Toxische Charaktere
Eine
Frau erlebt aus nächster Nähe, wie ein Passant überfahren wird und ums Leben
kommt, und sie hat nichts Besseres zu tun, als sich Gedanken darüber zu machen,
wie sie ihre Bluse reinigen kann. Was für ein Einstieg in den Roman „Verity“
von Colleen Hoover, der schon seit über 50 Wochen in der
Spiegel-Bestsellerliste zu finden ist. Scheinbar hat die Autorin ein Talent
dafür, schräge Figuren mit verschobenem moralischem Kompass zu entwerfen, die situationsunangemessen
handeln. Das ist mir schon bei „Layla“ aufgefallen (vgl. eine frühere
Rezension). Es handelt sich bei der genannten Frau übrigens um die
Protagonistin Lowen Ashleigh, die wir über den gesamten Roman hinweg begleiten.
Und ihre Reaktion zu Beginn sollte bereits eine Warnung für die Leser:innen
sein, mit was für einer Person wir es zu tun haben.
Wie
schon bei „Layla“ wird der Romanbeginn durch einen Kontrast eröffnet.
Einerseits ereignet sich ein Unfalltod eines namenlosen Passanten, andererseits
schließen sich an dieses tragische Ereignis geschäftliche Verhandlungen an, die
ungeachtet des zuvor Erlebten in völliger Normalität ablaufen. Und die Idee,
dass der Verlag die erfolgreiche Buchreihe der verunglückten Autorin Verity
Crawford von Lowen unter Pseudonym weiter veröffentlichen lassen will, mutet sehr
grotesk an (womöglich ein schöner versteckter Seitenhieb). Hier habe ich mir die
Frage gestellt, ob das Ausgangsszenario nicht sehr konstruiert ist: Ist eine
solche Geschäftspraxis des Verlags ohne Zustimmung der Autorin überhaupt
möglich? Aber nun gut, vielleicht sollte man sich nicht zu sehr daran stören…
Bei
ihren Recherchen zur Reihe stößt Lowen auf ein autobiographisches Manuskript
von Verity, das sie Kapitel für Kapitel liest. Und wir als Leser:innen lesen
mit. Die Haupthandlung um die Jungautorin wird immer wieder durch eingeschobene
Kapitel aus dem Manuskript von Verity unterbrochen. Und die Eröffnung einer
weiteren Textebene hat einen spannungserregenden Effekt: Einerseits wird die
Neugier forciert. Als Leser:in will man wissen, was Verity alles offenbart.
Andererseits ist man von dem, was Verity offenherzig preisgibt, schockiert und fragt
sich, wie Lowen auf das Gelesene reagiert und wie sie damit umgeht. Wird sie
Jeremy einweihen? Das ist schon sehr geschickt arrangiert.
Und
auch Verity erscheint uns als schräger, unsympathischer, (evtl. unglaubwürdiger?)
Charakter mit fragwürdigem Wertesystem. Eine solche Charakterzeichnung wie bei
Hoover ist mir bisher noch nicht untergekommen. Auf Dauer ist es fordernd, so
etwas zu lesen und auszuhalten. Während der Lektüre war ich teils richtig
wütend auf Verity. Sie erscheint zutiefst manipulativ, unehrlich und
gewissenlos, ja regelrecht gestört. Es sind auf jeden Fall keine positiven
Emotionen, die hervorgerufen werden. Darauf sollte man sich einstellen und das
sollte man mögen.
Die
Entwicklung von Jeremy war mir allerdings zu vorhersehbar. Dass er zum Ende noch
eine andere Rolle einnehmen wird, hat sich abgezeichnet. Zu blass und naiv
wirkte er auf den ersten Seiten. Und was mir noch aufgefallen ist: Die
Frau-Mann-Beziehungen sind wie schon in „Layla“ sehr einseitig gestaltet
worden. Es geht stets um die Themen „Sex“ und „Verlangen“. Es ist schon
auffällig, wie oft der Akt der Penetration ausufernd beschrieben wird. Auch das
sollte man mögen. Mir war es dann doch oft zu monoton und gleichförmig.
Auch
die Auflösung am Ende war mir (leider!) zu konstruiert und zu unglaubwürdig. Das
hat mich negativ überrascht. Ich fand auch nicht alles plausibel. Und noch
etwas, was mich anstrengte: Viele Handlungen der Figuren riefen bei mir
Fassungslosigkeit hervor. Auf Dauer kann man die Charaktere, die Hoover konzipiert,
nicht gut ertragen. Aber ich will hier
nicht spoilern, jeder bilde sich selbst ein Urteil. Was ich jedoch gelungen
fand: Man lernt beiläufig etwas über Gefahren des autofiktionalen Schreibens (wieder
ein schöner Seitenhieb).
2 Kommentare:
Dein Kommentar ist wieder sehr detailliert und aufschlußreich. Danach stellt sich einem die Frage, ob man dieses Buch lesen möchte?
VG Volker
Dankeschön 🤗 Spannend ist das Buch, flüssig geschrieben, aber man sollte sich auf diese eigentümlichen Charaktere einlassen können. Mir fiel das schwer. Und das Ende hat mich nicht überzeugt. Kurzum: Muss man nicht unbedingt gelesen haben. Mich wundert ein wenig, dass das Buch so erfolgreich ist. Manchmal verstehe ich Bestseller-Platzierungen, manchmal nicht. So ist das wohl. VG Tobias
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