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Freitag, 9. Mai 2025

Kapitelman, Dmitrij - Eine Formalie in Kiew


Ein Blick in die Vorkriegs-Ukraine



Der Ich-Erzähler berichtet von den Erschwernissen seiner Einbürgerung. Vor 1,5 Jahren hat er einen entsprechenden Antrag gestellt und musste seitdem immer wieder diverse Unterlagen vorlegen. Kurzum: Die bürokratischen Hürden sind hoch. Nun fehlt ihm noch ein Formular, das er nur in seiner Geburtsstadt Kiew bekommen kann (eine sog. Apostille). Aus diesem Grund fliegt er in die Ukraine, um den Prozess seiner Einbürgerung bald zum Abschluss bringen zu können. Und mental stellt sich der Erzähler bereits darauf ein, jede Menge Bestechungsgelder bezahlen zu müssen, um rasch an das Dokument zu kommen. Denn er steht unter Zeitdruck. Er hat nur eine Frist von drei Wochen, um die Unterlagen zu beschaffen und einzureichen.




In einem Rückblick wird zudem die schwierige Anfangszeit in Deutschland geschildert. Der Erzähler kam im Alter von 8 Jahren als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland und lebte mit seinen Eltern zunächst für ein Jahr in einem Asylheim. Bald danach machen sich seine Eltern selbstständig und gründen ein Geschäft, in dem russische Spezialitäten verkauft werden (vgl. hierzu auch den Nachfolgeroman, den ich ebenfalls rezensiert habe). Wichtige Info in diesem Zusammenhang: Während der Roman „Eine Formalie Kiew“ noch vor dem russischen Angriffskrieg spielt und einen intakten ukrainischen Alltag schildert, ist die Handlung des Romans „Russische Spezialitäten“ nach dem 24.02.22 angesiedelt und thematisiert u.a. den Kriegsalltag in Kiew.




In der Ukraine angekommen, begibt sich der Erzähler auf Spurensuche nach seinem alten Leben in Kiew und frischt Kindheitserinnerungen wieder auf. Dabei wird die Atmosphäre der Stadt gut eingefangen (und steht, wie schon oben erwähnt, in klarem Kontrast zum Nachfolgeroman. Man erfährt nur am Rande etwas von der Situation im Donbass und auf der Krim). Er tritt mit alten Freunden in Kontakt und besucht auch seinen ehemaligen Wohnort. In den Gesprächen wird auch die Hoffnung auf eine positive Zukunft des Landes spürbar. Und der Behördengang verläuft dann erstaunlich reibungslos und unspektakulär. Die Bürokratie geht ihren Gang und anders als im Vorfeld erwartet, muss der Erzähler kein Bestechungsgeld zahlen. Etwas im Land scheint sich positiv zu verändern…




Doch die Hoffnung, dass Korruption keine große Rolle mehr spielt, währt nicht lange. Als der Erzähler mit dem Gesundheitssystem in Berührung gerät (die näheren Gründe dafür, lasse ich hier aus, um inhaltlich nicht zu viel vorwegzunehmen), muss er feststellen, dass die Bestechung nach wie vor sehr wichtig ist. Ansonsten erhält man keine entsprechende Behandlung. Ohne eine die Zahlung einer sog. „Entdankung“ machen sich die Ärzte nicht die Mühe, genauere Diagnosen zu stellen oder Befunde eingehender zu prüfen. Kurzum: Das Gesundheitswesen erscheint in diesem Buch nicht im besten Licht. Und die Ukraine ist in diesem Bereich von deutschen Standards weit entfernt. Für den Erzähler, der sich nur an seine Kindheit in der Ukraine erinnert, sind das fremdartige Zustände. Doch seine Eltern wissen damit umzugehen, da sie dieses System noch aus Sowjetzeiten kennen.




Das Buch ist für solche Leserinnen und Leser interessant, die am Beispiel des Erzählers und seiner Beziehung zu seinen Eltern einen Blick in die Ukraine werfen möchten, bevor sie 2022 angegriffen wurde. Es wird sehr deutlich, wie sich das osteuropäische Land hoffnungsfroh an Europa orientiert und im Bereich der Bürokratie offenbar bereits erfolgreiche Anstrengungen unternommen hat, die Korruption einzudämmen. Am Beispiel des Gesundheitssystems, das nicht staatlich organisiert ist, wird aber auch deutlich, dass Bestechung immer noch eine große Rolle spielt. Am Agieren des Ich-Erzählers in diesem von ihm als fremd wahrgenommenen System zeigt sich darüber hinaus, dass er in der Lage ist, sich zwischen verschiedenen kulturellen Welten zu bewegen (dabei lernt er die deutschen Standards durchaus zu schätzen, vielleicht mit Ausnahme der Passkontrolle am Flughafen). Das alles liest sich sehr interessant. Von mir gibt es dafür 5 Sterne.

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