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Dienstag, 1. November 2022

Eltchaninoff, Michel - In Putins Kopf. Logik und Willkür eines Autokraten

 


5 von 5 Sternen



Versuch eines Psychogramms von Putin

Der russische Überfall auf die Ukraine ist in meinen Augen eine Katastrophe, ein Verbrechen, rational nicht zu ergründen. Um einen tieferen Einblick in die Geschehnisse zu erhalten, habe ich mich in der letzten Zeit verstärkt mit Büchern zu dieser kriegerischen Auseinandersetzung beschäftigt, so z.B. mit dem Buch „Feuerpanorama“ von Sergej Gerassimow oder „Der Killer im Kreml“ von John Sweeney (vgl. frühere Rezensionen). Im Folgenden möchte ich nun das Werk „In Putins Kopf. Logik und Willkür eines Autokraten“ von Michel Eltchaninoff besprechen.

Eltchaninoff beschreibt in seiner Publikation die Weltanschauung von Putin, ein Thema, das bei John Sweeney nur knapp angerissen wird. Grundlage für die Einschätzungen des Autors sind Analysen von Putins Sprachgebrauch. So nimmt der russische Präsident in seinen Reden immer einmal wieder auf bestimmte Schriftsteller oder Philosophen Bezug. Eltchaninoff beleuchtet dann die Hintergründe dazu kenntnisreich und differenziert. Eine unheimlich spannende Lektüre!

Bereits in der Einführung des Buchs verdeutlicht Eltchaninoff, dass sich im Wesentlichen drei Linien der Präsidentschaft Putins nachzeichnen lassen: 1. Sein Liberalismus sei nur vorgetäuscht gewesen. Er habe stattdessen früh eine konservative Vision der russischen Zukunft im Kopf gehabt. 2. Darüber hinaus habe Putin die Theorie eines russischen Weges entwickelt und sich 3. durch eurasische Denker zu einem imperialen Traum hinreißen lassen.

 

Kapitel 1 - „In erster Linie Sowjetbürger“

Hier fand ich den Gedanken des Autors interessant, dass Putin die kommunistische Ideologie durch eine neue Ideologie ersetzen wolle. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gebe es eine ideologische Leerstelle, die Putin nun mit anderen, v.a. nationalistischen und militaristischen Inhalten auffülle. Dazu zähle beispielsweise die Rehabilitierung Stalins.

 

Kapitel 2 - „Kant, Peter der Große und die Philosophie des Judo“

Hier zeigt der Autor auf, dass Putin zu Beginn seiner Präsidentschaft durchaus liberal eingestellt gewesen sei, weder habe er die NATO als Feind dargestellt, noch habe er ein Interesse an einer Konfrontation mit Europa gehabt. Putin habe sich in seinen Reden sogar des Öfteren auch auf Immanuel Kant und dessen Werk „Was ist Aufklärung?“ berufen. Doch Eltchaninoff wirft die Frage auf, wie ehrlich und aufrichtig Putin gewesen sei. Ist sein Liberalismus womöglich nur vorgespielt gewesen, um sich seinen Platz an der Macht zu sichern? Hat er seine wahren Absichten verborgen, und zwar ganz im Sinne eines Judoka, der sich der Philosophie des „sanften Nachgebens“ bedient?

2012 habe sich die Art, von Europa zu sprechen, jedenfalls radikal geändert, so der Autor. Putin habe eine konservative Wendung vollzogen und lehne eine europäische Bestimmung Russlands ab. Und eine weitere interessante Beobachtung, die Eltchaninoff macht: Putin habe sich seiner Umgebung stets geschickt angepasst, wenn er gesprochen hat. Er habe sich Europäern gegenüber anders als Asiaten geäußert. Schon zu Beginn seiner ersten Amtszeit habe er z.B. den Westen attackiert, wenn er in China eine Rede gehalten habe.

