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Dienstag, 15. November 2022

Atai, Golineh - Die Wahrheit ist der Feind. Warum Russland so anders ist


5 von 5 Sternen


Starke, differenziert und weitsichtige Analyse

Der russische Angriffskrieg war unvorhersehbar. Niemand konnte ahnen, dass es soweit kommt. Keiner hätte vermutet, dass Putin einen Krieg gegen die Ukraine beginnt. Ähnliche Aussagen hört man häufiger, wenn man politische Talkshows im Fernsehen verfolgt. Doch ist das wirklich so? Diese Frage hat mich sehr beschäftigt. Aus diesem Grund entschied ich mich dafür, das Buch „Die Wahrheit ist der Feind“ von Golineh Atai aus dem Jahr 2019 vom Rowohlt-Verlag genauer in den Blick zu nehmen. Atai ist 2014 mit dem Preis „Journalistin des Jahres“ ausgezeichnet worden. Von 2013 bis 2018 war sie ARD-Korrespondentin in Moskau (vgl. Klappentext). Und in meinen Augen zeigt sie tatsächlich sehr genau auf, was für eine autokratische und aggressive Innen- und Außenpolitik der Kreml v.a. seit 2012 verfolgt hat. Da verspricht der Klappentext nicht zu viel. Und als ergänzende Lektüre zu Atai empfehle ich auch noch das Werk „In Putins Kopf“ von Michel Eltchaninoff, das bereits 2016 erstmals erschienen ist. Vielleicht hätte die deutsche Bundesregierung diese Bücher auch einmal lesen sollen? Doch nun zum Inhalt:

 

Kapitel 1 - „Der Zar kommt zurück. Die Jahre 2011 bis 2013“

Die Autorin macht deutlich, dass Putins Wiederwahl im Jahr 2012 von massiven Protesten begleitet gewesen sei. Das Regime sei barsch gegen Demonstranten vorgegangen und bereits zu diesem Zeitpunkt habe der russische Präsident erkennen lassen, dass er ein Intrigenspiel des Westens hinter den Versammlungen und Demonstrationen vermutet. Nach seiner Wiederwahl habe Putin jede Menge Gesetze unterschrieben, um oppositionelle Stimmen zum Verstummen zu bringen. Auch die Medienlandschaft sei umgekrempelt worden, so Atai. An diesen Handlungen sei die sowjetische Sozialisation Putins erkennbar gewesen: Das Denken im Freund-Feind-Schema und die Interpretation innerer Kritik als Gefahr von außen. Weitere Pfeiler seiner Politik seien die folgenden gewesen: Das Werben um den Beitritt der Ukraine zur Eurasischen Union, die Hinwendung zu einem konservativen und anti-westlichen Weltbild, eine patriotische Mobilisierung durch Inszenierung von Gedenkfeiern, die Konfrontation mit der Ukraine seit 2013, die Bestrafung der EU-Ambitionen der Ukraine mit einer Handelsblockade, die Kleinhaltung der Zivilgesellschaft im eigenen Land, z.B. durch die Einführung von Repressalien, und eine Zunahme der Fernsehpropaganda. Letztlich finde ich vor allem die Ausführungen zum außenpolitischen Umgang Russlands mit der Ukraine interessant. Wenn man die Darstellung der Autorin liest, so fragt man sich schon, warum die deutsche Regierung die Zeichen der Zeit damals nicht erkennen konnte.

 

Kapitel 2 – „Die Dominosteine beginnen zu fallen. Die Jahre 2013 bis 2014“

In diesem Kapitel rücken v.a. die Ereignisse auf dem Maidan in den Blickpunkt. Im Jahr 2014 hätten sich zwei Akteure direkt gegenüber gestanden, so Atai: die ukrainische Zivilgesellschaft einerseits und der russische Staat mit Putin andererseits. Die Revolution auf dem Maidan sei von Russland als rechtswidriger, faschistischer Staatsstreich umgedeutet worden. Moskau habe die Deutungsmacht über die Ereignisse auf dem Maidan behaupten wollen. Nach der Annexion der Krim hätten Kritiker im eigenen Land unter Diskriminierung gelitten und seien mundtot gemacht worden. Dezidiert und mit vielen nachvollziehbaren Beispielen wird in diesem Zusammenhang auch der Informationskrieg nach innen und außen durch Russland dargestellt, in dem v.a. Fakten verdreht worden seien (was für eine Parallele zu heute! Anm. d. Verf.). Vernebelung und Verwirrung seien an der Tagesordnung gewesen. Falschmeldungen seien verbreitet worden. Und begleitend dazu hätte eine Medienzensur stattgefunden. Medien und Internet seien immer mehr unter staatliche Kontrolle geraten. Und nicht zuletzt hätte sich der Kreml darum bemüht, eine neue Geschichtsschreibung zu manifestieren. So wurden z.B. 2015 neue Geschichtslehrbücher an den Schulen ausgeteilt, um auf diese Weise einen nationalen Konsens über die russische Geschichte herzustellen. In den Lehrwerken sei eine kritische  Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ausgespart geblieben, so Atai. Stattdessen werde Stolz und Liebe zum Vaterland kolportiert. Auch die KGB-Archive blieben weiterhin verschlossen.

