Kenntnisreich, faszinierend und spannend
Über viele Jahre hinweg beobachtete der
Autor Bernhard Weßling, zugleich promovierter Chemiker und erfolgreicher Unternehmer, in
seiner Freizeit Kraniche und stellte sich
dabei immer wieder die Frage, wie die Vögel mit ihnen unbekannten Situationen
umgehen und wie sie sich verhalten, wenn andere Tiere oder auch Menschen ihr
Brutgeschäft oder die Nahrungsaufnahme stören. Weßling hat sich in die Verhaltensforschung
eingearbeitet und geht dabei auch der überaus interessanten Frage nach, wie
Denken eigentlich funktioniert. All seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen
legt er in seinem sehr lesenswerten Buch „Der Ruf der Kraniche. Expeditionen in
eine geheimnisvolle Welt“ zugrunde, das seit März 2023 als Taschenbuchausgabe
vorliegt. Und schon auf den ersten Seiten wird deutlich, mit welchem Respekt
der Autor die Natur betrachtet. Auch merkt man dem Autor seine
Begeisterungsfähigkeit und Leidenschaft während der Lektüre an. Seine Liebe zu
den Tieren ist offenkundig. Das macht wirklich Spaß! Der Schreibstil ist sehr
lebendig.
Kapitel 1 – Wie alles anfing
Weßling schildert hier auf anschauliche
Art und Weise, welcher Bedrohung brütende Kranichpaare ausgesetzt sind und
beschreibt seine Tätigkeit als Kranichwächter. Eine der möglichen Bedrohungen
ist z.B. der Eierdiebstahl.
Kapitel 2 – Kranichwissen kompakt: die
Mythen und die Fakten
Hier führt der Autor einige Fakten zur
Evolutionsgeschichte der Kraniche an und erläutert auch an einigen Beispielen
ihre kulturgeschichtliche Bedeutung. Ebenfalls folgen einige Bemerkungen zum
Bestand der Vögel. Zudem erfährt man einige Hintergrundinformationen zu den
Tieren (Nahrung, Größe, Gewicht, Konflikte mit der Landwirtschaft, Ernährung,
Flugleistung, Lebenserwartung). Nicht zuletzt wird auf bestehende
Forschungslücken hingewiesen. In diesem Zusammenhang merkt Weßling an, dass es
kaum Arbeiten zum Verhalten der Vögel gibt.
Kapitel 3 – Problemlösungen,
Ballett-Balz und Fuchsalarm: Wie kommunizieren Kraniche miteinander?
Anhand eines beobachteten Kranichpaares
verdeutlicht der Autor, dass er bei den Vögeln Intelligenz und Erfindungsgabe
festgestellt hat. Er erkennt darin eine Anpassungsleistung. Am Beispiel der
Balz beschreibt Weßling, dass die Tiere sich nicht einer Norm entsprechend
verhalten. Stattdessen sei festzustellen, dass jeder Tanz für sich genommen
einzigartig ist. Es fällt auf, dass der Autor bei seinen Beschreibungen sehr
detailliert vorgeht. Eine weitere interessante Frage, der sich Weßling widmet:
Können sich Kraniche verständigen? Hier verweist er auf das Phänomen des
gleichzeitigen Abflugs und äußert einige spannende Vermutungen, was
Kommunikationsstechniken angeht. So seien auch der Prozess der
Entscheidungsfindung und Abwägungsprozesse beobachtbar, z.B. wenn es darum
geht, ein Revier auszuwählen. Vor allem die Körpersprache diene als Mittel zur
Verständigung, so der Autor. Haben die Tiere etwa Kriterien, nach denen sie die
Güte eines Reviers beurteilen? Weßling meint, ja.
Kapitel 4 – Ankunft im Brook nach
Rückflug aus dem Winterquartier: Allein oder in Gruppen?
Den Autor bewegen aufgrund einer überraschenden
Beobachtung (ein großer Kranichtrupp flog einen Umweg, ein einziges Paar lässt
sich aus der weiterfliegenden Gruppe in sein Revier fallen) folgende Fragen: Kommunizieren die Kraniche ihre Reiseabsichten?
Und wenn ja, wie? Warum nehmen nicht alle Vögel die Hauptzugroute? Welche
Planungs-, Navigations- und Kommunikationsleistungen stecken hinter dem
beobachtbaren Verhalten? Auch meint der Autor, Emotionen bei den Vögeln
entdeckt zu haben, so z.B. Freude über die Rückkehr.
