Über menschliche Abgründe und Moral
Im Folgenden skizziere ich den Inhalt der einzelnen Kurz- und Kürzestgeschichten aus dem neuesten Erzählband von Ferdinand von Schirach. Dabei verzichte ich weitestgehend auf Wertungen. Jede und jeder bilde sich am besten selbst ein Urteil und interpretiere sie. Eines kann ich jedenfalls versprechen: Die Geschichten hallen nach und regen zum Nachdenken an (und in diesem Fall ist diese Einschätzung auch wirklich berechtigt!). Ich konnte nicht mehr als drei Geschichten am Stück lesen. Wie man es kennt, ist die Sprache wieder pointiert und klar, schnörkellos und präzise. Und noch etwas: Es besteht definitiv Spoilergefahr. Ggf. also nicht weiterlesen.
Der stille Freund (S. 7-13)
Wir machen Bekanntschaft mit Massimo, einem Freund des Erzählers. Dieser starb vor acht Jahren bei einem Flugzeugunglück. Zeitlebens hat er sich mit der Frage beschäftigt, was der Sinn des Lebens ist, und er hat sich mit den großen philosophischen Denkern auseinandergesetzt. Doch irgendwann sei ihm aufgegangen, dass es keine Erklärung dafür geben kann, warum der Mensch da ist und zu welchem Zweck. Auch ließen sich keine Regeln dafür festlegen, wie ein Leben glückt oder warum es nicht gelingt. Man kann nur den Moment genießen und die Schönheit der Welt bestaunen…
Spiegelstrafe (S. 14-58)
Wir lernen Cynthia kennen, die bei ihren Großeltern aufgewachsen ist. Diese haben in München gelebt und sind ein altes Fürstenpaar gewesen. Als sie noch in Schlesien lebten, gehörten sie mit zu den reichsten Familien. Doch davon ist ihnen in München nichts mehr geblieben. Das Gespräch zwischen Cynthia und dem Erzähler ähnelt einer soziologischen Analyse, das noch dazu äußerst kultiviert abläuft (es geht u.a. um Literatur und Musik). Die Protagonisten unterhalten sich über den Unterschied von „upper class“ und „high society“ und über das, was man gemeinhin Habitus nennt. Bei den Angehörigen der „high society“ handele es sich lediglich um Aufsteiger, so Cynthia. Sie unterschieden sich in ihrem Verhalten und Gewohnheiten deutlich von den Angehörigen der „upper class“.
Nach dieser Unterhaltung trifft der Erzähler Cynthia erst viele, viele Jahre später wieder. Sie berichtet ihm, was sie in den vergangenen 38 Jahren erlebt hat. So erzählt sie ihm von ihrem Partner Matteo und wie sie ihn kennen gelernt hat. Er trank und wurde ihr gegenüber handgreiflich. Auf dem 90. Geburtstag ihres Großvaters lernt sie dann Nicco kennen, den sie später standesgemäß heiratet. Er stammt ebenfalls aus einer Familie der „upper class“. Anders als Matteo verhält er sich ihr gegenüber sanftmütig. Sie fühlt sich bei ihm sicher und geborgen. Und sie berichtet ihm auch von der Gewalt, die sie bei Matteo erlebt hat. Nach Niccos Tod erfährt Cynthia, dass er Matteo für sein Verhalten ihr gegenüber bestraft hat. Die Schilderung der Strafe ist heftig, sadistisch und nichts für schwache Nerven. Nicco zeigt eine ganz andere Seite und es ist erstaunlich, wie der als sanftmütig beschriebene Ehemann zu einer solch rachegetriebenen Tat fähig ist, wie sie im Buch geschildert wird. Er hat Matteo vollständig ruiniert…
Die Sache mit dem Tod (S. 59-61)
In dieser Kürzestgeschichte wird in erster Linie am Beispiel von Zitaten verschiedener historischer Persönlichkeiten, die kurz kontextualisiert werden, thematisiert, wie diese dem Tod begegnet sind. Und zwar erstaunlich nüchtern, sachlich, unemotional und abgeklärt…
Ornament und Verbrechen (S. 62-75)
Der Erzähler trifft sich mit Ludmila zum Frühstück, die vor 25 Jahren seine Referendarin gewesen ist. Sie berichtet ihm von einem Mandat, bei dem ihre Kanzlei ein Orchester vertritt. Einem Gastdirigenten wird vorgeworfen gegenüber einer Violinistin sexuell übergriffig gewesen zu sein. Es geht nun um die Frage, wie mit diesem Vorfall umzugehen ist. Würde die Sache publik werden, wäre die Karriere des Dirigenten beendet. Gleichzeitig will die Violinistin keine Anzeige erstatten. Eine sehr verzwickte Situation…
In diesem Zusammenhang wirft Ludmila auch die Frage auf, wie mit dem Werk von pädophilen Künstlern umzugehen sei (z.B. Edgar Allen Poe, Paul Gauguin, David Bowie, Roman Polanski). Muss man diese Kunst nicht verurteilen? Verändert sich nicht der Blick auf die Kunst, wenn man von den Neigungen der Künstler weiß? Lassen sich Kunstwerk und Kunstschaffender voneinander trennen? Weiterhin wird uns das Schicksal von Adolf Loos nähergebracht, der 1928 in Wien kleine Kinder nackt gemalt hat und mit ihnen direkt und vulgär über Sex gesprochen haben soll. Loos ist angesehen und gut mit anderen Künstlern und Intellektuellen seiner Zeit vernetzt. Er selbst bestritt die Anschuldigungen. Letztlich wurde er lediglich für die Anfertigung seines Skizzenbuchs mit einer milden Strafe bedacht.
