Einblick in eine dehumanisierte Psyche
Eine
Lehrerin kurz vor der Pension offenbart ihr menschenverachtendes Weltbild. Sie
verhält sich gegenüber ihren Schüler:innen vollkommen distanziert, ist erstarrt
in Routinen, betrachtet die Welt pessimistisch und beurteilt die ihr
anvertrauten Lerner:innen verächtlich und abschätzig. Sie lässt keinerlei Nähe
und Beziehungsebene zu. Besonders bezeichnend: Die Vergleiche ihrer Schützlinge
mit dem Tierreich. Darum geht es in dem (Anti-)Bildungsroman „Der Hals der
Giraffe“ von Judith Schalansky.
Inge
Lohmark unterrichtet am Charles-Darwin-Gymnasium die Fächer Biologie und Sport,
praktiziert das „survival-of-the-fittest“-Prinzip direkt in ihrem Unterricht
und tritt als Befürworterin sozialer Schließungsmechanismen auf. Ihr
Unterrichtsstil zeichnet sich durch geschlossene Wissensabfragen, Frontalunterricht,
Abschreiben lassen, permanenten Leistungsdruck und zynischem Humor aus. Ihre
Erzrivalin: Eine jüngere Kollegin („die Schwanneke“), die Schülernähe zur Schau
trägt. Und ihre unmittelbare Umwelt nimmt sie in Form biologischer Schemata
wahr, d.h. sie kategorisiert und analysiert permanent. Der Blick auf die Welt
ist sachlich, kalt und distanziert. Die Einschätzung des Schulsystems ist nach
30 Jahren Berufserfahrung böse und desillusioniert. Die Beziehung zu ihrer
eigenen Tochter ist gestört und unterkühlt. Entfremdung wird deutlich. Und was
auch durchscheint: DDR-Sozialisation.
Auffällig
ist auch die Sprachgestaltung. Assoziative Gedankenreihung, kurze, knappe
pointierte Sätze, zahlreiche Ellipsen. Die Gedankenwelt von Inge Lohmark wird so
gut greifbar, doch ihr Weltbild hat mich als Leser befremdet und ratlos
zurückgelassen. Kann man so sein? Wie wird man so? War sie schon immer so? Ist
sie als Charakter nicht evtl. überzeichnet? Hat ihr Charakter nicht auch andere
Schattierungen? Das sind Fragen, über die man nachdenken kann. Und zumindest
zeigt sich im Buch auch, dass Inge überaus belesen ist. Im Lehrerzimmer
begegnet man auch anderen Lehrertypen. Im Gespräch treffen verschiedene
Weltanschauungen aufeinander. Nicht alle Kollegen zeigen einen solch
geringschätzigen Blick auf die Schutzbefohlenen.
Jetzt
könnte man als Leser:in mit Inge Lohmark hart ins Gericht gehen und ihr
vorwurfsvoll begegnen. Doch ist das angemessen? Sie erscheint mir zutiefst
dehumanisiert und unempathisch. Man könnte fast die These in den Raum stellen,
dass hier das Psychogramm einer Burn-out-Patientin literarisch gestaltet worden
ist. Gleichzeitig fehlt dafür aber die Erschöpfung, die Inge nicht zu erkennen
gibt, denn sie agiert überaus kraftvoll und rigoros. Sie ist (noch?)
durchsetzungsstark. Allerdings bin ich auch kein Psychologe, so dass es mir die
Einschätzung, ob Inge unter einem Burn-Out leidet, nicht leicht fällt. Vieles
deutet aber daraufhin. Ist Inges Zustand womöglich eine Abwehrreaktion? Will
sie sich auf diese Weise vor weiteren belastenden Interaktionen schützen?
Braucht sie Hilfe?
Fazit:
Ein Roman, der zum Nachdenken anregt. Inge Lohmark ist eine unsympathische
Figur, die ein menschenverachtendes Weltbild offenbart. Distanz zu den
Schüler:innen ist ihr wichtig. Man tendiert als Leser:in schnell dazu, sie zu
verurteilen. Doch was ich mich bei der Lektüre gefragt habe: War sie schon
immer so? Und wie ist sie so geworden? Hier bleibt vieles offen. Auch das Ende
lässt viel Raum zum Spekulieren. Ein Buch, über das man an vielen Stellen gut
ins Gespräch kommen kann. Und der Schreibstil ist passend zum Inhalt gestaltet
worden. Eine lohnenswerte Lektüre, die herausfordert. Ich gebe 5 Sterne!
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