Starke, differenziert und weitsichtige Analyse
Der russische Angriffskrieg war unvorhersehbar. Niemand konnte ahnen,
dass es soweit kommt. Keiner hätte vermutet, dass Putin einen Krieg gegen die
Ukraine beginnt. Ähnliche Aussagen hört man häufiger, wenn man politische
Talkshows im Fernsehen verfolgt. Doch ist das wirklich so? Diese Frage hat mich
sehr beschäftigt. Aus diesem Grund entschied ich mich dafür, das Buch „Die
Wahrheit ist der Feind“ von Golineh Atai aus dem Jahr 2019 vom Rowohlt-Verlag
genauer in den Blick zu nehmen. Atai ist 2014 mit dem Preis „Journalistin des
Jahres“ ausgezeichnet worden. Von 2013 bis 2018 war sie ARD-Korrespondentin in
Moskau (vgl. Klappentext). Und in meinen Augen zeigt sie tatsächlich sehr genau
auf, was für eine autokratische und aggressive Innen- und Außenpolitik der
Kreml v.a. seit 2012 verfolgt hat. Da verspricht der Klappentext nicht zu viel.
Und als ergänzende Lektüre zu Atai empfehle ich auch noch das Werk „In Putins
Kopf“ von Michel Eltchaninoff, das bereits 2016 erstmals erschienen ist.
Vielleicht hätte die deutsche Bundesregierung diese Bücher auch einmal lesen
sollen? Doch nun zum Inhalt:
Kapitel 1 - „Der Zar kommt zurück. Die Jahre 2011 bis 2013“
Die Autorin macht deutlich, dass Putins Wiederwahl im Jahr 2012 von
massiven Protesten begleitet gewesen sei. Das Regime sei barsch gegen
Demonstranten vorgegangen und bereits zu diesem Zeitpunkt habe der russische
Präsident erkennen lassen, dass er ein Intrigenspiel des Westens hinter den
Versammlungen und Demonstrationen vermutet. Nach seiner Wiederwahl habe Putin
jede Menge Gesetze unterschrieben, um oppositionelle Stimmen zum Verstummen zu
bringen. Auch die Medienlandschaft sei umgekrempelt worden, so Atai. An diesen
Handlungen sei die sowjetische Sozialisation Putins erkennbar gewesen: Das
Denken im Freund-Feind-Schema und die Interpretation innerer Kritik als Gefahr
von außen. Weitere Pfeiler seiner Politik seien die folgenden gewesen: Das
Werben um den Beitritt der Ukraine zur Eurasischen Union, die Hinwendung zu
einem konservativen und anti-westlichen Weltbild, eine patriotische
Mobilisierung durch Inszenierung von Gedenkfeiern, die Konfrontation mit der
Ukraine seit 2013, die Bestrafung der EU-Ambitionen der Ukraine mit einer Handelsblockade,
die Kleinhaltung der Zivilgesellschaft im eigenen Land, z.B. durch die Einführung
von Repressalien, und eine Zunahme der Fernsehpropaganda. Letztlich finde ich vor
allem die Ausführungen zum außenpolitischen Umgang Russlands mit der Ukraine
interessant. Wenn man die Darstellung der Autorin liest, so fragt man sich
schon, warum die deutsche Regierung die Zeichen der Zeit damals nicht erkennen
konnte.
Kapitel 2 – „Die Dominosteine beginnen zu fallen. Die Jahre 2013 bis
2014“
In diesem Kapitel rücken v.a. die Ereignisse auf dem Maidan in den
Blickpunkt. Im Jahr 2014 hätten sich zwei Akteure direkt gegenüber gestanden,
so Atai: die ukrainische Zivilgesellschaft einerseits und der russische Staat
mit Putin andererseits. Die Revolution auf dem Maidan sei von Russland als
rechtswidriger, faschistischer Staatsstreich umgedeutet worden. Moskau habe die
Deutungsmacht über die Ereignisse auf dem Maidan behaupten wollen. Nach der
Annexion der Krim hätten Kritiker im eigenen Land unter Diskriminierung gelitten
und seien mundtot gemacht worden. Dezidiert und mit vielen nachvollziehbaren
Beispielen wird in diesem Zusammenhang auch der Informationskrieg nach innen
und außen durch Russland dargestellt, in dem v.a. Fakten verdreht worden seien
(was für eine Parallele zu heute! Anm. d. Verf.). Vernebelung und Verwirrung
seien an der Tagesordnung gewesen. Falschmeldungen seien verbreitet worden. Und
begleitend dazu hätte eine Medienzensur stattgefunden. Medien und Internet seien
immer mehr unter staatliche Kontrolle geraten. Und nicht zuletzt hätte sich der
Kreml darum bemüht, eine neue Geschichtsschreibung zu manifestieren. So wurden z.B.