Wirklichkeit und Wahrheit (S. 76-80)
In dieser Geschichte werden die Ereignisse des 7. Oktober 2023 geschildert, als Hamas-Terroristen Israel überfallen haben. Die Schilderung der Verbrechen ist brutal, hart an der Grenze des Erträglichen und schonungslos. Es ist grausam zu lesen, was Menschen anderen Menschen antun können.
Danach wird ein Bogen zur Idee des Wahrheitsministeriums in 1984 von George Orwell geschlagen. Der Erzähler stellt die These auf, dass die sozialen Medien weitaus mächtiger sind als das bei Orwell beschriebene Ministerium. Wahrheit und Wirklichkeit würden dort verschwimmen. Verschwörungstheorien machten schnell die Runde. So glaubten 90% der Palästinenser im Gaza-Streifen und Westjordanland, dass die Hamas keine Gräueltaten in Israel verübt habe.
Fehler (S. 81-89)
Nach einer Reise wieder in Berlin angekommen, nimmt sich der Erzähler ein Taxi und trifft dabei auf Dr. Lehmann, den er noch als Psychotherapeuten von früher kennt. Seine Praxis war nicht weit entfernt von seiner Kanzlei. Dr. Lehmann hat sich dazu entschieden, seinen alten Beruf aufzugeben und Taxifahrer zu werden, weil er an seinen Fähigkeiten als Therapeut zu zweifeln begann. Es entwickelt sich ein Gespräch zwischen den beiden Protagonisten, in dem klar wird, wie es zu der Entscheidung von Dr. Lehmann kam.
Dr. Lehmann berichtet dem Erzähler von Therapiesitzungen, in dem ein Ehemann seinen Gewaltphantasien freien Lauf ließ. Er hasste seine Frau abgrundtief und äußerte eines Tages konkrete Mordgedanken. Der Therapeut verständigt daraufhin die Polizei. Danach kündigt der Mandant seinen Behandlungsvertrag und behauptet, dass er seine Phantasien niemals in die Tat habe umsetzen wollen. Seine Frau hat von diesem Zeitpunkt an Angst vor ihrem Ehemann und attackiert ihn eines Tages mit Pfefferspray. Er stürzt die Treppe hinunter und verstirbt. Dieser Vorfall führte dazu, dass Dr. Lehmann seinen Job aufgab. Er meint, dass er seinen Patienten nicht richtig habe lesen können. Und es wird deutlich, was für eine immense Verantwortung Psychotherapeuten tragen…
Rechnungen (S. 90-94)
Der Erzähler ist zu einer Hochzeit in Kapstadt eingeladen und lernt dabei den zukünftigen Bräutigam kennen. Er erzählt ihm ein Kapitel über seinen Urgroßvater Kurt Meyering. Dieser erfährt während des Zweiten Weltkriegs, dass sein Sohn an der Front gefallen ist, betrinkt sich daraufhin in einer Kneipe und beginnt öffentlich über „den Führer“ und andere NS-Verbrecher zu schimpfen. Am nächsten Morgen wird er von der Gestapo abgeholt und zum Tode verurteilt. Und als wäre das noch nicht schlimm genug, erhält seine Frau eine Rechnung über die Kosten der Hinrichtung, die sie zu begleichen habe.
Tony (S. 95-107)
Der Erzähler berichtet uns von seiner Freundin Antonia, die aus der „upper class“ stammt und ihre gesellschaftliche Herkunft als Korsett ansieht. Kurz nach der Heirat und der Geburt ihres ersten Kindes lässt sie sich scheiden und bummelt fortan durch die Welt, um ihren Horizont zu erweitern. Ihren Sohn Philipp lässt sie sitzen. Erst als er 14 Jahre alt ist, hört sie mit den Reisen auf.
Nach einem Zeitsprung von mehreren Jahren trifft der Erzähler erneut auf Philipp. Er ist nun 30 Jahre alt, hat einen anderen Nachnamen angenommen und ist verheiratet. Philipp berichtet ihm davon, dass seine Mutter umgekommen ist. Angeblich sei sie auf einer Kreuzfahrt umgebracht worden. Er überreicht dem Erzähler eine Passagierliste, auf der er Namen von potentiellen Mördern gekennzeichnet hat. Seiner Mutter wirft er ein unstetes Leben mit vielen Liebhabern vor. Viele hätten sie gehasst. Im Gespräch erfahren wir auch mehr über das problematische Verhältnis von Philipp zu seiner Mutter. Am Ende drängt sich der Verdacht auf, dass Philipp sie selbst umgebracht hat. Ein heimlicher Blick auf die Passagierliste verrät dem Erzähler, dass Philipp ebenfalls auf dem Schiff war. Doch der Sachverhalt bleibt unkommentiert im Raum stehen…
Unfälle (S. 108-113)
Ein Versicherungsmathematiker verwickelt den Erzähler in ein Gespräch über seine problematische Vater-Sohn-Beziehung. Der Vater sei ein sehr unangenehmer Mensch gewesen. Dann berichtet er ihm davon, wie sein Vater umgekommen ist. Ein einziges Mal in seinem Leben habe er etwas richtig machen und jemand anderem helfen wollen, da sei er von einem LKW erfasst und überfahren worden. Abschließend stellt er selbst die Frage, was der Sinn dieser Geschichte sei…
Gottfried von Cramm (S. 114-126)
Der Erzähler unterhält sich mit einem pensionierten Richter, der ihm offenbart, dass er sich bei seiner Urteilsfindung stets von Freiherr Gottfried von Cramm inspirieren lassen hat. Im Folgenden lernen wir knapp dessen Lebensgeschichte kennen. Er war ein erfolgreicher Tennisspieler, der unter dem Naziregime litt. Aufgrund einer homosexuellen Beziehung wurde er zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Nur durch die Intervention hochrangiger Bekannter wurde ihm seine Strafe erlassen und zur Bewährung ausgesetzt. Der alte Richter berichtet davon, wie von Cramm im Davis Cup Halbfinale 1935 einen sicheren deutschen Sieg aus der Hand gab, weil er einen eigenen Regelverstoß zugab, den der Schiedsrichter nicht registriert hatte. Fairness und Anstand waren ihm wichtiger als der Sieg, auch wenn er sich dafür als Vaterlandsverräter beschimpfen lassen musste…
Cicciata (S. 127-130)
In dieser Geschichte geht es um die Schilderung einer blutrünstigen Tradition. Zwanzig Männer mit Dolchen befinden sich in einem Raum, der dann verdunkelt wird. Sobald die Männer nichts mehr sehen, gehen sie aufeinander los. Eine schreckliche Metzelei beginnt, bei der zahlreiche Männer umkommen oder schwer verletzt werden. Ein Beispiel dafür, auf was für höllische Ideen der Mensch kommen kann…
Mozart ist tot (S. 131-155)
Der Erzähler trifft Lisa, eine ehemalige Mitrefendarin, die ihm davon berichtet, wie sie aufgewachsen ist. Sie hat ihre Mutter früh verloren und wuchs zusammen mit dem Bruder Max bei dem Pfarrer und dessen Frau auf, weil der Vater mit den Kindern überfordert war. Im Alter von vier Jahren stellt man bei Max ein absolutes Gehör fest. Er besitzt eine große musikalische Begabung und gewinnt zahlreiche Musikwettbewerbe. Eine internationale Karriere scheint ihm offenzustehen. Doch Max will einen entscheidenden Wettbewerb, der in Moskau stattfindet, nicht besuchen. Statt auf dem Cello weiterzuspielen, folgt er seinem Herzen und gründet wenig später einen Jazz-Club. Der Club wird erfolgreich und ist stets ausgebucht. Doch trotz des Erfolgs hält es Max auch dort nicht lang. Nach zwei Jahren beschließt er, den Club aufzugeben und andere Länder zu bereisen. Als er seine Schwester einige Jahre später wiedersieht, erzählt er ihr von seinen Reisen. Aufgeregt behauptet er, dass er in Rom den Teufel getroffen hat. Auch glaubt er in Mozarts Requiem eine geheime Botschaft entdeckt zu haben. Genie und Wahnsinn liegen dicht beieinander…
Egon Friedell (S. 156-158)
Hier wird uns das Schicksal des sechzigjährigen Egon Friedell nähergebracht. Nachdem die Nazis 1938 Österreich ans Deutsche Reich angegliedert haben, floh er nicht aus Wien, sondern nahm sich selbst das Leben, als zwei SA-Männer eines Tages an seiner Wohnungstür klingelten. Warum zog er den Suizid der Flucht vor, obwohl er um die Gefahr wusste?
Eine Ansicht von Delft (S. 159-172)
Der Erzähler erinnert sich an einen Urlaub im Alter von 15 Jahren, den er bei Tante Haag verbringt. Sie erzählt ihm von ihrem Ehemann Gustave. Die Ehe sei sehr intensiv und ihr Mann ein schwieriger Charakter gewesen. Er war Maler. Der Erzähler erfährt, dass Gustave Tante Haag seine Ansicht von Delft genannt hat. Im Folgenden wird dieses Bild näher beschrieben. Auch Proust hat es in seinem Werk „Die Suche nach der verlorenen Zeit“ erwähnt. Vor allem die Farbgebung wird näher analysiert und interpretiert. Zwischen dem Text von Proust und dem Bild gibt es Abweichungen. In diesem Zusammenhang wird das Wahrnehmungsphänomen der Synästhesie erläutert.
Querverweise:
Schirach, Ferdinand von: Regen
Schirach, Ferdinand von: Verbrechen
Schirach, Ferdinand von: Sie sagt, er sagt

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