Im Oktober
erschien im Ullstein-Verlag das Buch „Die Faltung der Welt“ von Prof. Anders
Levermann, Leiter der Komplexitätsforschung am Potsdam-Institut für
Klimafolgenforschung. Bisher wurde das Buch recht breit und vor allem
unkritisch besprochen, z.B. hier:
Hier folgt nun eine kritische Diskussion von Dr. Bernhard Weßling als Gastbeitrag auf meinem Blog. Für weitere Informationen zum Autor vgl. www.bernhard-wessling.com
Gastbeitrag von Dr. Bernhard Weßling (Rezension)
Das Buch des Potsdamer Klimaforschers und Leiters der Komplexitätsforschung, Prof. Levermann, enthält viele interessante und diskussionswerte Vorschläge dazu, „wie die Wissenschaft helfen kann, dem Wachstumsdilemma und der Klimakrise zu entkommen“ (Untertitel des Buches). Der Kerngedanke ist der Theorie dynamischer Systeme entlehnt und beruht auf einem mathematischen Operator, dessen „anschauliche“ Beschreibung für Nicht-Mathematiker schon vollkommen unanschaulich ist. Aber qualitativ betrachtet ist es gut verständlich: Auch Vögel sind vollkommen frei, obwohl sie nicht die Lufthülle der Erde verlassen können, und die allermeisten Vögel können nicht tauchen. Sie sind also Begrenzungen unterworfen, dennoch haben sie unendliche Möglichkeiten der Bewegung und Entwicklung.
Levermann schlägt 5 Grenzen vor (wobei 2 Grenzen m. E. fehlen: „Wildnisvernichtung stoppen“ und „Stickstoff/Phosphordüngung auf Null setzen“):
1. Keinen fossilen Kohlenstoff mehr verbrennen
2. Kein weiterer Rohstoffabbau mehr
3. Begrenzung der Unternehmensgröße
4. Begrenzung des Erbes
5. Begrenzung des Einkommensunterschieds.
Die Grenzen 3 - 5
sind wirtschaftliche Grenzen, die politisch nicht einfach durchsetzbar, aber so
wie sie beschrieben werden, sehr interessant sind und realistisch machbar. Z.
B.: Der Autor schlägt vor, mit steigenden Umsätzen höhere Steuersätze für
Gewinne zu verlangen, bis es aus steuerlichen Gründen sinnvoll ist, das
Unternehmen aufzuspalten. Somit ist auch der Drang, andere Unternehmen
aufzukaufen, deutlich reduziert. Das eine Unternehmen könnte Zulieferer des
anderen sein, sie könnten auch Konkurrenten sein, beides ist für die
Entwicklung der Wirtschaft positiv.
Grenze 1 erscheint
auch realistisch zu sein, wobei die Wasserkraft als problematisch angesehen
werden muss (Flussökosysteme werden zerstört, Fischwanderung verhindert;
fehlender Nachschub für Flussmündungsdeltas, die vom Meer nach und nach
abgebaut werden, wertvolle Ökosysteme gehen verloren).
Grenze 2 erscheint mir gänzlich unrealistisch zu sein. Natürlich weiß ich selbst nicht, wie wir mit der natürlichen Begrenzung der Rohstoffe auf der Erde umgehen können. Aber vor allem die konkreten Vorschläge des Autors zu dieser Grenzsetzung sind komplett unrealistisch: Vollautomatisch arbeitende Recyclingfabriken sollen dann, wenn die Strommenge aus regenerativer Energiewandlung den Bedarf in privaten Haushalten, Infrastruktur, Verkehr und Industrie übersteigt, arbeiten, alles aufarbeiten und alle Rohstoffe zurückgewinnen. Levermann propagiert „100%iges Recycling“, ohne Einschränkung.
