-Ebene und zu wenig um konkret greifbare
Schwierigkeiten. Weitere Themen, die sie äußerst emotional erörtern:
Klimaschutz, Ukraine-Krieg, struktureller Rassismus (das Verständnis für die
Relevanz dieses Themas hält sich bei Theresa in Grenzen), kulturelle Aneignung,
Ost-West-Problematik etc.
Auf
mich wirkte Theresa kompetent, wenn sie sich äußert. Die Abläufe des
landwirtschaftlichen Betriebs werden sehr detailliert und kenntnisreich von ihr
dargelegt. Sie hadert viel mit den politischen Zuständen und hat viele konkrete
Ideen, wie sich die Situation der Landwirtschaft im Land verbessern ließe. Stefan
seinerseits gewährt Einblicke in den journalistischen Alltag. So schildert er
z.B. den Entstehungsprozess einer Sonderausgabe zum Thema „Klimaschutz“, bei
der auch das Know-how von Aktivisten eingebunden werden soll, die sich dreist
und anmaßend verhalten. Ein weiteres Thema, das zum Ausdruck kommt: Das
Beziehungsleben beider Figuren. Dabei wird deutlich, dass Stefan wenig Ahnung
von Familienleben hat. Theresa ihrerseits schildert, wie sie sich zunehmend von
ihrem Mann Basti entfremdet, weil die Arbeit zu viel Raum einnimmt. Sie schafft
es nicht einmal, in den Urlaub zu fahren, ohne ein schlechtes Gewissen ihrem
Betrieb gegenüber zu haben.
Die
Entwicklung des Privatlebens beider Figuren ist so angelegt, dass Krise auf
Krise folgt. Wenn man denkt, es geht nicht schlimmer, ereignet sich bereits das
nächste Dilemma. So muss sich Stefans Chef z.B. nach einer unbedachten Äußerung
gegen einen „shit-storm“ wehren. Hier wird die Schattenseite der sozialen
Medien gut und treffend in den Blick genommen, wie ich finde. Es zeigt sich,
wie der Chefredakteur durch eine Hetzkampagne zu Fall gebracht wird und wie
seine ganze Familie darunter leidet. In diesem Zusammenhang werden im Roman
auch interessante Fragen aufgegriffen, die die journalistische Arbeit
betreffen: Wie sehr darf und muss man sich als Journalist:in positionieren? Wie
viel Haltung ist beim Schreiben nötig? Wie sehr überlässt der Journalist bzw.
die Journalistin die Meinungsbildung noch den Leser:innen? Oder sind
Journalist:innen selbst Meinungsmacher und geben Meinungen vor, die man als
Leser:in einzunehmen hat? Wie neutral muss Berichterstattung sein? Und kann sie
überhaupt neutral sein? Und auch die Rolle von Aktivist:innen mit vielen
Followern wird problematisiert. Wie kann es z.B. sein, dass Influencer mehr
Gehör finden und Aufregung stiften als gestandene Journalist:innen?
Im
weiteren Handlungsverlauf nimmt die Politikverdrossenheit von Theresa immer
mehr zu. Sie nimmt zunehmend radikalere Positionen ein, was ihre Verzweiflung deutlich
werden lässt. Sie fühlt sich von der Politik im Stich gelassen, beklagt
bürokratischen Irrsinn, fühlt sich machtlos, ohnmächtig. Sie wird immer mehr zu
einer Wutbürgerin. In meinen Augen wird sehr deutlich, dass Theresa ganz klar
bei sich ist. Sie weiß, wer sie ist, was sie will. Sie muss sich nicht finden.
Sie hat ein ganz klares Ziel vor Augen, das sie zu erreichen versucht
(wirtschaftlich überleben). Sie weiß nur nicht, wie sie das schafft. Stefan
hingegen ist wankelmütig. Er ist in einer Art Selbstfindungsphase und muss für
sich noch herausfinden, wie er seine journalistische Arbeit in Zukunft
ausrichtet. Was beide Figuren eint: Sie machen eine schwierige Lebensphase
durch. Das geteilte Leid schweißt sie zusammen. Doch es gibt auch klare
Unterschiede: Theresas Abwärtsspirale hält an und lässt sich nicht aufhalten,
die Katastrophen nehmen kein Ende. Es geht permanent bergab. Stefans Krisen
hingegen sind nie von Dauer, er muss „nur“ Unruhephasen überstehen, sein
beruflicher Erfolg ist (langfristig betrachtet) nie in Gefahr. Stefan ist auch
viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, er geht nach meinem Dafürhalten nicht
angemessen auf die Sorgen von Theresa ein. Letztlich geht es ihm doch nur um
seine Karriere. In Krisenmomenten ist er zwar nah bei Theresa, doch in
erfolgreichen Momenten ist er weit von ihr weg. Am Ende des Buchs könnte die
Distanz zwischen beiden Figuren nicht größer sein.
Das
einzige, was mich während der Lektüre des Buchs gewundert hat: Woher nehmen
beide Figuren die Kraft, sich solch langen E-Mails zu schreiben, wenn sie doch
so wenig Zeit haben, ihren Alltag zu managen? Woher nehmen sie die Energie, so
leidenschaftlich zu streiten und sich gegenseitig zu verletzen? Ein wenig hat
mich das Buch an „Gut gegen Nordwind“ von Daniel Glattauer erinnert, nur dass
hier nicht die Liebes-Thematik im Vordergrund steht, sondern die politische
Thematik.
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