Kapitel 5 – Brutsaison: eine tragische
Liebesgeschichte
Auch hier beschreibt der Autor eine
beobachtete Emotion: Trauer. Dies verdeutlicht er am Beispiel eines
Kranichpaares, bei dem ein Partner verschwunden ist, möglicherweise gewildert. Er beschreibt, wie der verbliebene Partner mit wehleidigen
Klagerufen Kreisflüge unternommen habe, um nach dem Gefährten Ausschau zu
halten. Weßling schreibt den Vögeln Gefühle zu und weist selbst daraufhin, dass
seine Einschätzung womöglich als unwissenschaftlich ausgelegt werden kann. Er
ist sich darüber bewusst, dass es sich lediglich um Interpretationen handelt.
Die Leser:innen müssen für sich selbst entscheiden, ob sie dem Autor bei seiner
Argumentationslinie folgen oder nicht. Überzeugend ist seine Interpretation in
meinen Augen auf jeden Fall.
Kapitel 6 – Kampfläufer, Seeadler und
andere Brookbesucher: Was Kranichbewacher so alles erleben können
Weßling beschreibt in diesem Kapitel
seine Tätigkeit als Kranichschützer im Brook und schildert, mit welchen
Herausforderungen er sich dabei auseinanderzusetzen hatte, aber auch, welche
außergewöhnlichen Naturbeobachtungen dabei möglich sind.
Kapitel 7 – In der Schule des Lebens
Selbstkritisch hält der Autor zu Beginn
dieses Kapitels fest, dass seine Forschungen als "unwissenschaftlich" und
seine Beobachtungen als "anekdotisch" abqualifiziert werden könnten. Das
wissenschaftliche Prinzip der Wiederholbarkeit
sei nicht gewährleistet. Er plädiert aber dafür,
die Tiere bei entsprechenden Forschungen in freier Wildbahn zu beobachten, um
den Beobachtereffekt durch den Menschen auszuschließen. Unter kontrollierten Bedingungen im Labor
seien nur Verhaltensweisen beobachtbar, die in freier Natur nicht vorkommen. Und
von dem beobachtbaren Verhalten ließen sich
durchaus Hypothesen ableiten. So beschreibt Weßling, dass Kraniche ihre
Umgebung sehr aufmerksam beobachten. Auch meint er, bei ihnen ein Zeitgefühl
erkannt zu haben. Am Beispiel des Fliegenlernens verdeutlicht der Autor das
Prinzip der Imitation. Während der Lektüre habe ich mir die Frage gestellt, ob
nicht auch Videoaufnahmen dabei helfen könnten, eine größere Objektivität des
beobachtbaren Verhaltens zu erzielen. Wenn eine Situation von verschiedenen
Forschern ähnlich interpretiert würde, dann hätten die Ergebnisse womöglich
eine noch größere Aussagekraft.
Kapitel 8 – Der Sprache der Kraniche auf
der Spur: Sie rufen und erzählen so von ihrem Leben
Weßling äußert den Wunsch, die
verschiedenen Kraniche individuell erkennen und wiedererkennen zu können. Und ihn packt die geniale Idee, Kraniche anhand von Aufnahmen
ihrer Rufe individuell zu identifizieren. Mit Hilfe eines leistungsfähigen Richtmikrofons und einem
digitalen Aufnahmegerät startet er die ersten Aufnahmeversuche. Und über einen
Zeitraum von mehreren Wochen entstehen zahlreiche Aufnahmen. Und Weßling hält
fest, dass die Vögel nicht nur über ihre Körpersprache, sondern auch vokal
miteinander kommunizieren. Der Autor entdeckt eine Art
„Abflugs-Abstimmungs-Laut“ sowie „gurrende“ und „kullernde“ Kontaktlaute. Er
entwickelt ein eigenes Forschungsdesign, bei dem er auch die Rufe mit
Programmen näher analysiert. So möchte er individuellen Unterschieden auf die
Spur kommen. Und tatsächlich entdeckt der Autor einen akustischen
Fingerabdruck, der für einzelne Individuen und Paare charakteristisch ist. Er
arbeitet heraus, dass es bei der Revierbesetzung und -auswahl sowie bei der
Revier- und Partnertreue viel komplizierter und dynamischer zugeht, als
zunächst in der Forschung angenommen. Weßling betritt mit diesem
Forschungsdesign neue Pfade in der Wissenschaft. Mit seiner Forschung zeigte
er, dass es möglich ist, die Geschichte einer Kranichpopulation in einem
gewissen Gebiet über mehrere Jahre hinweg zu dokumentieren und individuelle Biographien einiger Paare festzuhalten, ohne dass die
Kraniche beringt werden müssen (also „störungsfrei“). Faszinierend! Und noch
dazu auch genial! Spannend zu lesen, wie eine Idee immer mehr Konturen annimmt
und den Weg für etwas Neues bereitet.
Kapitel 9 – Aufbruch in die weite Welt:
Asiatische und amerikanische Kranicharten rufen mich
Hier wird die in den USA entstandene Organisation
„International Crane Foundation“ (ICF) und deren
Initiativen zum Schutz der Kraniche vorgestellt. Der Autor beschreibt, wie er
auch von anderen Kranicharten Aufnahmen der Rufe anfertigt. Der Schreikranich
rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit, eine sehr bedrohte Art. Weßling wird mit
seiner Methode Teil eines größeren Projekts zur Rettung der Schreikraniche.
Dabei werden auch die Unterschiede dieser Art zu den grauen Kranichen
erläutert.
Kapitel 10 – Forschungs-Abenteuer:
Mandschurenkraniche belauschen bei minus 25 Grad und bewacht von Grenzsoldaten
Weßling nimmt auch Rufe von japanischen
Mandschurenkranichen auf. Er hat seine Methode dabei modifiziert und spielt den
Kranichen per Megaphon aufgenommene Rufe vor, um auf diese Weise eine mögliche
Reaktion in Form von Duettrufen zu provozieren. Der Autor lässt uns lebhaft
teilhaben an seinen Untersuchungen: Akzeptieren die Kraniche die Rufe von CD?
Antworten sie darauf, weil sie ihr Revier verteidigen wollen? Das liest sich äußerst spannend.
Und der Autor geht sogar noch einen Schritt weiter: In der
demilitarisierten Zone an der Grenze zu Nordkorea erforscht
er eine weitere Population von Mandschurenkranichen. Werden diese auf die Rufe
ihrer japanischen Verwandten reagieren? Ich will an dieser Stelle nicht zu viel
verraten.
Kapitel 11 – Das Abenteuer geht weiter:
bei den wilden Schreikranichen
Der Autor sucht das sehr abseits
gelegene Winterquartier von Schreikranichen in den USA auf (im Aransas National
Wildlife Refuges, Texas) und beschreibt, mit welchen Herausforderungen er bei
seinen Forschungen zu kämpfen hatte. Wird er es schaffen, Duett- und Warnrufe
aufzuzeichnen und verschiedene Revierpaare ausfindig zu machen? Es ist einfach
bewundernswert, mit welcher Akribie und mit welcher Ausdauer Weßling sein
Vorhaben verfolgt. Auch seine Demut vor der Natur ist jederzeit spürbar. Ein
wirklich sehr interessantes Kapitel!
Kapitel 12 – Wir fliegen los: der
schwere Weg zur Migrations-Flugschule
In diesem Kapitel wird ein Auswilderungsprojekt
von Schreikranichen mit Ultraleichtflugzeug näher beschrieben. Sein
wertvollstes Forschungsprojekt, wie Weßling selbst äußert. Auf sehr
interessante Art und Weise erläutert er die Vorgeschichte zum genannten Projekt
und verweist auf Probleme, Teilerfolge sowie Herausforderungen.
Kapitel 13 – Was können wir über
Intelligenz, Zugverhalten, Kulturbildung, Werkzeuggebrauch und
Selbstbewusstsein bei Kranichen lernen?
Inwieweit ist das Zugverhalten der
Kraniche genetisch bestimmt? Weßling führt einige Argumente an, die gegen eine genetische
Festlegung sprechen. Er meint vielmehr, die Entwicklung einer „Zugkultur“
beobachtet zu haben. Es zeige sich, dass viele Kraniche den Flugweg wechseln.
Spannend sind zudem die Ausführungen des Autors über ein mögliches Bewusstsein
bei den Vögeln. Erkennen Kraniche womöglich ihre eigenen Rufe?
Kapitel 14 – Können Kraniche strategisch
denken? Weitere erstaunliche Beobachtungen
Der Autor stellt weitere Thesen in den
Raum: Verfügen Kraniche womöglich über ein episodisches Gedächtnis? Gehen sie
strategisch geplant vor? Haben sie gar eine Art Moralkodex? Hier muss man sich
natürlich wieder ins Gedächtnis rufen, dass es sich um Interpretationen des
Autors handelt. Er argumentiert aber auf Grundlage seiner zahlreichen
Beobachtungen durchaus nachvollziehbar und plausibel. Dennoch bedarf es dazu
weiterer Belege und Untersuchungen (womöglich in Form von Videographie?).
