Es ist nie zu spät…
Wer
kennt es nicht, das Gefühl der Prokrastination? Dinge, die man sich vornimmt,
werden auf Morgen verschoben und so lange hinausgezögert, dass man kaum mehr zu
ihnen kommt. Auch der Protagonist Lars erlebt in dem von Nele Pollatschek
verfassten Roman „Kleine Probleme“ ein solches Gefühl. Das Gefühl, noch Dinge
erledigen zu müssen, die er bisher nicht geschafft hat: „(…) ich muss verdammt
nochmal endlich den Müll runterbringen, ich muss noch herausfinden, warum mein
Knie seit einigen Jahren so komisch klackert und ob der Schmerz in der Brust
vielleicht doch nur Angina ist, ich muss den Kindern noch ein Erbe erarbeiten,
die Regenrinne muss ich noch vom Vorjahresherbst befreien, die
Bester-Papa-der-Welt-Tasse muss ich noch verdienen, ich muss noch mein
Lebenswerk verfassen“ (S. 15). Er macht sich also daran, eine Liste mit
Aufgaben zu erstellen, die er auf dem letzten Drücker noch abarbeiten möchte.
Und diese Liste bildet den roten Faden des Werks.
Bei
Lars geht es noch über das gewöhnliche Aufschieben von zu erledigenden Dingen
hinaus. Er fühlt sich unzulänglich und stellt fest, dass er sich selbst
gesteckte Ziele noch nicht erreicht hat. Und das belastet ihn und beschäftigt
ihn gedanklich. Ein Gefühl von Unvollkommenheit stellt sich bei ihm ein. Ein
schlechtes Gewissen und Selbstmitleid sind die Folge („Wie beschissen ist es
bitte, wenn einem alle Türe offenstehen und man trotzdem stehen bleibt. Wenn
man keinen Grund dafür hat, so zu sein, aber man ist halt trotzdem so? Wenn
alles einfach ist und einfach ist viel zu schwer“, S. 20).
Nicht
zuletzt der alltägliche „mental load“ wird Ursache dafür sein, dass sich bei
Lars dieses Gefühl einstellt (leider etwa auch Männer darunter?):
„Bedingungslose Liebe ist einfach, Zahnarzttermine sind schwer. Das Rezept für
die Brille und diese komischen Einaugenpflaster abzuholen ist schwer. Die
Antibiotika gegen die Mittelohrentzündung wirklich jeden verdammten Morgen zu
geben. Die Wäsche nicht in der Maschine vergammeln zu lassen, donnerstags an
den Turnbeutel zu denken, sich daran zu erinnern, dass doch dieses Halbjahr
Schwimmunterricht ist, das Kind zum Reiten zu fahren und es um Gottes willen
danach wieder abzuholen, das Kind nicht immer irgendwo stehen zu lassen, nicht
immer irgendwas zu vergessen, das alles zu kontrollieren, als wäre man
Familienvater und nicht nur irgendein Komparse, der sich in diese Rolle verirrt
hat und jetzt so tun muss, als wäre sie für ihn geschrieben“ (S. 41).
Was
diesen Roman in meinen Augen ausmacht, ist vor allem die sprachliche
Gestaltung. Der Stil erinnerte mich oft an Texte von Poetry-Slams: Lange,
kunstvoll arrangierte Satzkonstruktionen, klug ineinander verschachtelt, und
viele Wortwiederaufnahmen. Eine kreative Sprache, punktuell auch einmal mit
amüsanten Wortneuschöpfungen und kursiv eingeschobener wörtlicher Rede („es ist
zum Heulen oder zum Fluchen, Fluchen ist Heulen mit Sprache. So oder so ähnlich
fluchte ich, weil ich immer so fluche, wenn ich etwas aufbauen muss, Johanna
sagt dann ach Walter Benjamine doch nicht
wieder so rum, und ich sage ich
dachte, du Marxt das?, und manchmal sagt sie dann ich mag dich, mein Engels oder freier
deutscher Lars, bau auf, und manchmal lehnt sie sich an mich, sodass ihre
Haare mich ganz leicht am Hals kitzeln, und dann haucht sie J’Adorno.“, S. 33).
Auffällig
sind auch Parallelismen und Parenthesen: „Menschen können sich eben nicht
grenzenlos konzentrieren, Menschen sind eben nicht immer achtsam, Menschen
können sich nicht alles merken. Ziffern zum Beispiel können sich Menschen
überhaupt nicht gut merken“ (S. 35); „In der Küche müsste man dann aufräumen,
im Wohnzimmer müsste man aufräumen, im Wohnzimmer müsste man aufräumen, oben im
Arbeitszimmer unterm Dach, wo man eigentlich ein Lebenswerk verfassen will,
müsste man ganz ordentlich aufräumen, im Schlafzimmer, was mal ein gemeinsames
Schlafzimmer war, aber schon lange kein gemeinsames Schlafzimmer mehr ist, muss
man bestimmt mal so richtig aufräumen, und eh man es sich versieht, sieht man,
wenn man jetzt tatsächlich hinsähe, dann müsste man das ganze Leben aufräumen“
(S. 52).
Kurzum:
Die Syntax ist abwechslungsreich, spielerisch und originell. Wer so etwas mag,
der wird sehr viele Passagen mit Genuss lesen. Ich glaube, dass der Text vor
allem bei Lesungen eine tolle Wirkung entfaltet. Man findet viele stilistische
Mittel, die man vom Poetry-Slam kennt. Ich könnte in dieser Rezension so viele
Stellen zitieren, die klug, weise und kunstvoll gestaltet worden sind, das
würde den Rahmen sprengen. Die vielen angeführten Zitate sollten aber meiner
Meinung nach ein erstes exemplarisches Bild vom Erzählstil und von der
Sprachgestaltung vermitteln. Häufig handelt es sich um einen
aufzählend-reihenden Stil, der sehr rhythmisch daherkommt.
Doch
bei all der Satzakrobatik sollte der Inhalt nicht zu kurz kommen. Nach meinem
Eindruck werden viele Themen lose-assoziativ miteinander verkettet, das macht
sich vor allem im Mittelteil des Buchs bemerkbar. Das mag der ein- oder andere
Leser als anstrengend empfinden. Stellenweise besteht die Gefahr, dass die
vielen künstlerisch durchgeformten Sätze vom Inhalt ablenken. Nicht immer ist
es einfach, die Konstruktionen gedanklich zu durchdringen und inhaltlich
aufzunehmen. Konzentration ist gefordert, das sollte man mögen! Man wird mit
diesem Buch in meinen Augen eher intellektuell als emotional angesprochen. Ich
könnte mir aber auch gut vorstellen, dass die chaotisch-sprunghafte,
„bewusstseinsstromartige“ Gestaltung des Inhalts, die man punktuell findet, das
gedankliche Chaos von Lars widerspiegeln soll. Es gibt beispielsweise.
Textstellen, in denen Lars beginnt, von sich selbst in der dritten Person zu
sprechen. Und begleitend dazu werden noch Dialogfetzen versatzstückartig als
Erinnerungsanker in die Darstellung integriert.
Was
an vielen Stellen durchscheint und mich gut unterhalten hat: Ein launiger,
amüsanter Erzählton. Der Aufbau eines Betts durch den Ich-Erzähler sowie das
Ausfüllen der Steuererklärung werden z.B. herrlich humorvoll dargestellt („Und
dann ist da wieder ein Beleg, von dem man nicht weiß, was man damit anfangen
soll, und das ist dann ein Beleg zu viel. Man fängt an zu suchen, nach der
Rechnung, nach dem Postidentverfahren, nach dem notwendigen Zertifikat, nach
irgendwas Bürokratischem, das man einfach nicht versteht, und man will Johanna
fragen, und sie ist nicht da, überhaupt nicht da, und dann weiß man auch nicht
weiter, und dann sieht man die Umschläge und dann den Bildschirm und die
E-Mails, all die E-Mails, den Spam und die Erinnerungen und die Mahnungen und
die Erinnerungen an Mahnungen, den Berg, den ganzen Berg, den ganzen
beschissenen Berg. Und das ist dann zu viel. Das ist einfach zu viel“, S. 110).
Die Reinigung einer Regenrinne wird zu einem halsbrecherischen Abenteuer. Und auch
die Darstellung des wortkargen Telefonats von Lars mit seinem Vater sowie die
Improvisation eines Nudelsalats unter Zeitdruck fand ich sehr unterhaltsam
(„Ich weiß nicht, wie viele Nudeln einen Salat machen, oder wie viele Nudeln
man aus einem Salat entfernen kann, bis er aufhört, ein Salat zu sein, aber
eines weiß ich ganz sicher: Vier Nudeln sind kein Salat“, S. 170).
Nele
Pollatschek beweist an vielen Stellen ein ungeheures Talent für die (amüsante)
Beschreibung treffender Alltagsbeobachtungen, für Situationen, die wohl jeder
Leser/ jede Leserin kennt. Der Text ist originell, lebensklug und einfallsreich,
in sprachlicher sowie in inhaltlicher Hinsicht. Von mir gibt es dafür 5 Sterne!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen