Protokoll 42
Der Roman „Die Anomalie“ von Herve le Tellier ist in meinen Augen ein
großartiges, auch feinsinniges Buch mit einer simplen Idee, die dann mit vielen
Zwischentönen äußerst kreativ und durchdacht umgesetzt wurde. Ausgangsfragen: Was
passiert, wenn man plötzlich verdoppelt wird? Wie wirkt sich das auf das Leben
der Doppelgänger und auf das derjenigen aus, die kopiert worden sind? Und was
ich ebenfalls gelungen finde: Das Buch nimmt sich selbst nicht zu ernst. Der
Erzählton schwankt passagenweise zwischen ernsthaft und ironisch. Das
künstlerisch umzusetzen, ist schwierig. Doch es ist meisterhaft gelungen! Und für
mich auch eine innovative Art sich mit dem klassischen Motiv des „Doppelgängers“
auseinanderzusetzen (vgl. hierzu den Eintrag im Lexikon „Motive der Weltliteratur“
von Elisabeth Frenzel). Toll!
Das Werk ist auch kunstvoll durchgestaltet, die Konzeption der Kapitel
ist kreativ. Zunächst lernen wir sieben Figuren jeweils mit ihrem individuellen
Einzelschicksal kennen: 1. Blake, einen rücksichtslosen, gefühlskalten
Auftragskiller, 2. Victor Miesel, einen erfolglosen Schriftsteller und
Übersetzer, 3. Lucie und ihren Partner Andre mit all ihren Gefühlen, 4. David,
dem eine Krebsdiagnose eröffnet wird, 5. Sophia Kleffmann, eine Tochter, die
innerhalb eines feindlichen Elternhauses groß wird, 6. Joanna, eine schwangere
Anwältin, die eine Verteidigungsstrategie für ein Pharmaunternehmen entwickelt
hat sowie 7. Slimboy, einem erfolgreichen Musiker, der einen Hit gelandet hat. Hinzu
kommen dann noch weitere Kapitel, beispielsweise zu einem Forscherteam und
solche, die dem Leser einen Einblick in das verdoppelte Flugzeug gewähren.
Grundsätzlich erfordert das Buch aufgrund der Anzahl der vielen
Figuren hohe Aufmerksamkeit. Die Idee der Handlung ist zwar simpel, nicht aber
die erzählerische Umsetzung. Diese hat viel Tiefe und ist durchdacht. Man muss
sich vor allem auf den ersten Seiten schon sehr in Geduld üben, bis klar ist,
wohin die „inhaltliche Reise“ geht. Doch gerade dann, wenn man beginnt zu
denken, dass es mit der Einführung von Charakteren reicht, erlöst der Autor seine
Leser. Die Handlung gewinnt dann an Dynamik, was daran liegt, dass sich die
Verdoppelung eines Flugzeugs ereignet hat.
Danach stehen die Schilderung der Erforschung dieses Phänomens sowie
die der psychologischen Auswirkungen auf die Betroffenen im Vordergrund. „Highlights“
waren für mich zwei Textstellen: einerseits die Passage, als die unterschiedlichen
Hypothesen der Wissenschaftler zum Grund der Verdoppelung ausgeführt werden, andererseits
der Abschnitt, als Anhänger verschiedener Weltreligionen sich über die Frage
streiten, ob es sich bei den Doppelgängern noch um eine göttliche Schöpfung handelt.
Nicht zuletzt ist die Darstellung des Aufeinandertreffens der Doppelgänger mit
ihren „Originalen“ sehr lesenswert, weil es psychologisch sehr feinsinnig
ausgestaltet worden ist. Mit dem Phänomen der Verdoppelung beschäftigen sich
also Physiker, Theologen und Psychologen. Das hat mir sehr gut gefallen! Nicht zuletzt
werden sogar noch Überlegungen einbezogen, wie sich ein solches Phänomen auf
die Öffentlichkeit auswirkt. Klasse!
Am Ende jedes Handlungsabschnitts zu den einzelnen Figuren entstehen dann
offene Fragen, die zum Weiterlesen animieren. Auch das ist gut arrangiert. Auch
gibt es immer einmal wieder „textuelle Auflockerungen“, die von der Kreativität
des Autors zeugen: Die Gesprächsprotokolle mit den sieben Figuren oder ein
integrierter Zeitungsbericht. Darüber hinaus hat mir die Wahl der Erzählperspektive
gut gefallen, vor allem zu Beginn, als die verschiedenen Figuren eingeführt
werden. Dort haben wir es mit einem auktorialen Erzähler zu tun, der das
Handeln seiner Protagonisten süffisant und mit ironischer Distanz kommentiert. Einfach
genial und gut umgesetzt. Nicht zuletzt beherrscht der Autor das Spiel des
Einsatzes verschiedener Sprachstile, nicht nur von gehoben bis vulgär, sondern
auch von poetisch bis alltagssprachlich. Das ist nicht nur abwechslungsreich,
sondern verleiht den Figuren auch eine individuelle Charakteristik. Abschließend
ein Wort zum Ende des Werks: Absolut raffiniert!
Fazit:
Selten schaffen es Bücher, mich so sehr zu begeistern, dass ich
aus dem Loben nicht mehr herauskomme. In diesem Fall ist es aber genauso. Das
Buch ist zugleich simpel und zugleich genial, es ist absolut durchdacht und
strotzt vor Kreativität. Ich bin einfach begeistert und empfehle dieses Buch
dringend weiter! Klare 5 Sterne.
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