Kapitel 15 – Kraniche sind Subjekte.
Plädoyer für mehr Bescheidenheit und Respekt vor der Natur.
Abschließend plädiert Weßling für mehr
Bescheidenheit und Respekt vor der Natur. Er unterbreitet dafür viele konkrete
Vorschläge.
Anhang
Hier werden noch einige
Einzelbeobachtungen zusammengefasst, die in den vorangegangenen Kapiteln keine
Berücksichtigung mehr gefunden haben. Dazu gehört z.B. die Auflistung von
beobachteten Emotionen, Erlebnisse mit einem flugunfähigen Kanada-Kranich sowie
Manöver der Täuschung und Taktik bei Mandschurenkranichen etc.
Abschließende Bemerkungen zur englischen
Ausgabe
Anders als in der deutschsprachigen
Ausgabe findet man die Fußnoten unter dem Text und nicht in Form von
Schlussbemerkungen. Auch sind den einzelnen Kapiteln passende Fotos und Karten zugeordnet. In der deutschsprachigen Ausgabe findet man
die Fotos und Karten an zwei
Stellen gesammelt vor, ohne dass eine thematische Einbettung in die Kapitel
erfolgt. Ein weiterer Vorteil der englischen Ausgabe: Es gibt darin auch
Graphiken (vgl. z.B. S.92-103) und Bilder (32
vs. 20). Und übrigens sind in beiden Ausgaben alle Karten und Bilder farbig!
Fazit:
Wer sich für Kraniche und
allgemein für Vogelkunde interessiert, der kommt in meinen Augen nicht an
diesem Buch vorbei. Aber auch denjenigen, die sich für empirische Forschung und
die damit verbundenen Herausforderungen interessieren, sei dieses Buch ans Herz
gelegt. Der Autor lässt die Leser:innen an vielen interessanten Projekten
teilhaben und gewährt spannende Einblicke. Auf sehr anschauliche, lebendige und
mitreißende Art und Weise berichtet Weßling von seiner jahrelangen
Beschäftigung mit den Vögeln. Und es ist beachtlich, mit welcher Liebe,
Akribie, Ausdauer und mit welchem Engagement er sich mit den Tieren
beschäftigt. Was das Buch in meinen Augen vor allem auszeichnet: Weßling
entwickelt eine neue Forschungsmethode, die er auch weiterentwickelt und
modifiziert. Und seine Daten liefern zahlreiche neue Erkenntnisse, die ich mit
Faszination gelesen habe. Ich habe von Kranichen nun ein ganz anderes Bild als
noch vor der Lektüre. Großartig! Ich vergebe 5 Sterne!
2 Kommentare:
Vielen Dank für diese ausführliche Rezension! Bitte gestatten Sie mir einen kleinen Kommentar:
Was Ihren Vorschlag "Videos aufnehmen" anbelangt, kann ich nur sagen: theoretisch ja, aber praktisch nahezu undurchführbar, denn ich habe wohl 1000mal mehr Zeit in Beobachtungen investiert, in der gar nichts passiert ist, als die kurzen (und dann ein Video werten) Momente, in denen das, was ich geschildert habe, geschehen ist. Das allerallermeiste geschah ja plötzlich und überraschend, vollkommen unerwartet! (und hat sich oft erst im Nachhinein als mit einer vorherigen Beobachtung, die nicht bemerkenswert erschien, im Zusammenhang stehend herausgestellt) Außerdem konnte ich nicht ständig mit einer aufnahmebereiten Videokamera herumlaufen, zumal ich ja - jedenfalls während meiner Bioakustik-Zeit - meine ganze Akustikausstattung dabei hatte. Das würde ähnlich für andere Forscher bzw Forschergruppen zutreffen: man hätte 1000mal mehr (und todlangweiliges) Videomaterial, als man auswerten und verwerten kann. Letztlich wird Videographie in freier Natur an wild lebenden Tieren auch nur angewendet, wenn man dort mit ihnen gezielt Experimente anstellt - Futter auslegt oder den Zugang erschwert, Rufe über Lautsprecher aussendet, scheinbare Bedrohungen konstruiert o. ä. Das alles widerspricht meiner Praxis, nämlich GAR NICHT einzugreifen, nur zu beobachten.
Vielen Dank für Ihre Stellungnahme zu den Hindernissen videographischer Forschung.
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