Literatur mit „thrillerhaften Zügen“
Kurz
vor seiner Hinrichtung begleiten wir Ansel Packer im Todestrakt bei seinen
letzten Gedanken. Er spricht sich dabei selbst mit „du“ an, was einen
ungewöhnlichen Effekt erzeugt. Man fühlt sich als Leser:in direkt angesprochen.
Ansel wartet auf die Vollstreckung der Todesstrafe. Ihm bleiben noch 12
Stunden. Und er kann sich bis zum Schluss mit dem Urteil nicht abfinden, glaubt
bis zu einem gewissen Punkt noch daran, dass er der Strafe entfliehen kann.
Doch je näher die Frist rückt, desto klarer wird ihm, es gibt kein Entrinnen.
Das ist wirklich eine schwer auszuhaltende Lektüre, bei der man als Leser:in
gezwungen ist, sich mit dem Thema „Todesstrafe“ auseinanderzusetzen. Das Buch
hat mir viel abverlangt und ich vermute, anderen Leser:innen wird es nicht
anders ergehen.
Eingestreut
in die Kapitel zu Ansel Packer, die im stündlichen Countdown heruntergezählt
werden, werden zudem Rückblicke von verschiedenen Frauenfiguren: Da ist die
Mutter von Ansel , die ihren Sohn im Alter von vier Jahren mit ihrem kleinen
Bruder allein zurückgelassen hat, weil sie die Gewalt ihres Ehemanns nicht mehr
ertragen hat. Wir erfahren auf diese Weise mehr über die armselige und
gewalthaltige Kindheit von Ansel, der dann schließlich in staatliche Obhut
gelangt. Da ist Hazel, die Zwillingsschwester von Jenny, mit der Ansel lange
Zeit nach außen eine „normale“ Beziehung geführt hat, ohne zu bemerken, was
Ansel für ein Mensch ist. Und da ist die Polizistin Saffy, die Ansel
verdächtigt, observiert und dann überführt. Wir haben es also mit einem „howcatchem“-Thriller
zu tun, wenn man dieser Genrezuordnung folgen möchte. In den Rückblicken
erfahren wir mehr zur kindlichen Prägung von Ansel, zu seinen Taten und seinem
„Scheinleben“ von Normalität sowie zu den Ermittlungen. Es geht vor allem um
die Frage: Wie wird er am Ende ergriffen? Und es geht auch um die Frage: Wie
wird jemand zum Mörder?
Das
Buch wird als Thriller vermarktet, doch ich finde das Etikett „Thriller“ wird
diesem Buch nicht gerecht, weil es zu kurz greift. Aufgrund der Themenwahl und der
ausführlichen Charakterisierung der Figuren würde ich das Buch eher dem Genre
„Literatur“ zuordnen, Literatur mit „thrillerhaften Zügen“. Die
Charakterzeichnung aller handlungstragenden Figuren ist sehr detailliert
ausgefallen. Vor allem Ansel gerät furchteinflößend und mitleiderregend
zugleich. Da ist seine wahnhafte Seite, die man sich aufgrund seines kindlichen
Traumas erklären kann und die Mitgefühl erregt, aber da ist auch die
emotionslose, kalte sowie berechnende Seite, die mich als Leser schaudern ließ.
Ansel ist in der Lage, seine Mitmenschen mühelos zu durchschauen und zu
manipulieren. Und was geschickt von der Autorin immer wieder eingestreut wird:
Es gibt an vielen Stellen Vorzeichen, die auf die dunkle Seite von Ansel
hindeuten. Und gleichzeitig wirkt er besonders auf Frauen charmant, anziehend
und attraktiv.
Das Buch fordert die Leser:innen, wie schon beschrieben, dazu heraus, sich eingehender mit dem Thema „Todesstrafe“ zu beschäftigen. Ein Thema, das ja auch in den Medien immer einmal wieder auftaucht. Erst kürzlich hat die Hinrichtung mit einer neuen Methode in Alabama für Schlagzeilen gesorgt. Jeder muss für sich selbst klären, wie er dazu steht. In dem Buch wird jedenfalls gut deutlich, dass es nicht nur schwarz und weiß gibt, sondern sehr viele Grautöne. Dafür sorgt allein schon die Charakterzeichnung der Figuren. Auch das erzähltechnische Arrangement überzeugt, es kommen viele Blickwinkel vor, die sich dem Thema und dem Täter annähern. Hätte die Autorin wirklich einen Thriller schreiben wollen, so hätte die Handlung viel stärker gestrafft werden müssen, die Charaktere wären weniger differenziert und facettenreich beschrieben worden und sie hätte auch an einigen anderen „Stellschrauben“ drehen müssen, um mehr Tempo zu erzeugen. Deshalb glaube ich, dass es der Autorin um etwas anderes ging, als „nur“ einen Thriller zu schreiben. Es ging ihr um mehr. Und das ist ihr gelungen. Von mir gibt es 5 Sterne.
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