Rezension: Das Buch von Sabine Hossenfelder „Mehr als nur
Atome – Was die Physik über die Welt und das Leben verrät“
Die Autorin geht in ihrem Buch z. T. von Prämissen aus, die zumindest
fraglich, wenn nicht sogar falsch sind.
Beispiel 1: Sie erläutert am Beispiel der Herstellung
eines Kuchenteigs (S. 86 ff), dass die unvermischten Bestandteile einen Zustand
niedrigerer Entropie darstellten, der Teig selbst nach der Fertigstellung einen
Zustand deutlich höherer Entropie habe. Denn alle Bestandteile[1]
seien weitgehend statistisch homogen verteilt, deshalb hohe Entropie. Das ist
aber falsch, denn Dispersionen sind hoch strukturiert und weisen eine
niedrigere Entropie auf als die einfache Summe der Bestandteile.[2]
Hier widerspricht sie ihrem eigenen Anspruch, wonach Theorien unsere
Beobachtungen erklären können müssen; die von ihr dargestellte Theorie erklärt
aber die bekannten Beobachtungen an Dispersionen nicht (auch ein „Kuchenteig“
ist eine Dispersion).[3]
Beispiel 2: In vielerlei Hinsicht werden die
Eigenschaften der Quanten (der Elementarteilchen mit ihrer „Unschärfe“) als
Grundlage von allem angesehen, was wir auf der makroskopischen Ebene
beobachten. So heißt es auf S. 122 (und wird danach weiter ausgeführt), dass
die tiefste Ebene der Organisation der Materie „bestimmt“,
was auf den höheren Ebenen geschieht. Auf der tiefsten Ebene finde man die
fundamentalen Gesetze der Physik, und aus denen leiteten sich alle weiteren
Gesetze auf höheren Ebenen ab. Dabei missachtet sie, dass die sog.
„umweltbedingte Quanten-Dekohärenz“ genau die Unschärfe und alle weiteren
Eigenschaften der Quanten verschwinden lässt: Schon Atome verhalten sich nicht
mehr wie Quanten, Moleküle und dann Zellen erst recht. (Die Dekohärenz wurde
theoretisch von H. D. Zeh dargelegt und experimentell von Serge Haroche
nachgewiesen, wofür der letztere den Nobelpreis erhielt.) Generell entstehen
auf höheren Ebenen der Organisation der Materie, beginnend mit den Atomen,
aufgrund der Wechselwirkung der verschiedenen Bestandteile eines dynamischen
Systems jeweils neue Phänomene und Gesetzmäßigkeiten, das nennt man „Emergenz“
(oder auch: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“)
Die verstorbene Großmutter ist auch nicht mehr, wie im Buch
behauptet wird, letztlich doch noch in Form von „ewiger Information“ irgendwo
und irgendwie im Universum enthalten, und theoretisch sei jede Information
jederzeit nachvollziehbar. Nein, „Information“ bleibt nicht ewig erhalten: Der Anstieg
der Entropie im Maßstab des Universums vernichtet Information, vermutlich in
Schwarzen Löchern. Daneben ist es nämlich wichtig zu verstehen: Entropie sinkt
lokal im Zusammenhang mit dem Aufbau komplexer Strukturen (sog. „dissipativer
Strukturen“), sei es in Dispersionen, oder beim Wachstum der Pflanzen und
Tiere, beim Beginn des Lebens und der Evolution, der Entwicklung der
Komplexität von Gesellschaften, bei der Entstehung und weiteren Entwicklung von
Galaxien. Außerhalb dieser jeweiligen offenen Systeme, im Gesamtmaßstab des
Universums, steigt die Entropie an.
Beispiel 3: In Kapitel 7 wird behauptet, es gebe
bisher keine Theorie, die die Komplexität in unserer Welt erklären könne. Also
die komplexen Strukturen, die wir überall finden, in Pflanzen, Ökosystemen, in
menschlichen und auch den tierischen Gesellschaften, der Wirtschaft und sogar
auch der Galaxien im Universum. Das stimmt ganz einfach nicht, denn es gibt
schon lange die sog. „Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik“, für deren
Entwicklung Ilya Prigogine 1977 den Nobelpreis erhielt (die ich hier in der
Kürze natürlich nicht darlegen kann).[4]
Aus allein schon diesen 3 Beispielen ergibt sich, dass die
Welt nicht, wie Frau Dr. Hossenfelder glaubt und den Lesern darzulegen
versucht, „deterministisch“ (oder gar „superdeterministisch“) ist: Die
Entwicklung der Komplexität der Welt ist nicht vorausschauend berechenbar, aus
der Vergangenheit ergibt sich nicht eindeutig bestimmt die Zukunft. Wenn man
rückwärts betrachtet erklären, verstehen, beschreiben oder sogar berechnen
kann, warum und wie etwas passiert ist, heißt das noch lange nicht, dass man es
auch vorwärts (wenn man noch nicht weiß, was geschehen wird) gesehen hätte
berechnen können; denn rückwärts sieht (und berücksichtigt) man die anderen zum
Zeitpunkt der Ereignisse vorliegenden alternativen Entwicklungsmöglichkeiten
nicht, die gibt es nicht mehr, vorwärts aber sehr wohl!
Die Theorien, die die Autorin lediglich andeutet (jedenfalls
nicht hinreichend erklärt), macht keine überprüfbaren Voraussagen, sie hilft
uns nicht, die Welt besser zu verstehen, und wir können keine Experimente
entwerfen, mit denen wir sie verifizieren oder falsifizieren können (hier
benutze ich Formulierungen, wie sie die Autorin selbst häufig verwendet). Und
wir brauchen sie nicht, um das, was wir beobachten, zu erklären – weil
die Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik die Dynamik und Komplexität der Welt
hinreichend gut erklärt und tragfähige Anleitungen liefert, die Theorie zu
verifizieren und detaillierter auszugestalten. Alles, was in der Zukunft
geschieht, hat zwar seine Ursachen in der Vergangenheit, aber die Komplexität
von Ursachen erlaubt ständig mehrere unterschiedliche Wege in der Zukunft, das
wissen wir aus unseren eigenen Entscheidungen – und im Universum ist es auch in
der unbelebten Materie nicht anders. Und manche weiteren, nach Ansicht der
Autorin direkt aus „fundamentalen“ physikalischen Gesetzen ableitbaren
Schlussfolgerungen über die gesamte Welt und unser Leben darin sind alles
andere als direkt ableitbar, im Gegenteil: sogar sehr zweifelhaft.
[1]u. a. die Zuckermoleküle und die Mehl-“Moleküle“ (wie
die Autorin schreibt), die es aber so gar nicht im Teig gibt, weil Mehl im Teig
nicht molekular gelöst, sondern in Form von Teilchen dispergiert vorliegt, im
Gegensatz zum Zucker, der molekular gelöst vorliegt
[2]Vgl.https://www.researchgate.net/publication/202290104_Critical_Shear_Rate_the_Instability_Reason_for_the_Creation_of_Dissipative_Structures_in_Polymers
[3]Lösungen
und Dispersionen sind absolut gegensätzliche Systeme, die ersteren befinden
sich im thermodynamischen Gleichgewicht, die letzteren sind nicht-Gleichgewichts-Systeme.
[4]Ilya
Prigogine, Nobelpreis 1977, https://www.nobelprize.org/prizes/chemistry/1977/press-release/,
vgl. eine populärwissenschaftliche Einführung in B. Weßling, „Was für ein
Zufall! Über Unvorhersehbarkeit, Komplexität und das Wesen der Zeit“,
SpringerNature 2022, https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-658-37755-7
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