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Montag, 7. November 2022

Kurkow, Andrej - Tagebuch einer Invasion


5 von 5 Sternen


„Wir sind zwei Länder!“

In letzter Zeit interessiere ich mich stark für Bücher, die sich dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine widmen (vgl. weitere Rezensionen). Erst kürzlich las ich z.B. das erschütternde Dokument „Feuerpanorama“ von Sergej Gerassimow, in dem der Autor das Alltagsleben im Schatten des Krieges in Charkiw veranschaulicht, und zwar für den Zeitraum vom 24.02.2022 bis 18.04.2022. Und es gibt in letzter Zeit immer mehr solcher Zeitdokumente, die veranschaulichen, welche Kriegsverbrechen von russischer Seite tagtäglich in der Ukraine verübt werden.

 

Hier reiht sich auch das aktuelle Werk von Andrej Kurkow ein, der selbst in St. Petersburg geboren wurde, aber in der Ukraine aufwuchs und lebt. Er gilt als einer der beliebtesten und bekanntesten Schriftsteller aus der Ukraine (vgl. dazu den Klappentext). Sein Buch trägt den Titel „Tagebuch einer Invasion“. Darin wird ein noch umfassenderer Zeitraum als bei Gerassimow abgebildet. Kurkow startet seinen Bericht mit dem 29.12.2021 und endet am 11.07.2022. Das erste Drittel des Buchs behandelt also auch noch wenige Monate vor Kriegsbeginn. Doch anders als Gerassimow, der sich in Charkiw aufhält, ist er nicht ganz mittendrin im Geschehen. Kurkow berichtet mehr aus der Distanz heraus. Seine Schilderungen lesen sich nicht ganz so „hautnah“, wenn es um die Darstellung des Kriegsalltags geht.

 

Was Kurkow in seinem Werk gut gelingt, ist es, die Diskurse der Ukraine vor und während des Krieges darzustellen. Man merkt seinem Bericht an, dass er täglich die Nachrichten verfolgt und die mediale Berichterstattung sich auch bei ihm widerspiegelt. Wir erhalten so einen Einblick in die Diskussionen der ukrainischen Medien. Er greift selektiv einzelne Dinge heraus, die er dem Leser dann näherbringt. So entsteht ein interessantes, landeskundliches Porträt. Beispielsweise beschäftigt er sich auf den ersten Seiten mit der Neujahrsansprache von Selenskyj, in der die Möglichkeit eines Krieges noch keine große Rolle gespielt habe. Es wird auch deutlich, dass im Vorfeld des Angriffskrieges lange eine Atmosphäre der Gelassenheit und Normalität geherrscht habe. Diese endet dann aber jäh, als Russland seinen Angriff verübt. Von diesem Zeitpunkt an ändert sich der Inhalt des Buchs hin zu einer Kriegsberichterstattung.

 

Des Weiteren bindet Kurkow auch immer einmal wieder geschichtliche Exkurse ein und zeigt auch Parallelen zur heutigen Situation auf. Schon früher sei den Ukrainern Unrecht angetan worden, so z.B. die künstlich herbeigeführte Hungersnot im Zuge der Entkulakisierung und Zwangskollektivierung während der Stalinzeit (vgl. dazu das belletristische Werk „Denk ich an Kiew“ von Erin Litteken, Anm. d. Verf.). Er bemängelt auch, dass eine geschichtliche Aufarbeitung der Repressionen unter Stalin bis heute in Russland fehle. Und hat er nicht Recht mit dieser These? In meinen Augen schon. Damals hat die Ukraine unter Stalin Hunger gelitten, und heute droht vor allem die Dritte Welt durch die Auseinandersetzungen um Getreidelieferungen aus der Ukraine Hunger zu leiden. Wie perfide!

 

Kurkow bezieht auch klar Stellung gegen die Behauptung Putins, dass die Ukraine nur eine Erfindung Lenins gewesen sei. Beide Länder hätten unabhängig voneinander ihre jeweilige Geschichte, so der Autor. Die Mentalität von Russen und Ukrainern unterscheide sich ebenfalls klar. Während Russen autoritätsgläubig und folgsam eingestellt seien, seien Ukrainer liberal und individualistisch, so seine Einschätzung. Während der Zusammenbruch der Sowjetunion für Putin eine geopolitische Katastrophe gewesen sei, sei er für die Ukraine die einmalige Chance gewesen, sich von Russland zu lösen.

 

Kurkow verwendet an vielen Stellen eine sehr einprägsame Sprache. Sehr präzise und prägnante Äußerungen bringen seine Position auf den Punkt. Viele seiner Sätze sind sehr pointiert und treffend („Die Ukraine wird entweder frei, unabhängig und europäisch sein, oder es wird sie überhaupt nicht mehr geben“, S. 149; „Putin zerstört nicht nur die Ukraine, er zerstört Russland und damit auch die russische Sprache“, S. 151; „Nicht das gesamte Russland ist ein einziges Putin-Kollektiv! Aber leider gibt es in Russland auch keine kollektive Bewegung, die sich Putin widersetzt“, S. 152).

 

Greifbar werden auch die Sorgen, die der Autor sich um seine Familie und seine Freunde macht. Er verurteilt den Krieg Putins und fordert Europa mehrmals im Text auf, sich hinter die Ukraine zu stellen. Der emotionale Zustand des Autors verändert sich, das spürt man während der Lektüre. Wut und Hass nehmen zu. Das geht aus den Zeilen deutlich hervor. Auch nicht unberechtigt finde ich die Einschätzung des Autors, dass sich die Einstellung der russischen Sprache gegenüber in der Ukraine verändert und verhärtet habe. Die russische Sprache werde nun mit dem Angriffskrieg in Verbindung gebracht und deshalb abgelehnt. Das halte ich für einen wichtigen, bedenkenswerten Punkt!

 

Auch der Informationskrieg, den Russland führt, wird von Kurkow gut analysiert und angeprangert. Er macht sich z.B. darüber Sorgen, dass bestimmte von Russland verbreitete Narrative in Teilen der Welt tatsächlich geglaubt würden. Eine weitere Furcht des Autors: Das kulturelle Leben der Ukraine könne ausbluten. Im Fall einer Einnahme der Ukraine durch Russland fürchtet er um die Freiheit der Kulturschaffenden. Putin habe die Kultur in den Dienst seines diktatorischen Regimes gestellt.

 

Fazit

Ein wichtiges Buch in diesen Zeiten des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Es ist nicht nur eine reine Kriegsberichterstattung, sondern Kurkow porträtiert den Zustand eines Landes vor und während des Kriegs im Stil eines landeskundlichen Berichts. Auch mediale Diskurse spiegeln sich in seinem Werk häufig wider. Noch dazu vermittelt er auch wichtiges historisches Wissen. Eine gute Ergänzung zum Gerassimows „Feuerpanorama“. Ich vergebe 5 Sterne!


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