Was mir gut gefallen hat: Die Geschehnisse um den Maidan und die Umwälzungen in der Ukraine werden bei Atai viel genauer dargestellt als bei Eltchaninoff. Und auch der Bericht über die illegale Machtübernahme Russlands über die Krim wird sehr detailliert und kenntnisreich dargestellt. Besonders brisant ist, dass Atai sehr nachvollziehbar die vielen Lügen des Kremls offenlegt, die vor dem Hintergrund der Krimannexion verbreitet worden sind. Und wieder stelle ich mir die Frage: Warum hat von den politisch Verantwortlichen niemand die Warnzeichen erkannt? Aus heutiger Sicht erscheint es unverständlich.

 

Kapitel 3 - „Die Neue Front. Die Jahre 2015 bis 2017“

Hier geht es vor allem um das Thema der Militärintervention in Syrien. Im Syrienkrieg seien durch russische Flugzeuge immer wieder Zivilisten attackiert worden, in den Medien sei zeitgleich dazu ein verfälschtes Bild dieses Einsatzes gezeichnet worden. Ein weiteres Instrument russischer Kriegsführung, auf das die Autorin eingeht: der Einsatz von Söldnertruppen. Der Grund für den Einsatz solcher Truppen sei, dass der Kreml jegliche Verantwortung von sich weisen könne. Im Netz seien Desinformationskampagnen gestartet worden. Internettrolle hätten beispielsweise die Arbeit von Oppositionellen gestört. Und auch in Talkshows sei zu beobachten gewesen, wie Kritiker mit Ironie und rüdem Ton angegriffen worden sind. Überhaupt sei der Ton in den Medien sehr aggressiv und konfrontativ, so die Autorin. Im Fernsehen würde das Bild eines vom Feind umzingelten Landes erzeugt. Wut, Hass und Aggression beeinflussten auf diese Weise die gesamte Bevölkerung.

Besonders gelungen fand ich, dass die Autorin die Manipulations- und Beeinflussungsstrategien des Kreml sehr anschaulich mit Beispielen und nachvollziehbar erläutert und begründet. Vor allem die Technik der Desinformation und der strategischen Täuschung wird gut erklärt. Dabei gehe es darum, den Rezipienten zu verwirren und seine Wahrnehmung zu destabilisieren, um seine Standfestigkeit zu erschüttern (vgl. S. 215).

 

Kapitel 4 – „Angriff auf den Westen. Die Jahre 2016 bis 2019“

Hier geht es u.a. um die Einmischung des Kremls in den amerikanischen Wahlkampf und in Europa. Gezielte Hackerangriffe hätten stattgefunden. Ziel sei gewesen, Hillary Clinton zu diskreditieren. Auch auf den Balkan habe man „Internet-Einflussoperationen“ unternommen. So wirke Russland z.B. in Serbien stark in Politik und Gesellschaft hinein, u.a. mit Cyberattacken. Eine beliebte Taktik sei es, in sozialen Medien Desinformationen und die Narrative russischer Staatsmedien zu streuen, immer auch mit der Absicht eine Art Unruhe in anderen Ländern zu erzeugen und sie zu destabilisieren. Weiterhin verdeutlicht die Autorin, dass Putin trotz sinkender Beliebtheitswerte nicht auf Reformen oder auf eine Umgestaltung des eigenen Landes setze, sondern stattdessen auf Konfrontation mit dem Westen. Er zeichne das Bild eines vom Westen bedrohten Russlands. Russland sei eine Festung, umzingelt von äußeren Feinden. Viel Geld fließe also in militärische Aus- und Aufrüstung statt in Sinnvolleres, wie z.B. den Wohlstand der eigenen Bevölkerung.

 

Fazit

Die Analyse, die die Autorin hier vorlegt, ist sehr kenntnisreich, differenziert, anschaulich und nachvollziehbar verfasst. Ich empfinde das Werk aus dem Jahr 2019 als äußerst vorausschauend. Atai antizipiert bereits viele Entwicklungen, die dann tatsächlich eintreten. Und im Nachhinein wünscht man sich, dass die Bundesregierung schon früher die „Warnzeichen“ erkannt hätte, um angemessen darauf zu reagieren. Ich empfehle die Lektüre dieses Buchs solchen Lesern, die an einer treffenden Bestandsaufnahme der Jahre 2011 bis 2019 interessiert sind. Ich habe nichts zu bemängeln und vergebe 5 Sterne.

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