5 von 5 Sternen
Versuch eines Psychogramms von Putin
Der russische Überfall auf die Ukraine ist in meinen Augen eine Katastrophe, ein Verbrechen, rational nicht zu ergründen. Um einen tieferen Einblick in die Geschehnisse zu erhalten, habe ich mich in der letzten Zeit verstärkt mit Büchern zu dieser kriegerischen Auseinandersetzung beschäftigt, so z.B. mit dem Buch „Feuerpanorama“ von Sergej Gerassimow oder „Der Killer im Kreml“ von John Sweeney (vgl. frühere Rezensionen). Im Folgenden möchte ich nun das Werk „In Putins Kopf. Logik und Willkür eines Autokraten“ von Michel Eltchaninoff besprechen.
Eltchaninoff beschreibt in seiner Publikation die Weltanschauung von Putin, ein Thema, das bei John Sweeney nur knapp angerissen wird. Grundlage für die Einschätzungen des Autors sind Analysen von Putins Sprachgebrauch. So nimmt der russische Präsident in seinen Reden immer einmal wieder auf bestimmte Schriftsteller oder Philosophen Bezug. Eltchaninoff beleuchtet dann die Hintergründe dazu kenntnisreich und differenziert. Eine unheimlich spannende Lektüre!
Bereits in der Einführung des Buchs verdeutlicht Eltchaninoff, dass
sich im Wesentlichen drei Linien der Präsidentschaft Putins nachzeichnen
lassen: 1. Sein Liberalismus sei nur vorgetäuscht gewesen. Er habe stattdessen
früh eine konservative Vision der russischen Zukunft im Kopf gehabt. 2. Darüber
hinaus habe Putin die Theorie eines russischen Weges entwickelt und sich 3. durch
eurasische Denker zu einem imperialen Traum hinreißen lassen.
Kapitel 1 - „In erster Linie Sowjetbürger“
Hier fand ich den Gedanken des Autors interessant, dass Putin die
kommunistische Ideologie durch eine neue Ideologie ersetzen wolle. Seit dem
Zusammenbruch der Sowjetunion gebe es eine ideologische Leerstelle, die Putin
nun mit anderen, v.a. nationalistischen und militaristischen Inhalten auffülle.
Dazu zähle beispielsweise die Rehabilitierung Stalins.
Kapitel 2 - „Kant, Peter der Große und die Philosophie des Judo“
Hier zeigt der Autor auf, dass Putin zu Beginn seiner Präsidentschaft
durchaus liberal eingestellt gewesen sei, weder habe er die NATO als Feind
dargestellt, noch habe er ein Interesse an einer Konfrontation mit Europa
gehabt. Putin habe sich in seinen Reden sogar des Öfteren auch auf Immanuel
Kant und dessen Werk „Was ist Aufklärung?“ berufen. Doch Eltchaninoff wirft die
Frage auf, wie ehrlich und aufrichtig Putin gewesen sei. Ist sein Liberalismus
womöglich nur vorgespielt gewesen, um sich seinen Platz an der Macht zu
sichern? Hat er seine wahren Absichten verborgen, und zwar ganz im Sinne eines
Judoka, der sich der Philosophie des „sanften Nachgebens“ bedient?
2012 habe sich die Art, von Europa zu sprechen, jedenfalls radikal
geändert, so der Autor. Putin habe eine konservative Wendung vollzogen und
lehne eine europäische Bestimmung Russlands ab. Und eine weitere interessante
Beobachtung, die Eltchaninoff macht: Putin habe sich seiner Umgebung stets geschickt
angepasst, wenn er gesprochen hat. Er habe sich Europäern gegenüber anders als
Asiaten geäußert. Schon zu Beginn seiner ersten Amtszeit habe er z.B. den
Westen attackiert, wenn er in China eine Rede gehalten habe.
