„Wir sind zwei Länder!“
In letzter Zeit interessiere ich mich stark für Bücher, die sich dem russischen
Angriffskrieg auf die Ukraine widmen (vgl. weitere Rezensionen). Erst kürzlich
las ich z.B. das erschütternde Dokument „Feuerpanorama“ von Sergej Gerassimow,
in dem der Autor das Alltagsleben im Schatten des Krieges in Charkiw
veranschaulicht, und zwar für den Zeitraum vom 24.02.2022 bis 18.04.2022. Und
es gibt in letzter Zeit immer mehr solcher Zeitdokumente, die veranschaulichen,
welche Kriegsverbrechen von russischer Seite tagtäglich in der Ukraine verübt
werden.
Hier reiht sich auch das aktuelle Werk von Andrej Kurkow ein, der selbst
in St. Petersburg geboren wurde, aber in der Ukraine aufwuchs und lebt. Er gilt
als einer der beliebtesten und bekanntesten Schriftsteller aus der Ukraine (vgl.
dazu den Klappentext). Sein Buch trägt den Titel „Tagebuch einer Invasion“. Darin
wird ein noch umfassenderer Zeitraum als bei Gerassimow abgebildet. Kurkow
startet seinen Bericht mit dem 29.12.2021 und endet am 11.07.2022. Das erste
Drittel des Buchs behandelt also auch noch wenige Monate vor Kriegsbeginn. Doch
anders als Gerassimow, der sich in Charkiw aufhält, ist er nicht ganz
mittendrin im Geschehen. Kurkow berichtet mehr aus der Distanz heraus. Seine
Schilderungen lesen sich nicht ganz so „hautnah“, wenn es um die Darstellung
des Kriegsalltags geht.
Was Kurkow in seinem Werk gut gelingt, ist es, die Diskurse der
Ukraine vor und während des Krieges darzustellen. Man merkt seinem Bericht an,
dass er täglich die Nachrichten verfolgt und die mediale Berichterstattung sich
auch bei ihm widerspiegelt. Wir erhalten so einen Einblick in die Diskussionen
der ukrainischen Medien. Er greift selektiv einzelne Dinge heraus, die er dem
Leser dann näherbringt. So entsteht ein interessantes, landeskundliches Porträt.
Beispielsweise beschäftigt er sich auf den ersten Seiten mit der
Neujahrsansprache von Selenskyj, in der die Möglichkeit eines Krieges noch
keine große Rolle gespielt habe. Es wird auch deutlich, dass im Vorfeld des
Angriffskrieges lange eine Atmosphäre der Gelassenheit und Normalität
geherrscht habe. Diese endet dann aber jäh, als Russland seinen Angriff verübt.
Von diesem Zeitpunkt an ändert sich der Inhalt des Buchs hin zu einer
Kriegsberichterstattung.
Des Weiteren bindet Kurkow auch immer einmal wieder geschichtliche
Exkurse ein und zeigt auch Parallelen zur heutigen Situation auf. Schon früher
sei den Ukrainern Unrecht angetan worden, so z.B. die künstlich herbeigeführte
Hungersnot im Zuge der Entkulakisierung und Zwangskollektivierung während der
Stalinzeit (vgl. dazu das belletristische Werk „Denk ich an Kiew“ von Erin
Litteken, Anm. d. Verf.). Er bemängelt auch, dass eine geschichtliche
Aufarbeitung der Repressionen unter Stalin bis heute in Russland fehle. Und hat
er nicht Recht mit dieser These? In meinen Augen schon. Damals hat die Ukraine
unter Stalin Hunger gelitten, und heute droht vor allem die Dritte Welt durch
die Auseinandersetzungen um Getreidelieferungen aus der Ukraine Hunger zu
leiden. Wie perfide!
Kurkow bezieht auch klar Stellung gegen die Behauptung Putins, dass
die Ukraine nur eine Erfindung Lenins gewesen sei. Beide Länder hätten
unabhängig voneinander ihre jeweilige Geschichte, so der Autor. Die Mentalität
von Russen und Ukrainern unterscheide sich ebenfalls klar. Während Russen
autoritätsgläubig und folgsam eingestellt seien, seien Ukrainer liberal und
individualistisch, so seine Einschätzung. Während der Zusammenbruch der
Sowjetunion für Putin eine geopolitische Katastrophe gewesen sei, sei er für
die Ukraine die einmalige Chance gewesen, sich von Russland zu lösen.
Kurkow verwendet an vielen Stellen eine sehr einprägsame Sprache. Sehr
präzise und prägnante Äußerungen bringen seine Position auf den Punkt. Viele
seiner Sätze sind sehr pointiert und treffend („Die Ukraine wird entweder frei,
unabhängig und europäisch sein, oder es wird sie überhaupt nicht mehr geben“, S.
149; „Putin zerstört nicht nur die Ukraine, er zerstört Russland und damit auch
die russische Sprache“, S. 151; „Nicht das gesamte Russland ist ein einziges
Putin-Kollektiv! Aber leider gibt es in Russland auch keine kollektive
Bewegung, die sich Putin widersetzt“, S. 152).
Greifbar werden auch die Sorgen, die der Autor sich um seine Familie
und seine Freunde macht. Er verurteilt den Krieg Putins und fordert Europa
mehrmals im Text auf, sich hinter die Ukraine zu stellen. Der emotionale
Zustand des Autors verändert sich, das spürt man während der Lektüre. Wut und
Hass nehmen zu. Das geht aus den Zeilen deutlich hervor. Auch nicht
unberechtigt finde ich die Einschätzung des Autors, dass sich die Einstellung
der russischen Sprache gegenüber in der Ukraine verändert und verhärtet habe.
Die russische Sprache werde nun mit dem Angriffskrieg in Verbindung gebracht
und deshalb abgelehnt. Das halte ich für einen wichtigen, bedenkenswerten Punkt!
Auch der Informationskrieg, den Russland führt, wird von Kurkow gut
analysiert und angeprangert. Er macht sich z.B. darüber Sorgen, dass bestimmte
von Russland verbreitete Narrative in Teilen der Welt tatsächlich geglaubt
würden. Eine weitere Furcht des Autors: Das kulturelle Leben der Ukraine könne
ausbluten. Im Fall einer Einnahme der Ukraine durch Russland fürchtet er um die
Freiheit der Kulturschaffenden. Putin habe die Kultur in den Dienst seines
diktatorischen Regimes gestellt.
Fazit:
Ein wichtiges Buch in diesen Zeiten des russischen
Angriffskrieges auf die Ukraine. Es ist nicht nur eine reine
Kriegsberichterstattung, sondern Kurkow porträtiert den Zustand eines Landes
vor und während des Kriegs im Stil eines landeskundlichen Berichts. Auch
mediale Diskurse spiegeln sich in seinem Werk häufig wider. Noch dazu
vermittelt er auch wichtiges historisches Wissen. Eine gute Ergänzung zum
Gerassimows „Feuerpanorama“. Ich vergebe 5 Sterne!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen