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Mittwoch, 9. November 2022

Le Tellier, Herve - Die Anomalie


5 von 5 Sternen


Protokoll 42

Der Roman „Die Anomalie“ von Herve le Tellier ist in meinen Augen ein großartiges, auch feinsinniges Buch mit einer simplen Idee, die dann mit vielen Zwischentönen äußerst kreativ und durchdacht umgesetzt wurde. Ausgangsfragen: Was passiert, wenn man plötzlich verdoppelt wird? Wie wirkt sich das auf das Leben der Doppelgänger und auf das derjenigen aus, die kopiert worden sind? Und was ich ebenfalls gelungen finde: Das Buch nimmt sich selbst nicht zu ernst. Der Erzählton schwankt passagenweise zwischen ernsthaft und ironisch. Das künstlerisch umzusetzen, ist schwierig. Doch es ist meisterhaft gelungen! Und für mich auch eine innovative Art sich mit dem klassischen Motiv des „Doppelgängers“ auseinanderzusetzen (vgl. hierzu den Eintrag im Lexikon „Motive der Weltliteratur“ von Elisabeth Frenzel). Toll!

 

Das Werk ist auch kunstvoll durchgestaltet, die Konzeption der Kapitel ist kreativ. Zunächst lernen wir sieben Figuren jeweils mit ihrem individuellen Einzelschicksal kennen: 1. Blake, einen rücksichtslosen, gefühlskalten Auftragskiller, 2. Victor Miesel, einen erfolglosen Schriftsteller und Übersetzer, 3. Lucie und ihren Partner Andre mit all ihren Gefühlen, 4. David, dem eine Krebsdiagnose eröffnet wird, 5. Sophia Kleffmann, eine Tochter, die innerhalb eines feindlichen Elternhauses groß wird, 6. Joanna, eine schwangere Anwältin, die eine Verteidigungsstrategie für ein Pharmaunternehmen entwickelt hat sowie 7. Slimboy, einem erfolgreichen Musiker, der einen Hit gelandet hat. Hinzu kommen dann noch weitere Kapitel, beispielsweise zu einem Forscherteam und solche, die dem Leser einen Einblick in das verdoppelte Flugzeug gewähren.

 

Grundsätzlich erfordert das Buch aufgrund der Anzahl der vielen Figuren hohe Aufmerksamkeit. Die Idee der Handlung ist zwar simpel, nicht aber die erzählerische Umsetzung. Diese hat viel Tiefe und ist durchdacht. Man muss sich vor allem auf den ersten Seiten schon sehr in Geduld üben, bis klar ist, wohin die „inhaltliche Reise“ geht. Doch gerade dann, wenn man beginnt zu denken, dass es mit der Einführung von Charakteren reicht, erlöst der Autor seine Leser. Die Handlung gewinnt dann an Dynamik, was daran liegt, dass sich die Verdoppelung eines Flugzeugs ereignet hat.

 

Danach stehen die Schilderung der Erforschung dieses Phänomens sowie die der psychologischen Auswirkungen auf die Betroffenen im Vordergrund. „Highlights“ waren für mich zwei Textstellen: einerseits die Passage, als die unterschiedlichen Hypothesen der Wissenschaftler zum Grund der Verdoppelung ausgeführt werden, andererseits der Abschnitt, als Anhänger verschiedener Weltreligionen sich über die Frage streiten, ob es sich bei den Doppelgängern noch um eine göttliche Schöpfung handelt. Nicht zuletzt ist die Darstellung des Aufeinandertreffens der Doppelgänger mit ihren „Originalen“ sehr lesenswert, weil es psychologisch sehr feinsinnig ausgestaltet worden ist. Mit dem Phänomen der Verdoppelung beschäftigen sich also Physiker, Theologen und Psychologen. Das hat mir sehr gut gefallen! Nicht zuletzt werden sogar noch Überlegungen einbezogen, wie sich ein solches Phänomen auf die Öffentlichkeit auswirkt. Klasse!

 

Am Ende jedes Handlungsabschnitts zu den einzelnen Figuren entstehen dann offene Fragen, die zum Weiterlesen animieren. Auch das ist gut arrangiert. Auch gibt es immer einmal wieder „textuelle Auflockerungen“, die von der Kreativität des Autors zeugen: Die Gesprächsprotokolle mit den sieben Figuren oder ein integrierter Zeitungsbericht. Darüber hinaus hat mir die Wahl der Erzählperspektive gut gefallen, vor allem zu Beginn, als die verschiedenen Figuren eingeführt werden. Dort haben wir es mit einem auktorialen Erzähler zu tun, der das Handeln seiner Protagonisten süffisant und mit ironischer Distanz kommentiert. Einfach genial und gut umgesetzt. Nicht zuletzt beherrscht der Autor das Spiel des Einsatzes verschiedener Sprachstile, nicht nur von gehoben bis vulgär, sondern auch von poetisch bis alltagssprachlich. Das ist nicht nur abwechslungsreich, sondern verleiht den Figuren auch eine individuelle Charakteristik. Abschließend ein Wort zum Ende des Werks: Absolut raffiniert!

 

Fazit

Selten schaffen es Bücher, mich so sehr zu begeistern, dass ich aus dem Loben nicht mehr herauskomme. In diesem Fall ist es aber genauso. Das Buch ist zugleich simpel und zugleich genial, es ist absolut durchdacht und strotzt vor Kreativität. Ich bin einfach begeistert und empfehle dieses Buch dringend weiter! Klare 5 Sterne.

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