Ein Instrument zur Förderung der Leseflüssigkeit?
Das Jugendbuch „Die Crew. Die Rückkehr zum 9. Planeten“ von Andreas
Ulich aus dem Kosmos-Verlag weist ein innovatives und kreatives Konzept auf. Man
wird als Leser interaktiv in die Handlung mit einbezogen und trifft während der
Lektüre Entscheidungen. Abhängig von der Wahl der Antwort entwickelt sich der
Inhalt dann in unterschiedliche Richtungen. Man erhält beim Kauf dieses Werks
zwei Bände. In Band 1 berichtet Cim die Ereignisse, in Band 2 erzählt Prosper
Alan, was um ihn herum passiert. Ein- und dieselbe Situation wird so aus
unterschiedlichen Perspektiven veranschaulicht. Und als ob das noch nicht genug
wäre, kann man diese beiden Bände sogar zusammen im Wechsel zu zweit lesen. Man
muss dann nur im Vorfeld festlegen, wer welche Rolle übernimmt. Wer jetzt
glaubt, das funktioniert doch im Leben nicht, der irrt sich. Es klappt! Ich
habe es ausprobiert, allerdings nur für die Perspektive von Prosper Alan, den
zweiten Kommandanten. Für die Lektüre und inhaltliche Überprüfung des zweiten
Bands habe ich bereits mehrere Stunden benötigt. Und ich ziehe meinen Hut vor
dem Autor, der ein solch komplexes Werk generiert hat. Das muss unglaublich
viel Arbeit gewesen sein. Und selbst den Überblick über die Handlung zu
behalten und an den passenden Stellen Entscheidungsfragen zu integrieren, das muss
herausfordernd gewesen sein. Es erfordert höchste Konzentration. Noch dazu die
passende inhaltliche Abstimmung der zwei Perspektiven aufeinander. Großartige
Leistung! Beachtlich!
Und wer jetzt glaubt, er könnte überfordert werden, den kann ich
beruhigen. Als Einführung in dieses Werk gibt es sehr nachvollziehbare
Ausführungen zum Konzept und zur Herangehensweise. Es ist also absolut
durchdacht, was uns die Macher von „Die Crew“ hier präsentieren. Trotzdem
möchte ich am Ende der Rezension noch einige Verbesserungsvorschläge machen.
Doch erst einmal noch zum Positiven: Die Stärke dieses Werks ist in meinen
Augen ganz klar das zugrundeliegende Konzept. V.a. die Idee des Partnerlesens
fand ich interessant. Ich könnte mir z.B. auch einen Einsatz in der Schule
vorstellen, und zwar am besten für leseschwache Leser:innen, die noch
Schwierigkeiten mit dem flüssigen Vorlesen haben. So könnten zwei
unterschiedlich lernstarke Leser:innen jeweils einen Part übernehmen und sich
mit Hilfe eines Feedback-Bogens gegenseitig Rückmeldung zum Vorgelesenen geben.
Im Internet findet man dazu auch genügend Anregungen, wie so etwas aussehen
könnte (Stichwort: Lautlese-Training). Einen Versuch ist es wert. So würde
beiläufig auch das gegenseitige Zuhören noch gefördert sowie der Mut, im
Beisein eines Partners laut vorzulesen. V.a. für wenig selbstbewusste Leser
könnte ein solches Training eine gute Hilfe sein. Das Thema könnte auch gerade
für Jungen interessant sein.
Nun zu meinen Verbesserungsvorschlägen: Für die Lektüre von Band 2
habe ich mehrere Stunden benötigt. Irgendwann habe ich einen Stift zur Hand
genommen, um die verschiedenen Lösungswege nachvollziehen zu können. Denn
trifft man an bestimmten Stellen die falsche Entscheidung, so dreht man sich
auch einmal im Kreis bei seiner Lektüre, und das mehrfach. Das fördert zwar einerseits
die Frustrationstoleranz, verdirbt den Lesern aber auch ein wenig den Spaß. Zettel
und Stift schaffen hier Abhilfe. Oder eine andere Möglichkeit: Im Anhang gibt
es eine idealtypische Musterlösung in Form eines Pfeildiagramms. So hätte man
eine Orientierungsmöglichkeit. Was mir noch bei der Lektüre aufgefallen ist: Der
Start ins Buch verläuft etwas schleppend. Zu Beginn bin ich oft nicht über den
Mars hinweggekommen. Es gibt eine Art „Nadelöhr“ am Anfang, das man erfolgreich
durchlaufen muss. Danach wird’s besser und variantenreicher. Ich habe mich
gefragt, ob eine solche „Engstelle“ zum Einstieg ins Buch nötig ist. Mich hat
es schon etwas frustriert, immer wieder das Gleiche lesen zu müssen, und nur
mit Hilfe von Zettel und Stift den richtigen Lösungsweg herauszufinden. Darüber
hinaus ist mir aufgefallen, dass es punktuell auch nur recht kurze Umwege sind,
die man einschlägt, um dann doch an der gleichen Stelle wieder herauszukommen.
Das war dann etwas ernüchternd. Weiterhin gibt es einige Schlüsselstellen, an
denen die Fäden wieder zusammenlaufen (z.B. P137 oder P118). Diese könnten doch
im Anhang anhand eines Pfeildiagramms schön verdeutlicht werden. Gelungen fand
ich es, wenn bei einem vorzeitigen Missionsende verschiedene mögliche
Startpunkte zum Wiedereinstieg vorgeschlagen wurden (vgl. z.B. P80). So sollte
es konsequent durchgehalten werden, wenn ein vorzeitiges Missionsende eintritt.
Und abschließend muss ich doch noch eine etwas steile These in den Raum
stellen, die jeder für sich beantworten muss: Verliert der Inhalt des Werks
nicht zu sehr an Bedeutung, wenn man in erster Linie darauf achtet, den
richtigen Weg zu suchen? Mir ging es so, aber das kann anderen Lesern, die
gerne knobeln, ganz anders ergehen. Auch sollten die Entscheidungsfragen „echte“
Entscheidungen abverlangen. Wer würde z.B. ein Telefonat mit der eigenen Mutter
ablehnen oder eine Rettungsmission verweigern? Wohl niemand, nehme ich an.
Fazit:
Ein Jugendbuch mit einem innovativen Konzept, das auf
vielfältige Weise eingesetzt werden kann. Man kann es alleine oder auch zu
zweit lesen. Denkbar ist sogar ein Einsatz als Instrument zur
Leseflüssigkeitsförderung im Sinne des kooperativen Lernens. Die Leistung des
Autors ein solch durchdachtes und komplexes Buch zu erstellen, ist beachtlich
und verdient höchste Anerkennung. Dennoch gebe ich einiges zu bedenken und habe
einige Verbesserungsvorschläge. Ich vergebe 3 Sterne, vor allem weil mir das
Knobeln mit Zettel und Stift zu sehr auf Kosten des Inhalts ging. Deshalb
abschließend noch eine Anregung an den Kosmos-Verlag: Könnte das Konzept nicht
auch für Sachbücher geeignet sein? Könnte man ein Oberthema nicht in
verschiedene Unterthemen aufteilen und je nach Interesse Wahlmöglichkeiten fürs
Weiterlesen eröffnen? Auch das wäre als kooperatives Lesen möglich, ggf. sogar
mit inhaltlichen Fragen zur Nachbereitung im Sinne eines
Leserkompetenz-Trainings.
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