 

Kapitel 3 - „Die erste philosophische Liebe des Präsidenten“

Der Autor macht gut deutlich, dass Putin sich oft auf den Philosophen Iwan Iljin bezieht, wenn er sich öffentlich äußert. Iljin tauche immer wieder mit Zitaten in Reden des Präsidenten auf. Die von Putin meist geschätzte Schrift Iljins trage den Titel „Was verheißt der Welt die Aufteilung Russlands?“. Aus dieser Schrift scheine Putin eine Programmatik für sein eigenes politisches Handeln abzuleiten.

 

Kapitel 4 - „Die konservative Wende“

Nach der Amtszeit von Medwedjew sei Putin zunehmend konservativer geworden, so der Autor. Er habe sich seit 2012 immer stärker der Orthodoxie zugewandt und sich immer häufiger patriotischer Beschwörungen bedient. Im Zuge dieser Wende zeichneten sich drei zentrale Linien ab: Verwerfung der sowjetischen Ideologie, Idealisierung des Russlands vor 1917 und Stärkung der Orthodoxie.

 

Kapitel 5 - „Der russische Weg“

Hier wird die Siegesrede anlässlich der Annexion der Krim näher analysiert. Der Autor macht klar, dass sich neben der durch Putin herbeigeführten konservativen Wende auch immer stärker ein sogenannter russischer Weg herauskristallisiert habe. Zentral dafür seien Äußerungen, dass Russland nun seine eigenen Ziele verfolge, und an andere Staaten gerichtete Vorwürfe, diese wollten Russland kleinhalten.

 

Kapitel 6 - „Der eurasische Traum“

Der Autor widmet sich dem Thema der Gründung der eurasischen Union. In diesem Zusammenhang wird auch die Rolle Aleksandr Dugins besprochen, der vom Autor als „Neoeurasier“ bezeichnet wird.

 

Kapitel 8 + 10 „Welche Art Imperium?“, „Eskalation zum Äußersten“

Eltchaninoff stellt sich die Frage, wie ein russisches Imperium in den Augen Putins aussehen könnte. Könnte es sich um ein orthodoxes Imperium handeln? Was wäre das verbindende Element zwischen den slavischen Völkern? Die russische Sprache? Am wahrscheinlichsten, so der Autor, scheine die Verfolgung eines eurasischen Projekts, aus dem als Konsequenz auch eine Hinwendung zu China resultiere.

Als besonders interessant und aktualitätsrelevant empfand ich die Darlegungen zur Politik Russlands und der Ukraine in den Jahren 2012 bis 2014 (vgl. S. 150 ff.). Putin habe sich einen Beitritt der Ukraine zur Eurasischen Union gewünscht, doch das Volk auf dem Maidan habe sich letztlich anders entschieden.

Das letzte Kapitel ist neu hinzugefügt worden und beschäftigt sich mit aktuellen Entwicklungen. Putin inszeniere sich selbst als Historiker und wolle die Geschichte umdeuten. Beispielsweise werde auch die Rolle der Sowjetunion im Zuge des „Großen Vaterländischen Kriegs“ stets aufs Neue beschworen, um die Bevölkerung hinter sich zu versammeln. Auch das klassisch dualistische Freund-Feind-Schema werde wieder bedient. In Putins Reden fänden sich rhetorische Abwertungsmechanismen, was den Westen betrifft, so der Autor. 

 

Fazit

Zusammenfassend kann man sagen, dass der Autor bei seinen Ausführungen ein differenziertes Bild der möglichen Weltanschauungen Putins zu zeichnen vermag, und das unter Bezugnahme auf viele Quellen und anhand vieler konkreter Beispiele aus dem Sprachgebrauch des russischen Präsidenten. Die Darlegung wirkt gut recherchiert, kompetent, fundiert und äußerst nachvollziehbar. Die Schreibweise des Autors ist äußerst verdichtet, die Lektüre erfordert aber Konzentration. Ich vergebe 5 Sterne!


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