Kapitel 3 - „Die erste philosophische Liebe des Präsidenten“
Der Autor macht gut deutlich, dass Putin sich oft auf den Philosophen
Iwan Iljin bezieht, wenn er sich öffentlich äußert. Iljin tauche immer wieder
mit Zitaten in Reden des Präsidenten auf. Die von Putin meist geschätzte
Schrift Iljins trage den Titel „Was verheißt der Welt die Aufteilung Russlands?“.
Aus dieser Schrift scheine Putin eine Programmatik für sein eigenes politisches
Handeln abzuleiten.
Kapitel 4 - „Die konservative Wende“
Nach der Amtszeit von Medwedjew sei Putin zunehmend konservativer
geworden, so der Autor. Er habe sich seit 2012 immer stärker der Orthodoxie zugewandt
und sich immer häufiger patriotischer Beschwörungen bedient. Im Zuge dieser
Wende zeichneten sich drei zentrale Linien ab: Verwerfung der sowjetischen
Ideologie, Idealisierung des Russlands vor 1917 und Stärkung der Orthodoxie.
Kapitel 5 - „Der russische Weg“
Hier wird die Siegesrede anlässlich der Annexion der Krim näher
analysiert. Der Autor macht klar, dass sich neben der durch Putin
herbeigeführten konservativen Wende auch immer stärker ein sogenannter
russischer Weg herauskristallisiert habe. Zentral dafür seien Äußerungen, dass
Russland nun seine eigenen Ziele verfolge, und an andere Staaten gerichtete
Vorwürfe, diese wollten Russland kleinhalten.
Kapitel 6 - „Der eurasische Traum“
Der Autor widmet sich dem Thema der Gründung der eurasischen Union. In
diesem Zusammenhang wird auch die Rolle Aleksandr Dugins besprochen, der vom
Autor als „Neoeurasier“ bezeichnet wird.
Kapitel 8 + 10 „Welche Art Imperium?“, „Eskalation zum Äußersten“
Eltchaninoff stellt sich die Frage, wie ein russisches Imperium in den
Augen Putins aussehen könnte. Könnte es sich um ein orthodoxes Imperium
handeln? Was wäre das verbindende Element zwischen den slavischen Völkern? Die
russische Sprache? Am wahrscheinlichsten, so der Autor, scheine die Verfolgung
eines eurasischen Projekts, aus dem als Konsequenz auch eine Hinwendung zu
China resultiere.
Als besonders interessant und aktualitätsrelevant empfand ich die Darlegungen
zur Politik Russlands und der Ukraine in den Jahren 2012 bis 2014 (vgl. S. 150
ff.). Putin habe sich einen Beitritt der Ukraine zur Eurasischen Union
gewünscht, doch das Volk auf dem Maidan habe sich letztlich anders entschieden.
Das letzte Kapitel ist neu hinzugefügt worden und beschäftigt sich mit
aktuellen Entwicklungen. Putin inszeniere sich selbst als Historiker und wolle
die Geschichte umdeuten. Beispielsweise werde auch die Rolle der Sowjetunion im
Zuge des „Großen Vaterländischen Kriegs“ stets aufs Neue beschworen, um die
Bevölkerung hinter sich zu versammeln. Auch das klassisch dualistische
Freund-Feind-Schema werde wieder bedient. In Putins Reden fänden sich
rhetorische Abwertungsmechanismen, was den Westen betrifft, so der Autor.
Fazit:
Zusammenfassend kann man sagen, dass der Autor bei seinen Ausführungen
ein differenziertes Bild der möglichen Weltanschauungen Putins zu zeichnen
vermag, und das unter Bezugnahme auf viele Quellen und anhand vieler konkreter
Beispiele aus dem Sprachgebrauch des russischen Präsidenten. Die Darlegung
wirkt gut recherchiert, kompetent, fundiert und äußerst nachvollziehbar. Die
Schreibweise des Autors ist äußerst verdichtet, die Lektüre erfordert aber Konzentration.
Ich vergebe 5 Sterne!
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