Evies Vergangenheit
Der Psychothriller „Fürchte die Schatten“ von Michael Robotham ist die
Fortsetzung des gelungenen ersten Teils „Schweige still“ (vgl. dazu eine
frühere Rezension). Schon in meiner Rezension zu Band 1 habe ich die Stärke dieser
Reihe herausgehoben: Die Konzeption der Figur Evie Cormac. Nun habe ich erwartet,
dass diese interessant ausgestaltete Figur auch in Teil 2 im Zentrum stehen
wird. Und das tut sie! Das ist schon einmal sehr gelungen! Insbesondere die Rekonstruktion
ihrer Vergangenheit nimmt viel Raum ein. Ich empfehle aber allen Interessierten
mit dem ersten Band zu beginnen, um sich mit der Vorgeschichte der beiden
Hauptfiguren vertraut zu machen.
Die Charakterzeichnung von Evie ist in meinen Augen erneut
hervorragend gelungen. So kommt Evies verächtlicher Blick auf die Welt
einerseits zum Ausdruck, andererseits zeigen sich auch ihr guter Kern und ihre
Hilfsbereitschaft. Sie ist ein traumatisiertes Mädchen mit einer seltenen Gabe:
Sie kann ihre Mitmenschen durchschauen und Lügen erkennen. Und sie agiert
stellenweise kompromisslos. Sie ist einfach eine interessante Figur, die sich
durch Dickköpfigkeit und Sturheit auszeichnet sowie durch Selbsthass. Sie
macht, was sie will, sie eckt an, und das mehrfach. Gleichzeitig macht sie sich
mit ihrem trotzigen Verhalten selbst das Leben schwer und steht sich selbst im
Weg. Die Passagen, in denen es um die Beziehung zwischen Evie und ihrem Peiniger
geht, sind nur schwer auszuhalten.
Cyrus untersucht parallel zu der Handlung um Evie einen vermeintlichen
Selbstmord und taucht in diesem Zusammenhang auch tief in Evies Vergangenheit
ein. Cyrus ist ein ebenso vielversprechend angelegter Charakter wie Evie. Er
vermag gut zu beobachten und treffende Schlussfolgerungen zu ziehen. Sein
geschulter psychologischer Blick blitzt oft gut auf. Das gefällt mir!
Allerdings steht er in diesem zweiten Band weniger im Fokus als Evie.
Vermutlich wird seine tragische Familiengeschichte noch in einem der
nachfolgenden Bücher genauer ins Blickfeld rücken. Wir lernen zumindest auf ein
paar Seiten seinen Bruder kennen, der an Schizophrenie erkrankt ist. Diese
Figur bietet noch einiges an Potential, auch wenn die Erkrankung hier etwas
klischeehaft dargestellt wird.
Verglichen mit dem ersten Band hat sich der Sprachgebrauch von Evie
etwas verändert. Auf mich hat es den Eindruck gemacht, als würde sie häufiger „anzüglich“
sprechen. Sie verstößt gegen Normen, indem sie Witze über Intimes anstellt und
andere häufiger bloßstellt. Das ist mir im ersten Band nicht so deutlich
aufgefallen. Hier scheint sie eine negative Entwicklung durchlaufen zu haben.
Das ist erzählerisch durch die Veränderung des Sprachduktus gut umgesetzt
worden.
Es gibt aber dennoch auch Dinge, die mir nicht so gut gefallen haben:
So hätte ich mir gewünscht, dass Evie häufiger von ihrem Talent als „Wahrheits-Zauberin“
Gebrauch gemacht hätte. Diese Idee mit Potential kommt mir eindeutig zu kurz.
Auch hätte ich mir gewünscht, dass Cyrus sich ihre Begabung stärker zunutze
macht und sie in die Ermittlungen stärker einbindet. Das hat mir gefehlt. Nicht
zuletzt war mir die Spannungsintensität insgesamt zu gering. Mir fehlten
spannungserregende Momente. Auch das Erzähltempo hätte höher ausfallen können.
Erst nach der Hälfte des Buchs spürt man, dass das Tempo und die Spannung
anziehen.
Fazit:
In Band 2 steht v.a. die Rekonstruktion der Vergangenheit von
Evie im Zentrum. Für mich ist die Charakterzeichnung von Evie und Cyrus das
gelungenste an diesem Thriller. Beide sind interessante und vielversprechende
Figuren, vor allem Evie hat so viel Potential. Für mich hätte aber das Talent
von Evie noch viel stärker erzählerisch aufbereitet werden müssen. Auch hätte
ich mir eine mögliche Zusammenarbeit von Evie und Cyrus gewünscht. Ich hatte
einfach eine andere Erwartungshaltung, das hat mich schon etwas enttäuscht
zurückgelassen. Ich hoffe sehr, dass der Autor im dritten Band das
Potential seiner Figuren stärker ausschöpft. Ich vergebe 3 Sterne, auch weil mir
Tempo und Spannung fehlten.
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