Diesem schön klingenden Traum steht die Entropie [1] entgegen: Sämtliche Produkte, die wir nutzen, bestehen aus mehreren Rohstoffen. Das heißt, von einem ursprünglich niedrigen Entropielevel ausgehend (als die Rohstoffe einigermaßen konzentriert in der Erde lagerten und mit Entropieerzeugung abgebaut wurden) sind verschiedene Stoffe in Fabriken zusammengeführt, mit Energieaufwand verarbeitet und dadurch in eine nützliche Struktur (= niedrige Entropie) gebracht worden. Vom Abbau bis zum Produktversand entstanden Abfälle: Entropiemaximumsanzeiger. Und dann wurden die Produkte weltweit verteilt. Beim Gebrauch unterliegen sie ganz normalen Abnutzungserscheinungen – Entropieanstieg!
- Es gibt Abrieb: wo landet der, wie sammelt man ihn auf, Abrieb, der überall verteilt rumliegt?
- Schmieröl wird verbraucht, wo landet das, wie gewinnt man es zurück?
- Metalle korrodieren (wie will man den Rost auffangen und wieder zurückverwandeln zum Metall?), zumal nach Levermann mehr Metalle verwendet werden sollen, weil „Plastik komplett ersetzt“ werden soll; Korrosion verursacht enormen Rohstoffbedarf! [2]
- Infolgedessen und wegen Verschleiß versagen die Produkte mechanisch oder elektrisch.
- Kleidung wird löchrig, zerreißt.
- Wir waschen Kleidung, wie ohne Waschmittel, die wir nicht wieder aus dem Wasser herausbekommen würden? Wie ohne Bewegung in der Waschmaschine, die die Kleidung ebenfalls abnutzt?
- Wir waschen uns selbst nur noch ohne Seife, putzen uns die Zähne ohne Zahnpasta? (denn wie wollen wir die Paste in die Recyclingfabrik bringen?) Die Zahnbürsten haben ebenfalls Abrieb, ganz abgesehen von der Bakterienkolonie, die sich darauf bildet.
100%iges Recycling
erfordert nahezu unendlich viel Energie. Hinzu kommt: Schon allein der Aufbau
einer Energieversorgung, deren Überschuss 100%iges Recycling betreiben soll,
scheitert an Verfügbarkeit von Rohstoffen und Flächen dafür und würde zu einer
vollständigen Zerstörung der Biodiversität führen – ein sichtbares Zeichen von
Entropieverschmutzung der Erde.
Prof. Levermann
ficht das nicht an: „Die Menge an Sonnenenergie ist unendlich.“ Nun, das ist
einfach falsch, sogar auf der Sonne nicht, aber erst recht, wenn man sich die
Erde anschaut. Es ist eine Menge da, aber die wird auch für die Biosphäre und
für Wind und Wetter und Wasserkreislauf benötigt. Dann: „Wind- und Sonnenergie
… umgehen … das Problem des endlichen Wirkungsgrads.“ Wie bitte? Ab wann
erzeugen diese Anlagen mehr Energie, als in ihre Herstellung hineingesteckt
wurde? Wie lange hält eine Windkraftanlage? Wie lange liefert eine Solarzelle
Strom?
Dies sind nur einige meiner Kritikpunkte [3]. Levermann hat Entropie nicht verstanden. Er ist theoretischer Physiker, die Faltung ist ein schönes, aber rein mathematisches Gebilde. Es sei deshalb abschließend folgendes angemerkt:
„Nature is under no obligation to conform to our mathematical ideas – even the most brilliant ones“ (Avi Loeb in Scientific American, 9. Juni 2020; der Autor ist Astronomieprofessor in Harvard und war u. a. Gründungsdirektor der Harvard’s Black Hole Initiative).
[1] einfach verständliche Einführung in Nicht-Gleichgewichts-Thermodynamik und Entropie: B. Weßling „Was für ein Zufall! Über Unvorhersehbarkeit, Komplexität und das Wesen der Zeit“ (vgl. www.bernhard-wessling.com)
[2] Industrieländer wenden jährlich 4% ihres Bruttosozialprodukts wegen Korrosion auf, entsprechend gigantisch ist der Rohstoffbedarf dafür, gleichrangig mit Verschleiß, vgl. https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-658-19892-3_12, beides direkte Entropieanzeiger
Dr. Bernhard Weßling, Jersbek
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