2015 neue Geschichtslehrbücher an den Schulen ausgeteilt, um auf diese Weise einen
nationalen Konsens über die russische Geschichte herzustellen. In den
Lehrwerken sei eine kritische Auseinandersetzung
mit der eigenen Geschichte ausgespart geblieben, so Atai. Stattdessen werde Stolz
und Liebe zum Vaterland kolportiert. Auch die KGB-Archive blieben weiterhin
verschlossen.
Was mir gut gefallen hat: Die Geschehnisse um den Maidan und die
Umwälzungen in der Ukraine werden bei Atai viel genauer dargestellt als bei
Eltchaninoff. Und auch der Bericht über die illegale Machtübernahme Russlands
über die Krim wird sehr detailliert und kenntnisreich dargestellt. Besonders
brisant ist, dass Atai sehr nachvollziehbar die vielen Lügen des Kremls
offenlegt, die vor dem Hintergrund der Krimannexion verbreitet worden sind. Und
wieder stelle ich mir die Frage: Warum hat von den politisch Verantwortlichen
niemand die Warnzeichen erkannt? Aus heutiger Sicht erscheint es
unverständlich.
Kapitel 3 - „Die Neue Front. Die Jahre 2015 bis 2017“
Hier geht es vor allem um das Thema der Militärintervention in Syrien.
Im Syrienkrieg seien durch russische Flugzeuge immer wieder Zivilisten
attackiert worden, in den Medien sei zeitgleich dazu ein verfälschtes Bild
dieses Einsatzes gezeichnet worden. Ein weiteres Instrument russischer
Kriegsführung, auf das die Autorin eingeht: der Einsatz von Söldnertruppen. Der
Grund für den Einsatz solcher Truppen sei, dass der Kreml jegliche
Verantwortung von sich weisen könne. Im Netz seien Desinformationskampagnen gestartet
worden. Internettrolle hätten beispielsweise die Arbeit von Oppositionellen
gestört. Und auch in Talkshows sei zu beobachten gewesen, wie Kritiker mit Ironie
und rüdem Ton angegriffen worden sind. Überhaupt sei der Ton in den Medien sehr
aggressiv und konfrontativ, so die Autorin. Im Fernsehen würde das Bild eines
vom Feind umzingelten Landes erzeugt. Wut, Hass und Aggression beeinflussten
auf diese Weise die gesamte Bevölkerung.
Besonders gelungen fand ich, dass die Autorin die Manipulations- und
Beeinflussungsstrategien des Kreml sehr anschaulich mit Beispielen und
nachvollziehbar erläutert und begründet. Vor allem die Technik der
Desinformation und der strategischen Täuschung wird gut erklärt. Dabei gehe es
darum, den Rezipienten zu verwirren und seine Wahrnehmung zu destabilisieren,
um seine Standfestigkeit zu erschüttern (vgl. S. 215).
Kapitel 4 – „Angriff auf den Westen. Die Jahre 2016 bis 2019“
Hier geht es u.a. um die Einmischung des Kremls in den amerikanischen
Wahlkampf und in Europa. Gezielte Hackerangriffe hätten stattgefunden. Ziel sei
gewesen, Hillary Clinton zu diskreditieren. Auch auf den Balkan habe man „Internet-Einflussoperationen“
unternommen. So wirke Russland z.B. in Serbien stark in Politik und
Gesellschaft hinein, u.a. mit Cyberattacken. Eine beliebte Taktik sei es, in
sozialen Medien Desinformationen und die Narrative russischer Staatsmedien zu
streuen, immer auch mit der Absicht eine Art Unruhe in anderen Ländern zu erzeugen
und sie zu destabilisieren. Weiterhin verdeutlicht die Autorin, dass Putin
trotz sinkender Beliebtheitswerte nicht auf Reformen oder auf eine Umgestaltung
des eigenen Landes setze, sondern stattdessen auf Konfrontation mit dem Westen.
Er zeichne das Bild eines vom Westen bedrohten Russlands. Russland sei eine
Festung, umzingelt von äußeren Feinden. Viel Geld fließe also in militärische
Aus- und Aufrüstung statt in Sinnvolleres, wie z.B. den Wohlstand der eigenen
Bevölkerung.
Fazit:
Die Analyse, die die Autorin hier vorlegt, ist sehr
kenntnisreich, differenziert, anschaulich und nachvollziehbar verfasst. Ich
empfinde das Werk aus dem Jahr 2019 als äußerst vorausschauend. Atai
antizipiert bereits viele Entwicklungen, die dann tatsächlich eintreten. Und im
Nachhinein wünscht man sich, dass die Bundesregierung schon früher die „Warnzeichen“
erkannt hätte, um angemessen darauf zu reagieren. Ich empfehle die Lektüre
dieses Buchs solchen Lesern, die an einer treffenden Bestandsaufnahme der Jahre
2011 bis 2019 interessiert sind. Ich habe nichts zu bemängeln und vergebe 5
Sterne.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen